Als ich am frühen Nachmittag zurück aufs Revier komme, ist Eddie da. Die anderen sind noch bei Gannick und halten Spaziergänger davon ab, Holy Vale zu betreten. Eddie hört schweigend zu, als ich ihm erzähle, dass ich den an Harry adressierten Umschlag gefunden habe und Harry abgehauen ist, da er offenbar Angst hatte, mir zu sagen, was er weiß. Danach betrachtet mein Deputy sehr lange das Foto von Jade, doch auch er kann darauf keinen Hinweis entdecken, wo sie gestorben ist. Die neue Verszeile auf der Rückseite scheint die von Sabines Foto zu ergänzen:
Die Braut trägt heute ihr Geschmeide,
Auf ewig schön im weißen Kleide,
So weiß, so zart und ganz aus Seide.
Stuart Helyer mag recht haben mit seiner Theorie, dass diese Zeilen aus einer Hochzeitsballade stammen, doch nicht mal der älteste Bewohner der Insel kann sich an den vollständigen Text erinnern. Das Lied wird mit ihm sterben wie auch das Wissen über das Meer mit den Hummerfischern.
»Was für einen Grund könnte der Mörder haben, Harry dieses Foto zu schicken?«, fragt Eddie.
»Es könnte eine Ermahnung sein, nicht zu reden, wenn er irgendwas gesehen hat. Ich glaube, er hat sich vom Acker gemacht, weil er befürchtet, sonst irgendwas auszuplaudern.«
»Dann ist es also jemand, den Jago gut kennt?«
»Es wird Zeit, dass wir Paul Keast verhaften. Er hat Harry den Job auf dem Boot verschafft, und die Opfer haben ihm beide einen Korb gegeben. Vielleicht ist er unter der ruhigen Oberfläche wütend genug, um das Leben anderer zu zerstören. Wenn man von Leo Kernick absieht, der alle drei fotografiert hat, ist er der Einzige auf unserer Liste mit Verbindungen zu mehr als einem Opfer.«
Eddie sieht erleichtert aus. »Ich weiß, dass er Ihr Freund ist, aber er ist doch ein bisschen seltsam, oder? Paul war schon immer der verschlossene Typ. Offenbar fliegen die Frauen auf ihn, aber er ist zu sehr in sich versponnen, um das mitzukriegen.«
»Ich hole ihn gleich nach der Versammlung her.«
»Die Insulaner kommen um drei Uhr. Ich beneide Sie nicht darum, dass Sie Jades Tod bekannt geben müssen. Sie war hier bei allen beliebt.«
»Klar, mein Job ist einfacher, wenn alles gut läuft.«
Ich habe Madrons Drohung, mir den Fall abzunehmen, noch gut im Ohr, behalte sie aber für mich. Das Team muss sich auf die Ermittlung konzentrieren und sollte nicht von meiner Unfähigkeit, den Fall zu lösen, abgelenkt werden.
Als ich zur Church Street gehe, ist es, bis auf einige Bewohner, die zur Versammlung eilen, still in den Straßen. Die meisten Bewohner von St. Mary’s sind erschienen, und im Saal herrscht eine bedrückte Stimmung. Auch wenn der Mörder wieder zugeschlagen hat, muss ich meinem Publikum den Eindruck vermitteln, dass wir Fortschritte machen. Ein Meer von ausdruckslosen Gesichtern schaut zu mir hoch. Die Leute mögen es ganz und gar nicht, dass ihre Sicherheit gefährdet und das Leben auf der Insel lahmgelegt ist. Als ich Jades Tod bekannt gebe, geht ein schockiertes Raunen durch den Saal. Unter den Anwesenden befinden sich viele ihrer engsten Freunde, auch wenn Leo Kernick und Frank Rawle nicht gekommen sind. Ich bin erleichtert, dass der Fotograf in der Obhut seines Freundes geblieben ist. Als ich nach den Keast-Brüdern Ausschau halte, entdecke ich nur Paul; er sitzt. Die Arme fest vor der Brust verschränkt, auf seinem Stuhl. Steve und fünf andere Mitglieder der Seenotrettung befinden sich noch auf See und schleppen eine havarierte Yacht zum Hafen zurück.
Als ich fertig bin mit meinem Vortrag, stürzt eine Flut von Fragen auf mich ein. Die öffentliche Meinung wendet sich gegen uns, obwohl ich klare Antworten liefere. Elaine Rawle ist in Tränen aufgelöst. Rhianna Polkerris sitzt neben ihr. Die Hotelmanagerin sieht fassungslos aus, so als könne sie nicht glauben, dass noch eine Frau gestorben ist. Nur Liam Trewin macht einen zufriedenen Eindruck. Die Genugtuung in seiner Miene beweist, dass der Amerikaner mein Unbehagen genießt. Er mag die Angriffe nicht verübt haben, aber unser letztes Gespräch hat Spuren bei mir hinterlassen, und er bleibt für mich verdächtig. Nina sitzt ganz hinten im Saal, und Shadow ist bei ihr. Ninas Gesichtsausdruck ist schwer zu deuten; kann sein, dass sie mich bedauert, aber mir wäre es lieber, sie wäre nicht hier, während ich um das Vertrauen der Inselgemeinschaft buhle.
»Wir brauchen Ihre Hilfe jetzt mehr denn je«, sage ich zu den Versammelten. »Ich muss dringend mit Harry Jago sprechen. Wenn Sie ihn sehen, geben Sie uns bitte sofort Bescheid. Passen Sie auf sich und Ihre Nachbarn auf, und zwar tagsüber genauso wie nachts. Gehen Sie nirgendwo allein hin, und sichern Sie Ihre Häuser.«
Ich frage, wann Jade zuletzt gesehen wurde, und bitte alle, die etwas wissen, mein Team nach der Versammlung anzusprechen. Die Atmosphäre im Raum bleibt dennoch feindselig, und es werden einige Stimmen laut, die uns Vorhaltungen machen, weil wir den Mörder noch nicht gefasst haben. Ladeninhaber und Hoteliers sind noch immer sauer wegen der stornierten Buchungen, und die Fährleute beklagen Verluste, weil keine Touristen mehr zwischen den Inseln verkehren.
Nach der Versammlung stellt Eddie sich an den Ausgang und versucht, die Insulaner, die noch geblieben sind, zu besänftigen. Was soziale Kompetenz angeht, stellt mein Deputy mich stets in den Schatten. Er schickt die Leute beruhigt nach Hause, und seine höfliche Art sorgt dafür, dass ihm alle gewogen bleiben.
»Gute Arbeit, Eddie. Das haben Sie toll gemacht.«
Er strahlt, als hätte ich ihm einen Orden verliehen. »Paul Keast wartet auf Sie, Boss. Ich hab ihm gesagt, dass Sie ihn sprechen wollen.«
»Holen Sie ihn rein, aber gehen Sie bitte nicht weg. Ich brauche Sie als Zeugen.«
Die meisten Inselbewohner sind eilig aufgebrochen und haben die Stuhlreihen bei ihrem Wettlauf zur Tür durcheinandergebracht, aber Paul scheint die Unordnung gar nicht wahrzunehmen. Er wirkt vollkommen emotionslos, als er sich mit Blick auf das Durcheinander an den Rand des Podests lehnt. Die distanzierte Art meines alten Freundes ist heute noch ausgeprägter als früher. Ich habe ihm immer vertraut, aber seit ich auf die Scilly-Inseln zurückgekehrt bin, gab es eine Distanz zwischen uns, die unser Verhältnis belastet hat.
»Alles okay mit dir, Paul?«
»Ich hätte merken sollen, dass sie in Gefahr war. Vielleicht hätte ich irgendwas tun können.«
»Wie kommt’s, dass du mir nie erzählt hast, dass du mit Jade zusammen warst?«
»Wenn eine tolle Frau mich abserviert, ist das nichts, womit ich hausieren gehe.« Er schließt für einen Moment die Augen.
»Seit wann ist es zu Ende?«
»Seit zweieinhalb Jahren.« Sein Ton ist plötzlich hart, so als würde die Erinnerung daran Wut und Bedauern in ihm wecken. »Steve hatte auf Vertragsbasis einen Job in der Landwirtschaft auf dem Festland angenommen, um uns aus einem finanziellen Loch rauszuholen, und ich hatte so viel zu tun, dass ich Jade vernachlässigt habe. Sie hätte es verdient gehabt, dass ich mehr Zeit mit ihr verbringe.«
»Hast du versucht, sie zurückzuerobern?«
»Sie hat mir vorgeworfen, mit meiner Arbeit verheiratet zu sein, und sie hatte recht.« Er hält den Blick weiter in die Ferne gerichtet. »Die Landwirtschaft kann dein ganzes Leben dominieren, aber das passiert mir garantiert nicht noch mal.«
»Die Trennung muss schmerzhaft gewesen sein.«
»Eine Zeitlang konnte ich es kaum ertragen, ihr zu begegnen, so viel steht fest.« In den Kummer in seiner Stimme vermischt sich die Art von Zorn, die leicht eine gefährliche Sprengkraft entwickelt.
»Warum hast du nicht mit irgendwem geredet?«
Er lacht trocken. »Kannst du dir mich auf der Couch eines Therapeuten vorstellen?«
»Das ist nichts Ehrenrühriges.«
Er schüttelt den Kopf. »Ihr Tod ist tragisch, aber mein Leben ist nicht stehengeblieben nach der Trennung. Ich habe jemand anders kennengelernt. Im Moment ist die Lage etwas chaotisch, aber wir kriegen das schon hin.«
Pauls zögerliche Auskunft überzeugt mich nicht. Steve wüsste Bescheid, wenn er neu liiert wäre. Und hätte er eine Affäre mit einer verheirateten Frau, würden die Leute darüber tratschen. Wenn ich an den gutmütigen Jungen zurückdenke, mit dem ich vor zwanzig Jahren Rugby gespielt habe, wirkt er heute wie ein anderer Mensch; er war immer das schüchterne Pendant zu seinem Bruder und musste sich eine Menge liebevollen Spott gefallen lassen. Seine Miene ist angespannt, aber es kostet mich immer noch Überwindung, alte Loyalitäten beiseitezuschieben, obwohl Paul der einzige Inselbewohner mit einer klaren Verbindung zu beiden Mordopfern ist. Außerdem ist er der Boss von Harry Jago, was erklären könnte, warum der Junge Angst hat. Es spricht einiges dafür, dass Paul für die brutalen Schläge verantwortlich ist, die Jago kassiert hat. Ich kann nicht beweisen, dass er Hannah Weber gefolgt ist, bevor sie attackiert wurde, aber seine Farm liegt unweit des von ihr gemieteten Ferienhauses in Juliet’s Garden. Es gibt so viele Faktoren, die auf ihn als Täter hinweisen, dass ich aktiv werden muss, auch wenn das das endgültige Ende unserer Freundschaft bedeutet.
»Ich kann verstehen, warum du es auf Jade und Sabine abgesehen hattest, aber warum Hannah Weber?«
»Bitte?«
»Und warum der ganze Zirkus mit den Kleidern und dem Make-up?«
Seine Augen weiten sich. »Du spinnst ja.«
»Paul Keast, ich verhafte dich wegen des Verdachts, Sabine Bertans und Jade Finbury ermordet und Hannah Weber angegriffen zu haben. Du hast das Recht zu schweigen. Alles, was du sagst, kann und wird vor Gericht gegen dich verwendet werden.«
»Ist das dein Ernst?«, sagt er und starrt mich ungläubig an. »Ich hab niemandem was getan.«
»Alles Weitere besprechen wir auf dem Revier.«
Die Miene meines alten Freundes wird eisig. So viel unterdrückte Wut ist mir bislang selten begegnet, und wenn, dann nur auf den Gesichtern überführter Mörder.