Einen Großteil meines Abends verbringe ich damit, die Unterlagen über die Beweismittel wieder und wieder nach dem fehlenden Bindeglied zu durchsuchen, bis Madron um einundzwanzig Uhr anruft. Er klingt heiser vor Wut, weil er immer noch in der Bretagne festhängt und auch in den nächsten vierundzwanzig Stunden nicht herkommen kann. Mein Vorgesetzter ändert seine negative Einstellung auch dann nicht, als ich ihm erzähle, wie hart das Team arbeitet und dass ich Paul Keast festgenommen habe. Er ermahnt mich, mich genauestens an die Vorschriften zu halten, und beendet dann unser Gespräch. Wie gern hätte ich einen Boss, mit dem ich mögliche Strategien besprechen könnte, aber Madron wird immer kopfscheu, wenn Gefahr droht, und ich muss alle Entscheidungen allein treffen. Heute Abend lastet die Verantwortung schwer auf meinen Schultern; der Anblick der an der Eiche baumelnden Jade Finbury verfolgt mich. Die Pilotin war etwas jünger als ich; wer weiß, was sie noch alles hätte erreichen können, wenn sie nicht hätte sterben müssen.
Als ich nach Paul Keast in seiner Zelle sehe, ist er auf den Beinen und erwartet offensichtlich, sofort wieder auf freien Fuß gesetzt zu werden. Ich erkläre ihm, dass morgen ein Anwalt aus Penzance einfliegt, aber Keast tritt gegen die Wand und ist zu wütend, um mir in die Augen schauen zu können. Ob er nun schuldig ist oder unschuldig, seine Verhaftung hat unsere dreißigjährige Freundschaft, wie erwartet, beendet, und sein Bruder sieht das genauso. Nach seinem Einsatz bei der Seenotrettung kam Steve aufs Revier marschiert und hat mich wüst beschimpft, bis ich ihn wegen Beamtenbeleidigung verwarnen musste.
Ich will mich gerade wieder an den Schreibtisch setzen, als jemand an die Tür klopft. Elaine Rawle steht draußen und schenkt mir ein müdes Lächeln.
»Ich dachte, Sie hätten vielleicht gern ein Update, was Leo betrifft. Er bleibt heute Nacht bei uns, aber er ist in einem erbarmungswürdigen Zustand. Frank tröstet ihn, ich musste allerdings mal für ein paar Minuten an die Luft. Ich ertrage es nicht, mitanzusehen, wie er sich die Augen ausweint.«
»Wenn Sie wollen, können wir ihn auch woanders unterbringen.«
»Nein, nein, wir kümmern uns natürlich um ihn. Das ist hier so üblich. Er würde dasselbe für uns tun.« Ihr sanfter Blick verharrt auf meinem Gesicht. »Was die Seemannsglücksbringer angeht, hatte ich noch kein Glück, aber ich bleibe dran.«
»Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
Elaines Verhalten spiegelt den Grundsatz wider, nach dem die meisten Inselbewohner leben, nämlich, die Bedürfnisse anderer über die eigenen zu stellen. Die Scilly-Inseln mögen weit, weit weg vom Festland im Atlantik liegen, aber in einer Krise wird niemand allein gelassen. Nachdem sie gegangen ist, bleibe ich noch eine Weile in der Tür stehen und beobachte, wie die dunklen Wolken über den Nachthimmel jagen.
Als ich wieder im Büro bin, werfe ich noch einmal einen Blick auf die Magnettafel, aber die Müdigkeit lässt die Fotos und Diagramme zu dem Fall verschwimmen. Noch ungefähr zwanzig Insulaner haben kein wasserdichtes Alibi, weil sie allein leben, aber die Einzigen, die einen eindeutigen Grund hätten, den Opfern Böses zu wollen, sind Paul Keast, Leo Kernick und Harry Jago. Ich verstehe immer noch nicht, warum jemand die Mühe auf sich nehmen sollte, die Frauen wie Bräute auszustaffieren. Pulpit Rock, Halangy Beach und Holy Vale sind beliebte Kulissen für Hochzeitsfotos. Der Mörder muss fit genug sein, um seine Opfer erst überwältigen und sie dann in ein Fahrzeug laden zu können, das wir noch nicht finden konnten. Ich habe immer noch das sichere Gefühl, dass die Seemannsglücksbringer von Bedeutung sind, weil der Mörder großen Aufwand betrieben hat, um an sie heranzukommen. Und es ist frustrierend, dass Julian Power nicht herausfinden konnte, welche Familie sie dem Museum gestiftet hat.
Eddie kommt um kurz vor zweiundzwanzig Uhr zurück aufs Revier. Weil wir einen Gefangenen nicht unbeaufsichtigt in den Räumlichkeiten der Polizei zurücklassen dürfen, hat er angeboten, Keast heute Nacht zu bewachen. Es erleichtert mich, dass er sich freiwillig dafür hergibt, denn so habe ich Zeit, einen klaren Kopf zu bekommen. Finburys Tod – und meine Unfähigkeit, den Mörder zu finden – nagen schon den ganzen Tag an mir. Ich brauche Zeit, um allein über die Beweislage nachzudenken. Lily Jago geht noch immer nicht ans Telefon, aber ich kann mir denken, warum: Vielleicht möchte sie nicht befragt werden, weil ihr Bruder ihr gesagt hat, wo er sich versteckt. Ich werde sie morgen früh als Erstes im Hotel aufsuchen.
Der junge Sergeant setzt sich, nachdem er Fish and Chips von dem Imbisswagen am Porthcressa Beach auf seinem Schreibtisch abgestellt hat, scheint sich dann aber doch nicht für das Essen zu interessieren. Er hat sich Liz Gannicks Bericht von ihrer Untersuchung des Tatorts heute Morgen geschnappt und schaut ihn noch einmal durch. Der letzte Mord tut seinem Arbeitseifer offensichtlich keinen Abbruch; er nimmt kaum wahr, dass ich im Aufbruch bin.
»Arbeiten Sie aber nicht die ganze Nacht durch, ja, Eddie?«
»Ich lege Pausen ein, keine Sorge.«
Seine Antwort überzeugt mich nicht. Eddie hat den Ehrgeiz, jeden Wettlauf zu gewinnen, ganz egal, wie viel Mühe es kostet. Er hat noch nicht begriffen, dass man bei Mordermittlungen Zeit braucht, um seine Gedanken zu sortieren – und eine gute Portion Glück.
Als ich nach draußen trete, hat sich die Luft abgekühlt; der kalte Atem des Meeres ist nach Wochen drückender Hitze eine willkommene Erleichterung. Ich bin froh, die Ermittlung für eine Weile hinter mir lassen zu können, habe aber keine Lust, ins Hotel zurückzukehren. Ich bin auf dem Weg zum Kai, als jemand den Hügel hinunterkommt. Er geht vornübergebeugt, als trüge er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern, allerdings kann ich sein Gesicht im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung nicht sehen. Erst, als er die Straße überquert, erkenne ich Pfarrer Michael.
»Waren Sie die ganze Zeit bei Hannah, Herr Pfarrer?«, rufe ich.
Er bleibt mit angespannter Miene neben mir stehen. »Sie ist so krank, da konnte ich nicht einfach weggehen.«
»Geht es ihr denn jetzt besser?«
»Ihr Zustand ist unverändert, aber es heißt, den Gehörsinn verlieren wir als letzten. Ich hoffe, es hat sie getröstet, aus der Bibel vorgelesen zu bekommen.«
»Ja, bestimmt. Die Psalmen sind sehr schön, nicht wahr?«
»Ja, das sind meine Lieblingstexte. Die meisten sind reine Poesie.«
»Sind Sie auf dem Weg nach Hause?«
»Ja, aber vorher gehe ich noch auf einen Drink ins Mermaid Inn. Ich genehmige mir nur selten einen, aber heute mache ich eine Ausnahme.«
»Darf ich Sie begleiten?«
»Ja, bitte, ich freue mich über Gesellschaft.«
Der Priester hält den Blick auf den Gehsteig gerichtet, das Meer vor uns und die abgelegenen Inseln, die wie ferne Sterne darin funkeln, nimmt er gar nicht wahr. Erst, als wir am Mermaid Inn ankommen, scheint er sich allmählich zu entspannen. Es ist der kleinste, lauteste Pub auf St. Mary’s, und in meiner Jugend war er meine Lieblingskneipe. Der mit Holzdielen ausgelegte Gastraum ist sehr übersichtlich. Gegenstände und Fundstücke aus der Seefahrt, wie Schiffskompasse, Haifischzähne und Elfenbeinschnitzereien aus der Zeit, in der der Walfang noch erlaubt war, zieren die Wände. Am Wochenende ist es hier brechend voll, aber heute Abend sitzen nur ein paar Alte auf Barhockern am Tresen und unterhalten sich grummelnd.
Pfarrer Michael schaut mich dankbar an, als ich ein großes Bier vor ihn stelle. »Genau das, was ich jetzt brauche.«
»Ich hab sie noch nie Alkohol trinken sehen, Herr Pfarrer.«
»Bitte sagen Sie Michael. Ich nehme nicht an, dass Sie sich noch an meine wilden Zeiten erinnern.«
»Sie sind hier aufgewachsen, oder?«
»Meine Eltern hatten eine Blumenfarm auf St. Mary’s, aber draußen auf den Feldern zu schuften, das passte nicht zu meinem Ehrgeiz. Mein Plan war, auf dem Festland als Geschäftsmann schnell reich zu werden, und alle, die was anderes gesagt haben, habe ich verdroschen.« Er lacht trocken. »Sie können sich bestimmt vorstellen, was meine arme Familie mit mir durchgemacht hat.«
»Heute wirken Sie ja ziemlich friedfertig.«
»Weil ich das alles hinter mir gelassen habe. Als Jugendlicher habe ich mich so viel geprügelt, dass die Leute mir rieten, mit dem Boxen anzufangen.«
»Aber stattdessen haben Sie Gott gefunden?«
»Nein, es war anders rum.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er ist zu mir gekommen. Noch bevor ich bereit war. Ich bin mitten in der Nacht aufgewacht, und er füllte mit seiner Anwesenheit das Zimmer aus. Es war beängstigend und schön zugleich.« Seine Leidenschaftlichkeit lässt ihn jünger aussehen, als er ist. »Ich hatte nicht mal ansatzweise an Gott geglaubt, aber danach war ich von jetzt auf gleich Feuer und Flamme für ihn.«
»So, wie wenn man sich verliebt?«
»Ich hatte eine Menge Sünden abzugelten, aber meine Schuld fiel einfach von mir ab. Die Katholiken nennen das: von göttlichem Licht berührt werden. Schade, dass ich es danach nie wieder gesehen habe.«
»Warum halten Sie dem Priesteramt die Treue?«
»Ich kann nicht einfach hinschmeißen, selbst wenn ich hin und wieder in meinem Glauben schwanke. Wir erleben alle unsere Prüfungen, oder nicht?«
»Ja, so hat es sich heute bei mir auch angefühlt.«
Sein Blick ist so durchdringend, als würde er bis auf den Grund meiner Seele schauen. »Möchten Sie, dass ich für Sie bete, Ben?«
»Beten Sie lieber dafür, dass ich den Mistkerl finde, der diese Morde begeht.«
»Darauf trinke ich.« Er zögert, bevor er das Glas hebt. »Aber ich hörte, heute sei jemand verhaftet worden. Haben Sie Ihren Mann also doch noch nicht gefunden?«
»Eine Verhaftung ist keine Verurteilung. Ich muss noch dahinterkommen, warum der Mörder seine Opfer als Bräute verkleidet.«
»Das ergibt keinen Sinn.« Er starrt auf den Tisch. »Ich habe schon Hunderte von Ehen geschlossen, und in der Regel sind es die Bräute, die sich Gedanken um das Äußere machen, nicht die Männer. Die Bräutigame sind so verliebt, dass ihre Partnerinnen auch in Jeans vor den Altar treten könnten; das wäre ihnen egal.«
»Sie glauben, es ist eine Frau?«
»Oder ein Mann, der seine Chance verpasst hat.« Der Pfarrer klingt wehmütig. »Er könnte eifersüchtig auf jeden sein, der einen Ehering trägt.«
»Haben Sie je mit dem Gedanken gespielt, zu heiraten, bevor Sie Priester wurden?«
»Ich war einmal bis über beide Ohren in eine Frau verliebt. In meinen Augen war sie perfekt, auch wenn sie Probleme hatte. Eine Musikstudentin mit einer großen Leidenschaft für die Inseln. Das Einzige, was mich damit versöhnt hat, sie verloren zu haben, war das Mitgefühl, das ich von anderen deswegen erfahren habe. Aber das erzähle ich Ihnen ein andermal.«
Aus den Worten des Priesters spricht Einsamkeit. Ich verabschiede mich, und als ich mich noch einmal umdrehe, wird mir klar, dass Pfarrer Michael einen hohen Preis für seinen Glauben bezahlt. Er hat den Kopf zwischen die Schultern gezogen und klammert sich an sein Glas.