Lily sucht gegen zehn Uhr im Mitarbeitertrakt nach ihrer Freundin. Sie hat bereits drei Stunden harte Arbeit hinter sich, hat Bettwäsche gewechselt und Toiletten für die heute anreisenden Gäste geputzt. Im Hotel ist es so warm, dass ihr der Schweiß den Rücken hinunterrinnt, aber sie beklagt sich nicht. Ihr Job im Star Castle hat es ihr ermöglicht, sich von ihrer Vergangenheit zu lösen, außerdem versorgt er sie mit dem nötigen Geld für ihren Lebensunterhalt und auch mit neuen Freunden. Die junge Frau lächelt, als sie den Flur entlanggeht. Sabine müsste inzwischen vom Schwimmen zurück sein; sie werden Zeit haben, einen Kaffee zu trinken und ein bisschen zu plaudern, bevor ihre Pause endet.
Sie klopft vorsichtig an die Tür der Freundin. Es fällt ihr immer noch schwer, zu glauben, dass Sabine ausgerechnet sie auserwählt hat. Sabine ist etwas älter als sie, hübsch und beliebt, trotzdem hat sie Lily zu ihrer engsten Vertrauten gemacht. Vielleicht, weil sie beide Außenseiter sind. Lily ist vor fünf Jahren von Plymouth nach St. Mary’s gezogen, und Sabine eine lettische Studentin, die nur den Sommer hier verbringt. Als Lily noch einmal anklopft, schwingt die Tür auf, was sie überrascht. Die Freundin schließt eigentlich immer ab, obwohl hier niemand etwas stehlen würde. Sie sagt, das geschehe aus Gewohnheit – in ihrem Teil von Riga werde häufig eingebrochen.
Lily ist verdutzt über den Anblick, der sie empfängt. Es sieht nicht so aus, als hätte ihre Freundin die letzte Nacht hier verbracht; ihr Bett ist ordentlich gemacht. Ihre Uniform ist über die Rückenlehne des Stuhls geworfen, die Schuhe wurden achtlos in die Ecke gekickt. Sabine hat versprochen, sie hier zu treffen, und sie hat Lily noch nie enttäuscht. Vielleicht ist ihr mysteriöser neuer Freund schuld daran. Lily will schon wieder gehen, als ihr Blick auf einen Zettel auf dem Fußboden fällt; die knallrote Schrift sticht ihr ins Auge. Irgendjemand muss Sabine eine Nachricht hinterlassen haben, aber wer sollte sie auffordern, um Mitternacht zum Leuchtturm zu kommen?
Als sie die kryptische Botschaft noch einmal liest, bekommt sie einen Riesenschreck – sie kennt diese Schrift. Für den Fall, dass noch jemand ins Zimmer kommt, bevor Sabine zurück ist, lässt sie den Zettel in ihrer Tasche verschwinden. Das Management legt allergrößten Wert darauf, den exzellenten Ruf des Hotels zu wahren, und sieht es nicht gern, wenn Angestellte lange aufbleiben, vor allem, wenn ihre Arbeit darunter leidet. Im Hinausgehen fällt Lilys Blick auf das pinkfarbene Telefon ihrer Freundin; ein Blinken zeigt an, dass neue Nachrichten eingegangen sind. Eine der Nummern auf dem Display gehört Lilys Bruder. Wie es aussieht, hat Harry das Blaue vom Himmel heruntergelogen. Er hat den Zettel unter Sabines Tür durchgeschoben und ihr gestern drei Textnachrichten geschickt. Wahrscheinlich ist ihre Freundin auch jetzt mit ihm zusammen und hat vor, die Arbeit zu schwänzen. Lily ist so wütend, dass sie das Telefon einsteckt, um es Sabine nach ihrer Schicht am Nachmittag in die Hand zu drücken. Von ihrer Freundin ist immer noch keine Spur zu sehen, der Flur ist leer. Lilys Herz schlägt zu schnell, als sie die Tür zuzieht und zurück zu ihrem Zimmer eilt.