Lily gibt ihr Bestes, um Harry zu beruhigen. Es ist jetzt eine Stunde her, dass Kitto wieder gegangen ist, aber ihr Bruder läuft noch immer in seinem Zimmer auf und ab und weigert sich, sich wieder hinzulegen.
»Die sind hinter mir her, Lily. Ich hab doch gehört, was Kitto gesagt hat. Ich sollte aufs Festland gehen und da noch mal von vorn anfangen.«
»Aber du hast doch gar nichts getan.«
»Bei meiner Vorgeschichte glaubt er mir kein Wort, und er weiß, dass Dad im Knast ist. Ich schnappe mir heute Nacht das Boot und mache mich vom Acker.«
»Du kannst doch nicht vierzig Kilometer mit einem kleinen Schnellboot durch die raue See fahren.«
»Eine bessere Chance hab ich aber nicht.«
Sie berührt ihn am Arm. »Warum hast du solche Angst?«
»Ich hatte Sabine nicht verdient.« Er sieht beschämt aus. »Ich war zu betrunken, um sie zu beschützen.«
»Hör auf, dich zu bestrafen.« Sie seufzt frustriert. »Sag mir, wer dich geschlagen hat.«
»Ich weiß es nicht. Er hatte eine Haube auf dem Kopf und hat auf mich eingetreten, bis ich bewusstlos war. Ich dachte, das überlebe ich nicht. Und als ich wieder zu mir kam, war er weg.«
»Du gehst heute Nacht nirgendwohin. Du musst dich ausruhen.«
Irgendwann lenkt Harry ein und legt sich wieder ins Bett. Lily ist vor lauter Sorge so erschöpft, dass sie in einen traumlosen Schlaf sinkt, sobald ihr Kopf das Kissen berührt, aber die Stille weckt sie mitten in der Nacht. Normalerweise kann sie durch die Wand wahrnehmen, wie ihr Bruder sich im Schlaf herumwälzt, doch jetzt ist nichts als das ferne Rauschen der Wellen zu hören, die sich vom Strand zurückziehen. Als sie aufsteht und nachschaut, ist Harrys Bett leer. Sie schlüpft instinktiv in Jeans und T-Shirt, bevor sie nach unten geht. Ihr Bruder hat das Haus verlassen, sein blauer Hoodie hängt nicht mehr an der Garderobe.
Sie tritt hinaus und schaut die leere Straße entlang. Die Häuser gegenüber liegen im Dunkeln. Vielleicht hat er sich auf die Suche nach Saufkumpanen gemacht. Erst, als sie wieder hineingeht, bemerkt sie auf dem Tisch im Flur einen braunen Briefumschlag, auf dem Harrys Name steht. Er ist bereits offen, und ihr fällt ein neues Polaroidfoto in die Hand; eine panisch dreinblickende Frau starrt zu ihr hoch. Warum hat jemand Harry ein Foto geschickt, das wie das von Sabine vor ihrem Tod aussieht? Vielleicht ist er dem Mörder in die Quere gekommen und wird nun selbst bedroht.
Lily schlägt sich eine Hand vor den Mund, um nicht laut zu schreien. Auf die Rückseite des Fotos sind ein paar Worte gekritzelt, aber sie hat jetzt keinen Kopf für so was. Sie steckt das Foto zurück in den Umschlag, zieht ihre Turnschuhe an und eilt nach draußen. Als weiter unten auf der Straße ein Motor gestartet wird, lässt sie den Umschlag in einen Mülleimer fallen. Das Einzige, was jetzt noch zählt, ist, dass sie ihren Bruder findet, bevor es zu spät ist. Er muss sich doch noch auf den Weg zu dem Boot gemacht haben und riskiert sogar eine gefährliche Überfahrt, nur, um zu entkommen. Sie verfällt in einen langsamen Trab und läuft zum Stadtrand von Hugh Town; dort endet die Straßenbeleuchtung. Lily wünschte, sie hätte eine Taschenlampe eingesteckt, aber wenigstens der Mondschein wird ihr bei ihrer Suche helfen.
Als sie am Porthloo Beach ankommt, ist sie völlig aus der Puste. Erleichtert sieht sie das Schnellboot am Ufer liegen, es wurde auf den Strand gezogen; auf der Meeresoberfläche tanzt glitzernd das Sternenlicht. Bis zum Einsetzen der Flut kann Harry nirgends hinfahren. Die Wellen rollen leise am Ufer aus, und das Meer flüstert ihr etwas zu, sanft wie ein Schlaflied. Sie hätte nicht gleich in Panik geraten sollen. Wahrscheinlich ist er bei einem seiner Freunde und reißt betrunken Witze über seine übervorsichtige kleine Schwester. Sie hat sich gerade entspannt, als jemand von hinten eine Hand auf ihre Schulter legt. Die Berührung ist so sanft und vertraut, dass ihr Schreck schnell verfliegt.
»Du hast mir ganz schön Angst eingejagt, Harry.«
Aber als sie sich umdreht, steht eine Gestalt in dunklen Kleidern vor ihr, deren Gesicht im Dunkeln nicht zu erkennen ist. Sie will wegrennen, kassiert jedoch Schläge in die Rippen und auf ihren Rücken. Lily ist nur noch halb bei Bewusstsein, als sie über den Sand weggeschleift wird. Sie sieht noch einen letzten Schimmer Mondlicht, bevor sie mit dem Kopf voran in einen Kofferraum gelegt wird. Sie ist zu schwach zum Schreien, als der Deckel zuschlägt.