Die weitere Suche bleibt erfolglos, und bis ich meinen Trupp, mit Jade Finburys Habseligkeiten in einem Asservatenbeutel, um die Landspitze herumgeführt habe, ist es dunkel geworden. Eddies Team wartet am Bar Point. Ich erkenne schon an der Miene des Sergeant, dass sie erfolglos waren, und Anrufe bei Isla und Lawrie liefern dasselbe enttäuschende Ergebnis. Ich schicke alle nach Hause, nachdem ich ihnen für ihre harte Arbeit gedankt habe, und achte darauf, dass die Frauen nicht allein gehen.
Eddie sieht bestürzt aus, als ich ihm die Gegenstände zeige, die wir am Strand entdeckt haben. »Glauben Sie, sie ist ertrunken, Boss?«
»Das würde nicht der Vorgehensweise des Täters entsprechen, aber vielleicht will er uns reinlegen. Beim ersten Mord hat er sehr viel mehr Sorgfalt walten lassen. Entweder hat er eine Überraschung für uns auf Lager, oder Jade hat ihn dazu überredet, sie am Leben zu lassen.«
Wir gehen nach Hugh Town zurück. Wenn Jade mehr Zeit für sich herausgeschlagen hat, finden wir sie vielleicht noch lebend. Es überrascht mich, dass der Mörder nachlässig wird und es riskiert, die Tasche der Pilotin bei Ebbe ins Meer zu werfen, wo doch klar ist, dass die Flut sie mir dann in die Hände spült.
Bis wir in der Stadt sind, ist es halb zehn, und wir müssen noch einen weiteren Besuch absolvieren. Weil Eddie erschöpft aussieht, schicke ich ihn zurück ins Hotel und schaue allein bei Harry Jago vorbei. Der junge Mann wird jetzt nüchtern sein, und ich brauche die Informationen, die er zurückhält, mehr denn je. Auf mein Klopfen hin öffnet mir seine Schwester die Tür. Lily strahlt eine seltsame Mischung aus Selbstvertrauen und Ängstlichkeit aus. Sie hält den Kopf hoch erhoben, als sie mich schließlich hereinlässt. Auf dem Tisch liegen zwei leere Pizzakartons, aber von Harry ist keine Spur zu sehen.
»Ich muss mit Ihrem Bruder sprechen, Lily.«
»Er schläft.«
»Dann wecken Sie ihn bitte für mich.«
»Harry ist zu schwach, um heute Abend noch irgendwelche Fragen zu beantworten. Ich habe mir morgen freigenommen, um für ihn da sein zu können.« Sie gibt nicht nach; mit dem scheuen Wesen, das mir im Hotel begegnet ist, hat diese junge Frau nicht mehr viel gemein. »Er hat nichts Unrechtes getan. Sie können ihn nicht einfach deswegen bedrängen, weil er vorbestraft ist.«
»Ich habe ihn von der Straße aufgelesen. Unter einer Belästigung stelle ich mir was anderes vor.«
Es ist offensichtlich, dass sie Angst hat, aber sie würde durchs Feuer gehen, um ihren Bruder zu verteidigen. Es ist wirklich ein Jammer, dass die beiden keine älteren Verwandten auf St. Mary’s haben. Ich erinnere mich, wie wütend ich war, als mein Vater starb. Wenn meine Familie nicht auf mich aufgepasst hätte, hätte ich damals leicht vom Weg abkommen können.
»Hat er erzählt, wer ihn zusammengeschlagen hat, Lily?«
»Er ist auf dem Heimweg vom Pub hingefallen.«
»Vom Asphalt hat er das Veilchen sicher nicht.«
Sie wendet den Blick ab und sagt nichts mehr. Ich weiß nicht, ob sie befürchtet, dass ihr Bruder verhaftet wird, oder ob sie selbst etwas vor mir verbirgt.
»Erzählen Sie mir von Harry und Sabine. Waren die beiden ein Paar?«
»Er hat mit ihr eine Bootsfahrt gemacht, mehr nicht. Harry flirtet mit vielen Mädchen; das hat nichts weiter zu bedeuten.« Lily erhebt sich, als hätte sie vor, mich aus dem Haus zu jagen, doch ihre Schultern zittern, und ich bekomme Mitleid mit ihr. Sie sollte ihr eigenes Leben leben und nicht all ihre Energie darauf verwenden, sich für ihren Bruder einzusetzen.
»Ich find’s toll, wie Sie Harry verteidigen, aber er muss morgen in aller Früh aufs Revier kommen. Wenn er mir die Wahrheit gesagt hat, hat er nichts zu befürchten.«
Lily nickt widerwillig, dann folgt sie mir durch den Flur; sie kann es offensichtlich kaum erwarten, mich loszuwerden. Auch wenn Harry die Angewohnheit hat, in betrunkenem Zustand Schlägereien anzuzetteln, bin ich nach wie vor nicht davon überzeugt, dass er jemanden böswillig verletzen würde. Aber da er sich mit Sabine getroffen hat, könnte er wichtige Informationen für uns haben. Ich werde morgen die richtigen Fragen stellen müssen, um seine Abwehrhaltung zu durchbrechen.
Als ich wieder im Hotel bin, schwirrt mir noch immer der Kopf, und ich gehe ein bisschen spazieren, um meine Gedanken zu sortieren. Im Garten fluten die Blüten die Dunkelheit mit ihrem Duft. Ich setze mich auf eine Bank, um die Nachrichten auf meinem Handy zu checken. Das Krankenhaus lässt mich wissen, dass Hannah Webers Zustand unverändert ist. Die Insel scheint in einer Endlosschleife festzuhängen und immer wieder dasselbe zu durchlaufen, ohne dass es irgendeinen Fortschritt gibt. Ich zwinge mich, mich zu entspannen, und atme tief den Rosenduft ein, doch ein vertrautes Geräusch lässt mich hochschrecken. Shadows Bellen ist unverwechselbar. Mein Hund kommt so ungestüm den Weg heruntergerannt, dass der Schotter in alle Richtungen fliegt, und springt mir dann auf den Schoß.
»Sei nicht so gönnerhaft; ich weiß, dass du sie lieber magst als mich.«
Während der Hund verzweifelte Versuche unternimmt, mein Gesicht abzulecken, taucht Nina vor mir auf. »Er ist losgerannt, bevor ich ihn festhalten konnte.«
»Typisch Shadow eben. Er hat seinen eigenen Willen.«
Als sie sich neben mich auf die Bank setzt, möchte sich eine Hälfte von mir in Sicherheit bringen, während die andere sich wünscht, dass der Hund uns allein lassen würde. Nina hat sich die Haare hochgesteckt, und ich sehe den sanften Schwung ihres Kieferknochens. Der Wunsch, sie zu berühren, wird immer drängender.
»Ich sollte mich ins Bett verabschieden. Ich muss morgen wieder früh raus.«
»Bleib, nur eine Minute, Ben. Habt ihr heute irgendeine Spur von der Vermissten gefunden?«
»Wir haben ein paar Sachen von ihr vom Strand aufgesammelt.«
»Das ist gut, oder? Vielleicht führt euch das irgendwo hin.« Sie fährt mit der Hand über Shadows Rücken und streicht sein Fell glatt. »Alle hier sind sehr bestürzt über die Vorkommnisse. Eine Frau hat sich auf dem Weg zurück in die Stadt fast die Augen ausgeweint.«
»Wer denn?«
»Sie hat gesagt, ihre Name wäre Elaine Rawle. Ich hab mich eine Weile mit ihr unterhalten. Die ganze Geschichte weckt in ihr ungute Erinnerungen an den Tod ihrer Tochter. Sie hatte gehört, dass ich eine Ausbildung zur Therapeutin mache, und möchte vor meiner Abreise noch mal mit mir sprechen.«
»Was hast du gesagt?«
»Dass ich mich dafür noch nicht qualifiziert genug fühle, morgen früh aber gern einen Kaffee mit ihr trinke. Mir macht es nichts aus, anderen zuzuhören, wenn etwas sie belastet. Für mich klingt es, als hätte sie ihre Trauer nie bewältigen können.«
»Die Ereignisse gehen allen an die Nieren.« Ich wende mich ihr zu und zwinge mich, ihr in die Augen zu sehen. »Warum bist du zurückgekommen, Nina?«
»Ich hatte ganz vergessen, dass du Smalltalk hasst«, sagt sie lächelnd. »Warum unterhalten wir uns nicht an einem anderen Tag? Du siehst müde aus.«
»Jetzt passt es mir ganz gut.«
»Möchtest du eine ehrliche Antwort?«
»Ist mir lieber, als eine Lüge zu hören.«
Sie schaut auf ihre Hände. »Als ich das letzte Mal hierherkam, war ich am Boden zerstört. Simon war wenige Monate zuvor gestorben, und ich hatte das damals noch nicht ansatzweise akzeptiert. Die Landschaft hat mir geholfen, und auch das Alleinsein, aber als ich dich kennenlernte, geriet alles durcheinander.«
»Warum?«
»Ich hatte das Gefühl, untreu zu sein, und das schlechte Gewissen hat mir zugesetzt. Besser kann ich es nicht beschreiben.« Sie wirkt erleichtert, als sie mich wieder anschaut, so als hätte sie eine Last von ihren Schultern auf meine abgegeben. »Liest du noch immer diese amerikanischen Wälzer? Ich weiß noch, dass du lauter Steinbecks und Hemingways im Regal stehen hattest.«
»Inzwischen sind eine Menge neue Bücher dazugekommen, und ich wette, sie sind angenehmer zu lesen als deine Fachliteratur. Wie kommt’s, dass du von Chiropraktikerin auf Therapeutin umsatteln willst?«
Sie zuckt mit den Schultern. »Der Geist ist interessanter als der Körper. Seelische Probleme können einem das Leben vergällen, findest du nicht?«
»Ja, so heißt es.« Ihre Worte erinnern mich an Jeff Pendelows Kommentar über die Auswirkungen von Stress, und ich kann mir Nina sehr gut als Therapeutin vorstellen – ruhig, gelassen und verständig, während die Patienten über ihre Ängste sprechen.
»Ich möchte nicht, dass es böses Blut zwischen uns gibt, Ben. Dafür mag ich dich zu sehr.«
»Lass uns noch was trinken gehen, bevor du abreist. Sofern ich den Fall rechtzeitig abschließen kann.«
»Ja, gern.«
Als sie aufsteht, umkreist Shadow uns; er ist immer noch unsicher, zu wem er gehören will.
»Behalte ihn heute Nacht bei dir«, sage ich. »Er schnarcht zwar wie ein Bär, aber er ist ein guter Wachhund. In welchem Zimmer bist du untergebracht?«
Sie zeigt auf ein Fenster im Erdgeschoss, hinter dessen Vorhängen ein schwacher Lichtschein schimmert. Ihr Zimmer liegt direkt unter meinem. Ich würde zu gern mit ihr reingehen, auch wenn das Timing schlecht ist. Sie ist nur deshalb zurückgekommen, um mit der Sache abzuschließen.
Nina verschwindet im Gebäude, aber es dauert noch eine Weile, bis ich ihrem Beispiel folge. Als ich in mein Zimmer komme, dringt schrille, hektische Geigenmusik durch die Dielen nach oben. Ich lege mich vollständig bekleidet aufs Bett und richte meinen Blick auf einen schmalen Streifen Mondlicht an der Decke. Die einzige Frau, die zu vergessen mir je Mühe bereitet hat, ist mir heute Nacht näher, als mir lieb ist. Das ist jedoch nicht meine größte Sorge. Ich werde Mühe haben, mir zu verzeihen, wenn Jade Finbury nicht lebend nach Hause kommt.