Es ist dreiundzwanzig Uhr, als ich, noch immer voller nervöser Energie, zum Hotel zurückgehe. Das Gebäude leuchtet im Dunkeln wie ein Geisterschiff, die Flure sind leer, aber die unheimliche Stille wirkt nicht beruhigend auf mich. Ich könnte ein paar Dutzend Liegestütze machen oder den Fernseher einschalten, um die Bilder von der toten Jade aus meinem Kopf zu vertreiben, doch weder das eine noch das andere erscheint mir sinnvoll. Ich will mir gerade ein Bad einlassen, als von unten Shadows durchdringendes Geheul ertönt, das immer lauter wird. Nina muss ihn aus irgendeinem Grund allein gelassen haben. Aus bitterer Erfahrung weiß ich, dass dagegen nur sofortiges Einschreiten hilft, sonst zerkratzt er am Ende noch die Hotelmöbel.

Im Erdgeschoss ist Shadows Gejaule noch markerschütternder. Nina öffnet mir im Bademantel die Tür, als ich anklopfe, ihre Miene ist panisch.

»Folterst du ihn?«, frage ich. »Ich könnte es dir nicht verübeln; er kann eine echte Nervensäge sein.«

»Ich habe ihn nur fünf Minuten allein gelassen, um zu duschen.«

»Er erträgt sich selbst nicht.« Shadow springt zur Begrüßung an mir hoch, setzt sein Geheule dann aber fort. »Hast du ihm was zu fressen gegeben?«

»Dann will er wohl an die frische Luft.« Ich schiebe das Fenster hoch, und Shadow springt, ohne zu zögern, nach draußen. »Nur Hunger oder Klaustrophobie bringen ihn so in Rage.«

»Glücklicherweise verstehst du ihn.«

Nina bleibt auf Distanz. Sie steht auf der anderen Seite des Zimmers, ihre Haare sind noch nass vom Waschen. Ihr unverwandter Blick lockt mich an, und auch die viele nackte Haut von ihr, die danach schreit, berührt zu werden.

»Schau mich nicht so an, Nina.«

»Warum nicht?«

»Das hat uns schon mal Scherereien eingebracht.«

»Ich hab dich schon immer gern angesehen. Warum sollte ich damit aufhören?«

Ich gehe zu ihr, aber sie weicht nicht zurück, und als sie ihre Hände auf meine Schultern legt, gibt es für mich kein Halten mehr. Ihre Augen sind weit aufgerissen, als ich sie zum ersten Mal seit fast zwei Jahren küsse. Sie schmiegt sich an mich und zieht mich näher zu sich. Die Konturen ihres Körpers sind in mein Gedächtnis eingeschrieben, aber ihre Haut ist noch weicher, als ich sie in Erinnerung habe, ihre Berührung drängender. Sie macht sich an den Knöpfen meines Hemdes zu schaffen, ihr Atem streift warm über meinen Hals. Ich habe es leichter: Ich brauche nur ihren Bademantel zu öffnen. Das Denken kann ich einstellen, denn sobald sie nackt in meinen Armen liegt, funktioniert mein Körper auf Autopilot. Ich hatte vergessen, wie schön sie ist; diese langen Beinen, die nirgends zu enden scheinen. Ich versuche, langsam zu machen, aber das ist unmöglich. Ich sehe, wie

»Das war nicht gerade meine Bestleistung.«

»Für mich war’s genau richtig«, antwortet sie. »Vielleicht sollten wir beim nächsten Mal versuchen, es bis ins Bett zu schaffen.«

Wir trinken Wein aus der Minibar und reden über das letzte Jahr. Nina gesteht mir, dass die Rückkehr nach Bristol schwieriger war, als sie gedacht hatte. In jedem Zimmer lagen Sachen ihres Mannes, und im Schrank hingen noch seine Kleider. Sie hat einen Monat bei ihren Großeltern in Italien verbracht, und die langen sonnigen Tage haben ihr geholfen. Während dieses Rom-Aufenthalts hat sie auch beschlossen, eine andere Berufslaufbahn zu starten.

»Es hat mich schon immer fasziniert, wie andere Leute denken«, sagt sie. »Darum dachte ich, das mit der Therapie wäre genau das Richtige für mich.«

»Ich bin ja ein offenes Buch für dich.« Es hat mich schon immer eingeschüchtert, dass ihren blassgoldenen Augen anscheinend nichts entgeht.

»Ich kann sehen, dass diese Ermittlung dich sehr belastet.«

»Was treibt einen Mörder dazu, junge Frauen zu töten und dann als Bräute zu verkleiden?«

»Vielleicht glaubt er, dass sie ihm dann gehören«, schlägt sie schlaftrunken vor.

Sie schlägt die Augen auf, plötzlich ist sie wieder hellwach. »Was glaubst du?«

»Ich kann keine Gedanken lesen, also sag’s mir einfach.«

Nina antwortet mir nicht mit Worten, sondern mit Taten. Durchs offene Fenster strömt silbriges Mondlicht herein, als sie sich auf mich setzt und mich in die Kissen zurückdrückt. Das zweite Mal ist befriedigender, langsamer und intensiver. Ich schlafe, ihre Arme um den Nacken, ein und werde nur noch ein Mal wach, als Shadow mitten in der Nacht durchs Fenster hereingesprungen kommt. Er sieht meine Kleider auf dem Boden liegen und dreht sich dreimal um die eigene Achse, bevor er sie als Matratze benutzt.

Beim ersten Tageslicht öffne ich blinzend die Augen. Nina rührt sich nicht, als ich ihr einen Kuss auf die Schulter gebe, doch Shadow steht kerzengerade da und verfolgt jede meiner Bewegungen kritisch mit seinen eisblauen Augen.

»Sie gehört nicht dir, mein Freund. Du bist ein Hund, und sie ist ein Mensch«, murmele ich.

Ich lasse den Blick durch den Raum schweifen, in dem Ninas komplexe Persönlichkeit gut abgebildet ist: Auf dem Nachttisch liegt eine Ausgabe von Dickens’ Dombey und Sohn, ihre Geige steht in der Ecke, daneben ein psychologisches Fachbuch, und auf der Heizung hängt ein gelber Bikini. Nina ist so vielseitig, dass sie sich in keine Schublade stecken lässt, und ihr geheimnisvolles Lächeln ist einfach Teil ihres Charmes. Wenn sie wegen mir zurückgekommen ist, wird sie es niemals zugeben. Fest steht nur, dass unsere körperliche Anziehung jetzt noch größer ist.

Nina schläft noch, ihre Atemzüge sind langsam und

In meinem Zimmer bleibe ich lange unter der Dusche stehen. An Ninas Situation wird sich nichts ändern, egal, wie viel Zeit vergeht. Ich konkurriere weiterhin mit einem Geist, und meine Chancen stehen nicht allzu gut, denn im Vergleich mit der harten Realität der Gegenwart werden Erinnerungen mit der Zeit verklärt. Nina wird am Sonntagmorgen nach Bristol zurückkehren, doch jetzt ist nicht die Zeit, um über die Zukunft nachzudenken. Ich darf mich nicht von dem Fall ablenken lassen.