Als ich um dreizehn Uhr zurück zum Polizeirevier komme, steht Leo Kernick vor der Tür. Ich habe gerade gar keine Zeit für ihn, aber er ist nicht in der Stimmung, sich abwimmeln zu lassen. Er kommt schwankend auf mich zu, in seinen Augen funkelnder Zorn.
»Bringen Sie mich zu Jade, damit ich mich verabschieden kann.«
In der Stimme des Fotografen und in seiner Körpersprache liegen so viel Aggressivität, dass ich Abstand halte, obwohl ich größer und schwerer bin als er. Über die Jahre habe ich alle möglichen Arten erlebt, mit Trauer umzugehen, aber Kernicks Wut richtet sich zu einhundert Prozent gegen mich, so als hätte ich seine Freundin mit bloßen Händen umgebracht. Und sie steigert sich noch, als ich ihm erkläre, dass Jade noch nicht ins Leichenschauhaus gebracht wurde. Er schlägt nach mir, verfehlt mich jedoch, und ich packe sein Handgelenk und presse ihm die Arme an seinen Körper.
»Beruhigen Sie sich, Leo. Ich möchte Sie nicht wegen Körperverletzung festnehmen müssen.«
Völlig unvermittelt verlässt ihn die Kraft. Kernicks Wut verwandelt sich in Trauer, und er schluchzt an meiner Schulter. In einem derart aufgelösten Zustand kann ich ihn nicht nach Hause schicken. Schnell gehe ich im Kopf einige Namen durch und überlege, welcher Inselbewohner in dieser Situation am hilfreichsten wäre. Kernick erwähnte seine Freundschaft zu Frank Rawle, und mein alter Schulleiter bietet mir ja schon seit dem Beginn der Ermittlungen seine Unterstützung an. Die Tränen des Fotografen sind inzwischen durch ein Mantra ersetzt worden; im Flüsterton wiederholt er den Namen seiner Freundin. Er wirkt wie weggetreten, erlaubt mir aber, ihn zum Haus der Rawles zu bringen.
Die Church Street liegt ruhig da, als wir dort ankommen; die Bewohner wissen noch nichts vom Tod der Pilotin. Elaine Rawle rackert sich ausnahmsweise mal nicht im Museum ab, sondern ist zu Hause und schneidet die Hecke im Vorgarten. Ihr Labrador liegt hechelnd im Schatten. Elaine kommt mit graziösen Bewegungen, aber besorgter Miene auf uns zu. Sie ist schockiert, als sie von Jades Tod hört. Es kommt mir grausam vor, sie damit zu belasten, da der ganze Fall ohnehin schon schmerzhafte Erinnerungen in ihr weckt.
Elaine berührt Leo sanft am Arm. »Komm mit rein, du Armer. Ich rufe Frank an. Er ist nur kurz was einkaufen gegangen.«
»Das ist nicht nötig«, sage ich zu ihr. »Behalten Sie Leo bitte einfach eine Weile bei sich, bis es ihm besser geht.«
Elaine richtet tröstende Worte an den Fotografen, und führt ihn ins Haus, das die Persönlichkeiten des Paares perfekt widerspiegelt. Die Wände im Flur sind mit dunklem Holz vertäfelt, die Dielen glänzen. Im Wohnzimmer stehen altmodische Möbel im Chippendale-Stil, und auch die Kunstwerke sind beachtlich: Ölgemälde von hübschen Flecken auf der Insel, die so akkurat gemalt sind, dass es auch Fotografien sein könnten. Die Küche der Rawles mit dem großen Spülstein, dem Eichentisch und den rustikalen Stühlen mit Sprossenrückenlehnen ist ein Relikt aus einer anderen Ära.
Elaine schiebt Leo Kernick auf einen Stuhl, aber er scheint seine Umgebung gar nicht wahrzunehmen und sitzt mit glasigem Blick einfach nur da, während sie schnell einen Tee kocht.
»Wie, um Himmels willen, ist denn das passiert?«, fragt sie. Als ich ihr erzähle, wie Jade zu Tode gekommen ist, funkeln Tränen in ihren Augen. »Was für ein Monster macht denn so was?«
So wie sie denken alle Bewohner der Insel, außer dem Mörder, der seinen neuesten Erfolg sicherlich auskostet. Es war die richtige Entscheidung, Kernick hierherzubringen; die friedliche Atmosphäre wird ihn beruhigen. Als ich gehe, fallen mir einige gerahmte Fotos neben der Haustür auf, deren Farben verblichen sind, weil sie offenbar schon sehr lange dort hängen. Sie zeigen eine blonde junge Frau, die im Garten der Rawles sitzt und in die Kamera lächelt. Elaine bleibt neben mir stehen, sie spricht nun etwas leiser.
»Das ist unsere Leah ein paar Monate vor ihrem Tod.«
»Sie sieht hübsch aus. Das muss ein schwerer Schlag für Sie beide gewesen sein.«
»Frank ist mir eine große Stütze, und das Gespräch mit Nina heute Morgen hat mir auch geholfen. Sie hat mir ein paar neue Einsichten vermittelt. Würden Sie ihr bitte meinen Dank ausrichten?«
»Natürlich.«
»All die Brutalität hat mich zurück in die Vergangenheit katapultiert, aber ich bin sicher, das wird wieder besser, wenn es vorbei ist …« Ihre Stimme verklingt, und es kommt mir so vor, als wäre es ihr peinlich, einem ehemaligen Schüler ihres Mannes ihre Verletzlichkeit offenbart zu haben. »Trauer ist schon etwas Seltsames. Wenn man denkt, man hat sie bewältigt, kommt sie zurück und zwingt einen, den Schmerz erneut zu durchleben.«
»Sind Sie sicher, dass es Ihnen nichts ausmacht, sich um Leo zu kümmern?«
»Ich tue das gern, Ben. Er ist ein Freund von uns.«
»Bitte lassen Sie ihn nicht allein. Er steht unter Schock.«
»Frank wird bald zurück sein. Wir passen beide auf ihn auf, machen Sie sich keine Sorgen.«
Der Hund der Rawles ist durch die Hintertür ins Haus gekommen und legt sich neben Kernicks Stuhl, als wollte er ihm Trost spenden. Elaine wirkt nachdenklich, als sie die Haustür öffnet.
»Konnte Julian Ihnen etwas über die Seemannsglücksbringer sagen?«, fragt sie.
»Er hat sein Bestes gegeben, aber sie werden im Archiv nirgends erwähnt. Ich weiß immer noch nicht, wer sie gestiftet hat.«
Sie schüttelt den Kopf. »Ist ja merkwürdig, wo wir doch sonst über alles Informationen haben. Möchten Sie, dass ich ein bisschen herumtelefoniere, wenn Frank zurück ist? Irgendwer muss doch wissen, von welcher Familie sie stammen.«
»Das wäre sehr hilfreich, danke.«
Ich höre Leo Kernick weinen, und sie eilt zurück in die Küche, um sich um ihn zu kümmern.
Draußen stelle ich fest, dass das Krankenhaus mir eine neue Nachricht hinterlassen hat. Hannah Weber hatte einen Krampfanfall, ihr Zustand ist kritisch. Diese Neuigkeit versetzt mich in Schock. Ich bin nicht darauf eingestellt, dass der Mörder ein drittes Opfer für sich reklamieren kann. Ich lasse die Church Street hinter mir und trabe schwer atmend den Hügel hinauf. Wenn ich mich neben Hannah Webers Bett stelle, wird das ihre Überlebenschancen zwar auch nicht verbessern, aber irgendetwas drängt mich, sie noch einmal zu sehen, bevor ich meine Suche nach ihrem Angreifer fortsetze.
Ginny Tremayne empfängt mich mit ernster Miene, als ich im Krankenhaus eintreffe. Die medizinischen Fachbegriffe, die sie benutzt, sagen mir nichts, ich verstehe nur, dass Hannahs Leben am seidenen Faden hängt. Als ich durch das Fenster in der Tür in ihr Krankenzimmer schaue, sitzt der Pfarrer wieder an ihrem Bett.
»Ich habe Michael gebeten zu kommen, damit sie nicht allein ist«, sagt Ginny. »In den nächsten vierundzwanzig Stunden wird sich entscheiden, ob sie überlebt. Falls Sie einen schweren Hirnschaden erlitten hat, kann es sein, dass nach und nach ihre lebenswichtigen Organe versagen.«
»Sind Sie sicher, dass Sie nicht aufs Festland geflogen werden kann?«
»Der Flug könnte ihren Zustand weiter verschlimmern. Ich bezweifle, dass sie das überleben würde.«
Als ich Hannah Webers Zimmer betrete, hat sich die Atmosphäre verändert. Der Pfarrer registriert meine Anwesenheit gar nicht. Er hält ihre Hand und murmelt mit gesenktem Kopf leise Beschwörungsformeln. Ich höre genügend lateinische Wörter heraus, um zu erkennen, dass er eine Messe liest. Hannahs Gesicht ist so bleich wie der Kissenbezug, sie hängt am Tropf, und die Sauerstoffmaske ist von ihrem unregelmäßigen Atem beschlagen. Ich würde ja auch ein eigenes Gebet beisteuern, aber ich war schon immer davon überzeugt, dass Gott nicht existiert. Ich kann Hannah nur versprechen, denjenigen zu schnappen, der versucht hat, sie am Halangy Beach zu töten.