Donnerstag, 8. August
Um sieben Uhr rappelt etwas neben mir, und ich brauche einen Moment, bis ich kapiere, dass mein Handy auf dem Nachttisch vibriert. Steve Keast spricht mir hastig ins Ohr, ich soll zu dem Süßwasserteich im Marschland von Porth Hellick kommen. Er legt auf, bevor ich nach dem Grund fragen kann, aber die Panik in seiner Stimme lässt mich aus dem Bett springen. Im Hotel ist es still, da die meisten Gäste inzwischen aufs Festland zurückgekehrt sind. Also sieht auch niemand das Spektakel mit an, wie ein großer, kräftiger Mann über das Grundstück rennt und dabei versucht, so schnell wie Usain Bolt zu sein. Auch Hugh Town wirkt verlassen, nur einige Hummerfischer laden am Kai gerade ihren Fang aus. Meine Gedanken wirbeln noch immer wild durcheinander, als ich mich in den Polizeitransporter setze und losfahre; die Landschaft mit den Ulmen und den spät blühenden Sommerblumen fliegt nur so an mir vorbei.
Ich parke auf der Carn Friars Lane und trabe dann den Pfad Richtung Holy Vale entlang. Hierhin kommen häufig Kinder der Five Islands School, die etwas über Vögel und Schmetterlinge lernen wollen, doch ich habe heute keine Zeit, die Natur zu bewundern. Der Tümpel liegt jetzt vor mir und glitzert im Sonnenlicht. Steve steht am gegenüberliegenden Ufer und winkt mir zu; er trägt Laufkleidung, sein Gesicht wirkt hager. Von dem üblichen Lächeln meines Freundes ist nichts zu sehen. Er wischt sich mit fahrigen Bewegungen den Schweiß von der Stirn.
»Was ist los, Steve?«
»Komm mit und sieh es dir selbst an.«
Er führt mich tiefer in den Wald hinein. Die Gegend um den Teich wird gern für Picknicks genutzt, aber heute kommt mir die Atmosphäre hier düsterer vor als sonst, auch wenn die Morgensonne durchs Blätterdach fällt und ein flirrendes Muster auf den Boden zeichnet. An einer Lichtung bleibt Steve stehen. Er sieht so bleich und geschockt aus, als würde er jeden Moment umkippen.
»Ruh dich einen Moment aus«, sage ich zu ihm. »Ich übernehme jetzt.«
Auf den ersten Blick wirkt alles ganz friedlich; ich sehe nur ein kreisrundes Stück Waldboden, um das junge Bäume herumstehen. Doch dann entdecke ich etwas Helles, das halb von Zweigen verdeckt wird. Ich trete näher und erkenne die Gestalt deutlicher. An einem hohen Ast baumelt eine zweite Braut, deren nackte Füße auf meiner Augenhöhe sind. Beim Anblick ihres schiefen Halses steigt Übelkeit in mir auf. Ich habe etwas Zentrales übersehen, und ein weiteres Opfer hat dafür mit dem Leben bezahlt. Auch wenn ihr Gesicht von einem Schleier verdeckt wird, weiß ich gleich, dass es sich um Jade Finbury handelt. Ihr kastanienbraunes Haar ist mit Blumen geschmückt. Als ich ihren Fuß berühre, fühlt sich ihre Haut kalt an in der warmen Morgenluft.
Mein Herz schlägt in einem wilden Rhythmus gegen meine Brust. Ich rufe Gannick und den Gerichtsmediziner an und bemühe mich, meine Wut schnell wieder in den Griff zu kriegen. Mein Freund hat sich auf einen umgestürzten Baumstamm gesetzt und den Kopf in die Hände gestützt.
»Es ist Jade, oder?«, fragt Steve.
»Wir werden eine formelle Identifizierung durchführen müssen.«
»Ich weiß, dass sie es ist.« Steves Stimme wird plötzlich lauter. »Ich hab sie letzte Woche noch im Pub gesehen. Wer, zum Teufel, tut so was, Ben?«
»Ich werde es bald wissen.«
»Wie viele müssen noch sterben bis dahin?«
»Ich hoffe, niemand. Warum bist du so früh schon laufen gegangen, Steve?«
»Ich mache Ausdauertraining für den Schwimmwettbewerb. Das ist doch kein Verbrechen, oder?« Sein Blick ist scharf wie ein Laserstrahl. »Ich kann immer noch nicht fassen, dass du bei uns rumgeschnüffelt hast. Sehen Paul und ich für dich wie Mörder aus?«
»Das nicht, aber es werden Frauen umgebracht. Und ich muss alle Leute gleich behandeln.«
»Du machst einen Fehler.«
»Es gibt Vorschriften für die Vorgehensweise, die eingehalten werden müssen, Steve. Das verstehst du doch sicher, oder?«
Er reibt sich mit der Hand über den Mund und reißt sich zusammen. »Tut mir leid, ich sollte dir keine Vorwürfe machen, aber Paul wird ausflippen, wenn er das erfährt. Er hat zwei Jahre lang gehofft, dass Jade zu ihm zurückkommt.«
»Ich wusste gar nicht, dass sie mal zusammen waren.«
»Du hast eine ganze Menge verpasst, als du dich nach London verpisst hast. Sie hatten eine ziemlich heiße Affäre. Aber sie kam nicht damit klar, dass er so viel Zeit auf der Farm verbringen musste, darum haben sie angefangen, sich zu streiten. Und als Paul sie dann gebeten hat, Kernick zu verlassen, waren sie beide zu stolz, um Kompromisse einzugehen.«
»Wo ist Paul jetzt?«
»Zu Hause, er füttert das Vieh. Und gib ihm ja nicht die Schuld! Er hätte Jade niemals was angetan!«
Ehe Steve noch etwas sagen kann, ertönt ein schriller Ton. Ich erkenne den Pieper der Royal National Lifeboat Institution, der ihn zum Boot der Seenotrettung im Hafen ruft, noch bevor er ihn aus der Tasche zieht.
»Lauf los, Steve, wir reden später weiter.«
Er scheint froh zu sein, aufbrechen zu können. Zuerst trabt er locker den Weg entlang, dann beschleunigt er, um den Tatort schnell hinter sich zu lassen. Und egal, was er sagt, sein Bruder ist soeben zu meinem Hauptverdächtigen geworden. Paul Keast ist der einzige Insulaner mit Verbindungen zu beiden Opfern. Er wurde von Sabine zurückgewiesen und hat eine schmerzhafte Trennung von Jade hinter sich, außerdem ist er der Chef von Harry Jago. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie Paul die Gesichter seiner Opfer schminkt, aber möglicherweise hat er ja einen Komplizen. Wenn er der Mörder ist, habe ich keine Ahnung, wo er seine Opfer hingebracht haben könnte, denn wir haben jedes Gebäude auf St. Mary’s durchsucht und auch die gesamte Küste abgegrast. Jades Tod verstärkt meine Gewissheit, dass der Täter die Gegend hier gut genug kennt, um der Ermittlung immer einen Schritt voraus zu sein.
Während ich auf Unterstützung warte, wende ich mich der Leiche zu. Wieder fällt die Geschicklichkeit des Mörders ins Auge: Ein dickes Seil wurde mit einem professionell aussehenden Knoten an einem Ast festgemacht. Der Täter muss stark sein, da er die Tote so weit hochgezogen hat. Bei näherem Hinsehen fällt mir zudem auf, dass er eine kornische Eiche ausgesucht hat; vielleicht hat das ja eine symbolische Bedeutung. Den Schleier kann ich erst anheben, wenn Gannick da ist, weil ich sonst womöglich wichtige Spuren vernichte, aber das Kleid, dessen einfacher Musselin sich in der Brise bewegt, ist schlichter, als das von Sabine es war. Auch an Jades Finger wurde ein Ehering gesteckt, obwohl sie es zu ihren Lebzeiten vermieden hat, sich auf Dauer zu binden.
Ich bin immer noch dabei, die Details in Augenschein zu nehmen, als oben an der Straße ein Auto anhält und gedämpfte Stimmen zu mir dringen; meine Helfer kommen nach Holy Vale. Gareth Keillor trifft als Erster ein, gefolgt von Liz Gannick, und während Fotos von der Leiche gemacht werden und sie schließlich auf den Boden herabgelassen wird, kommt mir das alles vor wie ein Déjà-vu-Erlebnis.
Die Untersuchungen am Tatort ziehen sich frustrierend lange hin. Als Keillor schließlich den Schleier lüpft, bildet Jade Finburys sorgfältig geschminktes Gesicht einen grotesken Gegensatz zu ihrer gequälten Miene. Weder an ihren Händen noch an ihren Füßen sind Schnittwunden zu sehen, die das Blut erklären könnten, das Gannick in Jades Küche gefunden hat, aber vielleicht wird die Wunde nur von dem langen Kleid verdeckt.
Keillor notiert sich schweigend Details für den Totenschein und teilt mir nur wenig davon mit, bevor er geht. Spuren an Jades Handgelenk beweisen, dass sie, wie Sabine, gefesselt worden war. Dass die Leiche keine Anzeichen von Totenstarre aufweist, deutet darauf hin, dass sie erst innerhalb der letzten vier Stunden gestorben ist. Der Umstand, dass wir also bis vor kurzem noch die Chance gehabt hätten, sie lebend zu finden, verstärkt meinen Frust. Eddie zieht mit ernster Miene gelb-schwarzes Flatterband zwischen den Bäumen hindurch, um den Auffindungsort von Jades Leiche abzusperren, aber um Isla mache ich mir Sorgen. Gleich der erste große Fall der jungen Constable hat sich zu einer Jagd auf einen Serienmörder entwickelt. Sie lehnt mit glasigem Blick an einem Baum und sieht so zerbrechlich aus, dass meine Angst, sie könnte in die Taten verwickelt sein, endlich vollständig verfliegt.
»Fahren Sie zurück aufs Revier, Isla. Da gibt es auch noch jede Menge zu tun.«
»Schon in Ordnung, Boss. Fühlt sich nur alles irgendwie surreal an.«
»Wie meinen Sie das?«
»Vor dem letzten Sonntag hatte ich noch nie einen Toten gesehen.« Ihre Augen sind trocken, aber ihre Stimme klingt rau. »Jade war während der letzten Schuljahre mein Vorbild. Als ich fünfzehn war, hat sie angefangen, hier zu arbeiten. Ich hab sogar eine Weile darüber nachgedacht, auch eine Ausbildung zur Pilotin zu machen.«
»Warum schonen Sie sich nicht, wenn Sie eine Pause brauchen?«
»Ich möchte keine Sonderbehandlung.« Sie reckt das Kinn vor wie eine Kämpferin, die zum Ring schreitet. »Was passiert jetzt, Sir?«
»Wir werden weiter versuchen, die Liste der verdächtigen Personen zu reduzieren. Ich möchte wissen, wer die Fähigkeit und ein Motiv hatte, Jade zu töten.« Als ich sie erneut anschaue, wirkt die junge PC schon etwas ruhiger. »Würden Sie bitte Leo Kernick für mich anrufen? Sagen Sie ihm, ich bin auf dem Weg zu ihm.«
Sie zieht ihr Handy aus der Tasche, obwohl ihre Hände zittern, und meine Bewunderung für sie wächst. Viele neue Mitarbeiter würden beim Anblick einer weiteren Leiche zusammenklappen, aber sie kommt mit den schlimmsten Situationen zurecht, die der Polizeidienst bereithält. Sie klingt ganz ruhig, während sie mit Kernick spricht.
»Er wartet im Fotostudio auf Sie, Boss.«
Unter normalen Umständen überbringen zwei Officer dem Partner eines Mordopfers die schlechte Nachricht gemeinsam, aber Isla und Eddie werden in Holy Vale gebraucht, und Lawrie Deane organisiert gerade die nächste Zusammenkunft mit den Inselbewohnern. Da ich also nicht den Luxus einer Begleitung haben werde, wenn ich Leo Kernick gegenübertrete, bin ich gezwungen, mich unterwegs zu sammeln. Die Sonne scheint jetzt heißer vom Himmel, und ich schmecke die feuchtwarme Luft in der Kehle. Der Strand ist menschenleer, als ich einparke, nur eine einheimische Familie spielt auf dem Sand Volleyball, und die Kinder lachen schallend über ihre Missgeschicke.
Bei meinem Eintreffen steht der Fotograf rauchend vor seinem Studio. Er sieht ausgezehrt aus und hat vor Erschöpfung dunkle Schatten unter den Augen. Noch bevor ich den Parkplatz überquert habe, bestürmt er mich mit Fragen.
»Was ist los? Haben Sie Jade gefunden?«
»Können wir drinnen reden, Leo? Es ist besser, wenn wir uns setzen.«
In seinem Studio sieht es noch immer chaotisch aus, aber er hat neue Fotos mit Klammern an eine Leine gehängt. Es sind Schwarz-Weiß-Bilder seiner Freundin, die, nicht ahnend, was ihr bevorsteht, strahlend in die Kamera lächelt. Ich bemühe mich, ihm die Neuigkeiten behutsam beizubringen, aber er ist ehrlich schockiert. Ihm laufen Tränen über die Wangen, während er die Wahrheit zu verstehen versucht. Wenn das nur gespielt ist, dann verdient er für den Schmerz und die Trauer, die ich in seinem Gesicht sehe, einen Oscar.
»Bei unserem letzten Treffen bin ich ausgerastet. Sie ist weggefahren, bevor ich mich entschuldigen konnte.«
»Sie hätte Ihnen sicherlich verziehen.«
»Ich war zu blöd, ihr zu sagen, dass ich sie liebe. Ich war einfach zu wütend.«
»Wir machen alle Fehler, Leo, es ist nicht Ihre Schuld. Ist es okay, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«
»Wenn Sie dann den Mistkerl finden, der sie umgebracht hat.«
»Wo sind Sie gestern Abend nach der Suche hingegangen?«
Er zieht ein knittriges Taschentuch aus der Hosentasche. »Ich wollte nicht nach Hause, darum war ich noch im Mermaid Inn.«
»Wer hat Sie dort gesehen?«
»Ginny Tremayne war eine Zeitlang da, und Frank Rawle hat mich nach Hause begleitet, als sie zugemacht haben. Er ist ein alter Freund von mir.«
»Tatsächlich?«
»Fotografieren ist ein Hobby von ihm. Ich lasse Frank hier seine Bilder entwickeln.«
»Haben Sie noch irgendwelche Fragen, Leo?«
Seine Miene ist ausdruckslos. »Ich kann es einfach nicht glauben. Sie ist doch erst vierunddreißig.«
»Es könnte jemand bei Ihnen bleiben. Würde Ihnen das helfen?«
»Nein, mir hilft gar nichts. Ich muss jetzt allein sein.«
Beim Abschied sieht Kernick am Boden zerstört aus, aber das könnte auch eine ausgeklügelte Taktik sein. Ich muss seine Nachbarn anrufen und sie fragen, ob sie ihn gestern Nacht spät noch einmal haben weggehen hören.
Mein Instinkt rät mir, zum Tatort zurückzufahren und jeder einzelnen Spur nachzugehen, egal, wie unbedeutend sie auch erscheinen mag, aber DCI Madron erwartet meinen Anruf. Ich steige wieder in den Wagen, wähle seine Nummer und halte den Blick auf den Strand gerichtet, während ich darauf warte, dass mein Boss drangeht. Als ich ihm von dem zweiten Todesopfer berichte, fühlt sich meine Kehle so trocken an, als hätte ich Sand verschluckt. Normalerweise flucht Madron laut, wenn er sauer ist, doch diesmal schweigt er unheilvoll, und als er seine Sprache schließlich wiederfindet, klingt er enttäuscht.
»Ich werde den Fall als leitender Ermittler übernehmen, aber im Augenblick hänge ich noch hier fest. Die Arbeiter am Eurotunnel streiken, und die Flüge für die nächsten zwei Tage sind ausgebucht. Tun Sie nichts, ohne sich vorher mit mir abzusprechen.«
Madron legt ohne Umschweife auf, aber ganz gleich, wie vernichtend sein Urteil über mich ausfällt, verglichen mit dem Bedauern, das ich über Jades Tod empfinde, ist es nichts. Eigentlich sollte es doch ein Leichtes sein, die Bevölkerung einer kleinen Insel zu schützen, aber weil ich versagt habe, musste ein weiterer Mensch sterben. Die Pilotin hat dieses Schicksal ebenso wenig verdient wie Sabine Bertans. Und Hannah Weber ist noch immer nicht über den Berg. Ich bin sicher, die Antwort auf alle offenen Fragen liegt direkt vor mir. Wenn ich sie doch nur sehen könnte. Als ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Strand zuwende, ist die Familie mit dem Picknickkorb und den Limoflaschen noch da. Einige Menschen auf der Insel schaffen es, die Morde zu ignorieren, mit denen wir konfrontiert sind. Bevor ich losfahre, schaue ich noch mal auf mein Handy, aber lediglich Julian Power hat mir eine Nachricht geschickt. Er hat noch einmal die Bestandsliste des Museums durchstöbert, aber keinen Hinweis auf die Herkunft der Seemannsglücksbringer gefunden. Also bleibt uns auch dieser Weg, die Beweggründe des Mörders zu verstehen, versperrt.