Ich führe Paul aufs Revier, und Eddie übernimmt die Rolle des Aufpassers. Es entsteht eine unangenehme Wartezeit, während mein Deputy den Papierkram erledigt und unseren Verdächtigen auffordert, seine Taschen zu leeren. Paul stellt eine Menge Fragen und beteuert weiterhin seine Unschuld, doch meine Zeit bei der Londoner Mordkommission hat mich gelehrt, dass sogar Serientäter nur selten bereits bei der Verhaftung gestehen. Sobald seine persönlichen Gegenstände sorgfältig verzeichnet und eingetütet sind, wird Paul zu einer Zelle geführt. Die Zwischenwände auf dem Revier sind so dünn, dass ich den genauen Moment mitbekomme, in dem Paul seine Freiheit verliert: Die Zellentür schließt sich scheppernd, dann dreht sich der Schlüssel im Schloss. Bis zu seiner Vernehmung wird er sich noch eine Weile gedulden müssen, denn er hat Anspruch auf einen Rechtsbeistand, und Anwälte sind an einem derart abgelegenen Ort schwer zu finden. Auf den Scilly-Inseln gibt es gerade mal drei, und davon ist eine Anwältin im Mutterschaftsurlaub, und die anderen beiden machen Urlaub im Ausland. Paul Keast muss also, nur in Gesellschaft einer Matratze und eines vergitterten Fensters, in seiner winzigen Zelle ausharren, bis ein Anwalt vom Festland herübergeflogen werden kann.
Da ich für siebzehn Uhr eine Einsatzbesprechung anberaumt habe, bleiben mir nur noch ein paar Stunden, um mich über die Spurenlage am Tatort zu informieren und Nachrichten zu beantworten. Dutzende Insulaner berichten, wann und wo sie Jade Finbury zuletzt gesehen haben, während andere nur ihrem Ärger Luft machen wollen. Paul Keasts Verhaftung macht mir zu schaffen. Als stiller, obsessiver Typ mit mangelhafter Sozialkompetenz entspricht er zwar perfekt dem Stereotyp eines Mörders, aber wir brauchen dennoch belastbare Beweise. Das Farmhaus, das er sich mit Steve teilt, wurde bereits gründlich durchsucht, ohne dass etwas Brauchbares ans Licht gekommen ist.
Lawrie Deane sieht erschöpft aus, als das Team um siebzehn Uhr zum Briefing in Madrons Büro eintrudelt. Der Sergeant scheint verstimmt zu sein, nachdem er Liz Gannick am Tatort Gesellschaft leisten und anschließend die öffentliche Versammlung organisieren musste. Isla sieht immer noch so putzmunter aus, dass man leicht vergessen könnte, dass sie bereits seit Tagesanbruch arbeitet, während Gannick durch ihre Notizen auf dem Tablet scrollt und viel zu sehr in die kriminaltechnischen Details vertieft ist, um mir ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken. Eddie kommt als Letzter, und er wirkt nachdenklich. Die Keast-Brüder sind angesehene Bürger auf der Insel; die gesamte Bevölkerung wird schockiert sein, wenn sich herausstellt, dass er der Mörder ist.
Als ich Paul Keasts Verhaftung bekannt gebe, habe ich schlagartig die ungeteilte Aufmerksamkeit meines Teams, aber trotzdem stehen noch andere Verdächtige auf unserer Liste. Wir müssen dringend Harry Jago finden. Der Junge könnte in den Sog des Mörders geraten sein, nachdem er Gegenstände aus dem Museum gestohlen hat. Und das Foto von Jade Finbury könnte eine Warnung an ihn sein, den Mund nicht aufzumachen. Liam Trewins Name wurde von der Liste gestrichen. Der Amerikaner hat St. Mary’s erst zweimal besucht, und sein Hotelzimmer ist zu makellos für einen Tatort. Alle Angestellten des Star Castle haben solide Alibis und keinerlei Vorstrafen. Serienmörder sind meistens bereits als Gewalttäter aktenkundig geworden, bevor sie sich zu brutalen Morden hinreißen lassen, doch niemand auf der Insel hat je ein schweres Verbrechen begangen.
Ich wende mich Liz Gannick zu. »Würden Sie uns bitte auf den neusten Stand bringen?«
Sie schaut schließlich doch noch von ihrem Tablet hoch. »Das Labor hat gerade ein Ergebnis geschickt. Das Blut auf Jade Finburys Fußboden passt nicht zu ihrer eigenen DNA, was erklärt, warum wir so viel davon an der Spüle gefunden haben. Möglicherweise hat sie den Angreifer mit einem Messer verletzt, und er hat das Blut später vom Boden aufgewischt.«
»Sie glauben, sie hat ihn verletzt?« Die Idee ist nicht abwegig, die Pilotin war tough und selbstbewusst. Sie wird heftige Gegenwehr geleistet haben.
»Aus einer Fleischwunde kann jede Menge Blut austreten, auch wenn sie nicht lebensbedrohlich ist. Wie es aussieht, hat er die Wunde selbst versorgt, um nicht in ärztliche Behandlung zu müssen, und die Waffe mitgenommen.«
»Also ist unser Mörder verletzt, und eine Blutprobe würde seine Schuld beweisen.«
»Für einen DNA-Abgleich brauchen Sie nur einen Abstrich der Mundschleimhaut.«
»Dann lassen Sie uns sofort einen bei Paul Keast nehmen; dann ist die Sache vielleicht entschieden.«
»Auf das Ergebnis werden Sie aber vierundzwanzig Stunden warten müssen, und es gab noch mehr Spuren am letzten Tatort. Ich habe direkt neben Jade Finburys Leiche einen Fußabdruck gefunden. Er stammt von einem Turnschuh der Größe vierundvierzigeinhalb.« Gannick legt ein Blatt in die Mitte des Tisches. »Ich habe ein Haftgel benutzt, um mit einem Blatt den Abdruck vom Boden abzunehmen.«
Auf dem monochromen Bild ist jede Kerbe und jeder Kratzer in der Sohle zu erkennen; diese Details können ebenso belastendes Beweismaterial sein wie ein Fingerabdruck.
»Großartig, Liz. Könnten Sie gleich zu Keasts Farm fahren, um Pauls Schuhe und seinen Transporter zu überprüfen?«
»Lassen Sie mich erst mal ausreden.« Gannick wirft mir einen vernichtenden Blick zu. »Der Mörder hat eine Spur hinterlassen, die durch das ganze Waldstück führt. Er hat sie knapp fünfzig Meter bis zu dieser Lichtung geschleift. Das hier lag in der Nähe von Jades Leiche auf der Erde.«
Sie reicht mir einen Asservatenbeutel, der ein kleines goldenes Medaillon mit einer zerrissenen Kette enthält. Es sieht etwas schlichter aus als die beiden ersten, aber auch in dieses war die Silhouette eines Schiffes eingraviert – wie bei den anderen Medaillons, die aus dem Museum gestohlen wurden. Auf der Rückseite steht ein Datum vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, und es sieht aus wie die übrigen Seemannsglücksbringer, die Bräute daran erinnern sollten, für ihre Männer zu beten, während diese auf See arbeiteten.
»Die Kette muss zerrissen sein, als er sie in den Wald getragen hat«, sagt Eddie. »Was die Herkunft von Jades Kleid angeht, hatte ich nicht so viel Glück. Es stammt aus dem größten Online-Shop für Brautkleider des Vereinigten Königreichs.«
Isla betrachtet das Medaillon mit finsterer Miene. »Wenn die Frauen noch leben würden, wären das echt schöne Geschenke«, murmelt sie. »Warum liebt und hasst er sie zugleich?«
Unsere neue Constable errötet über die Worte, die ihr herausgerutscht sind, aber ich habe mir bereits dieselbe Frage gestellt. Die Zärtlichkeit, mit der er seine Opfer schmückt und ihnen Blumen ins Haar flicht, passt nicht zu der Brutalität, mit der sie ermordet werden. Möglicherweise suchen wir nach zwei Mördern. Aber wenigstens hat Gannick die Ermittlung ein gutes Stück vorangebracht: Wir haben die DNA des Täters und seinen Fußabdruck, doch wenn er einen Komplizen hat, wird es nicht lange dauern, bis er das nächste Opfer ins Visier nimmt.