Schließlich wechselt das Wetter, der endlose Sonnenschein verschwindet, und am Himmel ziehen sich bedrohliche Wolken zusammen, die den von Ray vorhergesagten Regen bringen. Es ist so schwül, dass ich mich wie betäubt fühle. Isla kommt am Vormittag zurück aufs Revier. Da die junge Constable erschöpft aussieht, erteile ich ihr die simple Aufgabe, unsere Ergebnisse für den Bericht einzutippen, während ich mich vor die Tafel stelle, um noch mal alles durchzugehen. Sie hängt voller Fotos von den ersten beiden Tatorten, aber über Jade Finburys Fall gibt es noch nichts. Ich kann noch immer niemanden entdecken, der mit allen drei Taten in Verbindung zu bringen ist. Paul Keast hatte mit beiden Opfern zu tun, aber ich habe keinerlei Beweise, dass er Hannah Weber je getroffen hat. Der Mörder führt uns an der Nase herum, weil er die ersten beiden Angriffe am Meer, den dritten dann aber im Landesinneren durchgeführt und die Pilotin aus ihrem eigenen Haus entführt hat. Und er hat sich wieder einen besonders schönen Flecken auf der Insel ausgesucht, um Finburys Leiche zur Schau zu stellen. Ein Freund von mir hat letzten Sommer seine Hochzeitsfotos in Holy Vale machen lassen. Das Waldstück bildete mit seinem Licht- und Schattenspiel damals einen romantischen Hintergrund, aber jetzt hat dieser Ort seine Unschuld verloren. Ich werde nie mehr vergessen, wie die als Braut hergerichtete Tote in der Brise schaukelte. Doch warum verwandelt der Mörder seine Opfer in tote Bräute, ohne Männer zu Bräutigamen zu machen? Zahlreiche männliche Touristen besuchen die Scilly-Inseln, ohne seinen Zorn auf sich zu ziehen. Hass vermischt sich mit Verehrung, wenn er seine Opfer schminkt und in traditionelles Weiß kleidet.
Ich muss mit Harry Jago sprechen, bevor ich irgendetwas entscheide. Er ist der Einzige auf St. Mary’s, der schon mal beim Stehlen erwischt wurde: Er könnte die Sachen aus dem Museum entwendet haben, um sie an einen anderen Inselbewohner weiterzuverkaufen. Weil er nicht an sein Handy geht, mache ich mich wieder einmal zu Fuß auf den Weg zu seinem Haus. In Hugh Town herrscht eine unheimliche Stille, die wie die Ruhe vor dem Sturm wirkt. Zwei Kanuten, die mit langsamen, lässigen Bewegungen zwischen den im Hafen vertäuten herumpaddeln, als hätten sie alle Zeit der Welt, sind das einzige Anzeichen von menschlicher Aktivität.
Harry Jago trägt Boxershorts und ein kaputtes T-Shirt, als er endlich die Tür öffnet. Sein Gesicht sieht nicht mehr so verquollen aus wie gestern, aber es ist immer noch mit hässlichen Schrammen und Blutergüssen bedeckt, und er wirkt verkatert. Sein Problem mit dem Alkohol scheint schlimmer zu sein, als ich dachte, denn seine Hände zittern.
»Sie sollten heute früh aufs Revier kommen. Hat Lilly Ihnen das nicht ausgerichtet?«
»Sie ist nicht hier.«
Ich gehe an ihm vorbei in den Flur. »Ziehen Sie sich bitte was an, wir müssen reden.«
Er geht mit der Begeisterung eines Schülers, der Hausaufgaben machen muss, die Treppe hoch, und auch als er schließlich in die unaufgeräumte Küche kommt, schmollt er noch. Im Kühlschrank steht außer einem Sixpack Bier kaum etwas, aber ich gieße den Rest aus einer Orangensaftpackung in ein Glas und schiebe es ihm über den Tisch zu.
»Vitamin C soll gut sein gegen den Kater.«
Er nimmt einen Schluck und verzieht das Gesicht. »Sie verschwenden Ihre Zeit. Wie ich schon sagte, ich weiß nichts.«
Seine störrische Miene zeigt, dass er ein gestörtes Verhältnis zur Polizei hat, seit sein Dad im Gefängnis gelandet ist; und seine eigene Vorstrafe dürfte es auch nicht verbessert haben. Harry sieht aus, als rechnete er damit, im nächsten Moment erneut brutal zusammengeschlagen zu werden.
»Wann haben Sie angefangen zu trinken, Harry?«
»Was kümmert Sie das?«
»Ich sitze hier, also können wir uns genauso gut auch unterhalten.«
Jago antwortet mir in bruchstückhaften Sätzen. Er wollte Plymouth nicht verlassen, nachdem sein Vater verknackt worden war. Dann hat er mit vierzehn Jahren angefangen zu trinken, um seine neuen Klassenkameraden in Hugh Town zu beeindrucken. Cider hinter dem Fahrradschuppen zu trinken wurde zu einer Art Ehrenabzeichen und ließ ihn härter erscheinen als die anderen. Seine Mutter hat versucht, ihn wieder davon abzubringen, aber sie war auf verlorenem Posten. Er hat Geld aus ihrer Börse geklaut und sich von seinen älteren Freunden Alkohol kaufen lassen. Seine Sucht hat auch dazu geführt, dass er mit dem Ladendiebstahl begonnen hat. Als er schließlich aufhört zu reden, wirkt er selbst verblüfft darüber, dass er all seine Geheimnisse ausgerechnet einem Polizisten anvertraut hat. Ich war ähnlich schräg drauf, nachdem mein Vater gestorben war; ich fühlte mich verloren und hatte Angst und habe beides hinter einer Art Draufgängertum versteckt. Der junge Mann vor mir besitzt auf gar keinen Fall die nötige Konzentrationsfähigkeit, um ausgeklügelte Verbrechen zu begehen.
»Mir hat die Schule auch keinen Spaß gemacht«, gestehe ich. »Das Rugbyspielen war ein gutes Ventil für mich.«
»Ich bin total schlecht in Ballspielen.«
»Dann laufen oder schwimmen Sie, machen Sie irgendwas, um sich auszupowern. Das würde Ihnen helfen, bessere Entscheidungen zu treffen.«
Harry starrt mich finster an, aber ich weiß, dass er mir zuhört. Er ist nicht dumm, nur verletzlich, und er wird sein Leben verpfuschen, wenn er seine Sorgen weiter im Alkohol ertränkt.
»Es wurde schon wieder eine Frau umgebracht, Harry. Es wird Zeit, dass Sie mir alles erzählen, wenn Sie wissen, was Sabine gefährlich geworden sein könnte.«
»Es ist nicht meine Schuld.« Eine Träne rollt ihm über die Wange. »Sie war netter als alle anderen hier, abgesehen von Lily.«
»Haben Sie den Schmuck aus dem Museum geklaut?«
Der junge Mann zuckt zusammen. »Warum kriege ich die Schuld für alles in die Schuhe geschoben?«
»Sie haben nichts zu befürchten, aber ich weiß, dass Sie mit Sabine zusammen waren. Ich brauche einfach nur die Wahrheit, damit nicht noch jemand zu Schaden kommt.«
»Sie erzählen mir doch nur Mist.« Er klingt gestresst, so als hätte ich ihn auf frischer Tat ertappt. »Sie hätten mich längst verhaftet, wenn Sie was gegen mich in der Hand hätten.«
»Der Kerl bringt zwar lieber Frauen um, aber Sie sind auch in Gefahr, wenn Sie irgendwas wissen. Hat er Sie zusammengeschlagen, weil Sie ihm zu dicht auf den Fersen waren?« Jago betrachtet weiter die ramponierte Tischplatte. »Wo ist Lily? Ich dachte, sie wollte sich einen Tag freinehmen, um sich um Sie zu kümmern?«
»Meine Schwester hat mich aufgegeben. Sie schiebt jetzt lieber eine ruhige Kugel im Hotel.«
»Wovon bezahlen Sie die Miete? Ihr Gehalt reicht dafür nicht aus.«
»Ein paar Leute von der Insel helfen mir.«
»Zum Beispiel?«
Er zögert lange mit seiner Antwort. »Pfarrer Michael, Julian Power und die Rawles. Mum hat bei ihnen geputzt. Sie machen’s also ihretwegen, nicht meinetwegen. Darum hab ich auch den Job bei Paul Keast bekommen.«
»Und was passiert, wenn ihre Wohltätigkeit mal ein Ende findet?«
»Mum hatte ein bisschen was gespart.«
»Und wenn das verbraucht ist?«
»So weit denke ich nicht voraus.«
Jago sinkt auf seinem Stuhl zusammen und schließt die Augen. Mein Instinkt sagt mir, dass er den Schmuck gestohlen hat, um seine Fixkosten zu bezahlen, aber ich habe keinerlei Handhabe gegen ihn. Wenn er etwas über den Mörder weiß, dann hat er zu viel Angst, um es mir zu sagen.
Weil ich nicht noch mehr Zeit auf eine Befragung verschwenden will, die keine Ergebnisse bringt, sage ich ihm, dass er mich anrufen soll, wenn ihm noch etwas Wichtiges einfällt. Harry macht sich nicht mal die Mühe, mich zur Tür zu bringen, und draußen würde ich vor Frust am liebsten laut schreien. Während ich in Harrys Haus war, haben sich am Himmel dunkle Wolkenberge auftürmt.
Ich will gerade zum Revier aufbrechen, da fällt mir ein Umschlag auf, der aus einem Mülleimer ragt. Als ich ihn herausziehe, trifft mich fast der Schlag. Auf der Vorderseite steht Harrys Name, und zwar in derselben nach rechts geneigten Handschrift, mit der auch die Briefumschläge in Jade Finburys Küche beschriftet waren. Das Foto darin hat nichts mit denen gemeinsam, die in Leo Kernicks Studio an der Leine hingen. Es ist eine extreme Nahaufnahme, die das zugleich ängstliche und wütende Gesicht der Pilotin zeigt. Der Mistkerl hat Jade gezwungen, den Umschlag zu beschriften, bevor er sie umgebracht hat, genau wie Sabine. Als ich das Bild umdrehe, steht auch hier ein Satz in ihrer Schrift auf der Rückseite: »Auf ewig schön im weißen Kleide, so weiß, so zart und ganz aus Seide.« Warum sollte jemand diese kryptische Nachricht an Harry Jago schicken, wenn er nichts mit der Sache zu tun hat? Ich hämmere noch mal an seine Tür, doch er muss mich beobachtet haben. Die Tür ist inzwischen von innen verriegelt.
»Du dummes kleines Arschloch«, zische ich.
Ich nehme ein paar Schritte Anlauf, breche die Tür mit meinem Körpergewicht auf und sehe durch das rückwärtige Fenster aber nur noch, wie Jago über den Porth Mellon Beach davonsprintet. Er ist bereits zu weit weg, als dass ich ihn einholen würde. Es gibt ein Dutzend Wege, die er einschlagen könnte, und die Buchten und Wäldchen auf der Insel bilden ideale Verstecke. Er muss mehr wissen, als er mir offenbart hat, und wahrscheinlich weiß auch seine Schwester, was er verbirgt. Mich packt die Wut, als ich, den Umschlag in der Hand, das Haus wieder verlasse. Wer auch immer ihn unter dieser Tür durchgeschoben hat, hat Harry derart viel Angst eingejagt, dass er vor dem einzigen Menschen davonläuft, der für seine Sicherheit sorgen könnte.