Freitag, 9. August

Um halb acht gehe ich in die Hotelküche, um nach Lily Jago zu suchen. Die Mitarbeiter sind dabei, den Boden zu schrubben und die Kühlschränke auszuwaschen. Einige wenige Köche schneiden Tomaten und braten Bacon für die kleine Gästeschar. Der Küchenchef reagiert verärgert, als ich mich nach Lily erkundige.

»Lily ist schon seit einer halben Stunde überfällig. Sie können sich vorstellen, wie sehr mich das freut.«

»Bitte richten Sie ihr aus, dass sie mich anrufen soll, wenn sie kommt.«

Er nickt kurz und wendet seine Aufmerksamkeit dann wieder den Eiern zu, die er verquirlt, als wäre die Herstellung eines perfekten Omeletts eine Sache von globaler Wichtigkeit. Möglicherweise hat Lily es sich ja anders überlegt und ist nach Hause zurückgekehrt, aber Harry schien sich ziemlich sicher zu sein, dass sie ihn als hoffnungslosen Fall abgeschrieben hat. Jetzt, wo ihr Bruder abgehauen ist, muss ich dringend mit ihr sprechen. Es wird Zeit, dass sie preisgibt, was sie vor mir verbirgt.

Die Wohnung der Polkerris’ liegt in einem abgelegenen Teil des Hotels, den Eddie nicht durchsucht hat, als er die

»Tut mir leid, dass ich dich so früh störe, Tom.« Ich zeige auf seine Sportschuhe. »Warst du laufen?«

»Ich versuche immer, den Fitnessraum zu nutzen, bevor die Gäste aufstehen. Stimmt irgendwas nicht?«

»Lily Jago ist nicht bei der Arbeit erschienen.«

Er zieht die Augenbrauen hoch. »Sie hat sich freigenommen, weil sie Zeit für ihren Bruder haben wollte, aber heute sollte sie eigentlich wieder da sein.«

»Kann ich bitte in ihrem Zimmer nachsehen?«

Polkerris scheint von der Idee nicht sehr angetan zu sein, ringt sich aber dennoch ein höfliches Lächeln ab. »Du musst allerdings warten, bis ich mich umgezogen habe. Es geht nicht, dass unsere Gäste mich so sehen.«

Sein Wohnzimmer befindet sich in einem der Türme der Festung, von dort aus hat man einen guten Blick auf den Mitarbeitertrakt und auf die kleineren Inseln am Horizont. In der Ecke liegt ein Stapel Schmutzwäsche, über die Möbel sind Zeitungen verstreut, und auf dem Tisch stapeln sich benutzte Kaffeetassen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass

»Ist Rhianna schon im Büro?«

Sein Blick wandert zum Fenster. »Wir haben so lange gearbeitet, dass sie heute mal ausschläft.« Er scheint es plötzlich eilig zu haben.

Seine Abwehrhaltung erregt meinen Verdacht. »Ich müsste sie aber bitte auch sprechen. Es könnte ja sein, dass sie Lily vor kurzem gesehen hat.«

»Ich möchte sie nur ungern wecken.«

»Sie ist doch fürs Personal zuständig, oder? Es dauert auch nicht lange.«

Polkerris schweigt einen Moment, bevor er antwortet. »Rhianna ist gar nicht hier.«

»Das dachte ich mir. Warum lügst du mich an, Tom?« Ich setze mich aufs Sofa und bin fest entschlossen, erst wieder aufzustehen, wenn ich eine überzeugende Erklärung von ihm gehört habe.

»Wir lassen uns scheiden. Sie wohnt gerade in einer Gästesuite, die bald renoviert wird; von der Trennung weiß niemand.«

»Warum nicht?«

»Weil es die Mitarbeiter ablenken würde. Wir müssen die bevorstehende Prüfung mit Bravour bestehen, andernfalls bringt es uns beiden berufliche Nachteile.«

»Was ist denn schiefgelaufen zwischen euch?«

Meine direkte Frage irritiert ihn. »Bei uns war schon kurz nach der Hochzeit die Luft raus. Unsere Familien haben ein Vermögen investiert. Es sollte ein ganz besonderer Tag werden. Rhianna wollte alles absolut perfekt haben.«

»Ich denke schon.« Er zögert. »Es fehlte was; so ging es nicht weiter.«

Polkerris sieht niedergeschlagen aus, als wir aufbrechen, um Lily Jago zu suchen, aber kaum sind wir im Erdgeschoss, ist er wie ausgewechselt. Jeder Mitarbeiter, an dem wir vorbeikommen, wird von ihm fröhlich gegrüßt. Polkerris verbirgt den Kummer über das Ende seiner zehnjährigen Beziehung derart gut, dass er wie ein routinierter Schauspieler wirkt, der eine neue Rolle probt. Mir kommt die Idee, dass er Sabine Bertans in der Nacht ihres Todes problemlos über die Feuertreppe gefolgt sein kann. Jetzt, wo er allein lebt, kann er schalten und walten, wie er will.

»Soll ich’s noch mal auf Lilys Handy probieren?«, fragt er.

»Ja, bitte. Ich durchsuche in der Zeit ihr Zimmer.«

Die junge Frau scheint all ihre Habseligkeiten in diesen kleinen Raum gequetscht zu haben. An der Wand über dem Bett hängen Fotos aus der Zeit, als ihre Familie noch intakt war. Auf dem Boden liegt ein geflochtener Bastteppich, und in ihrem Bett ist eine ganze Schar von Stofftieren verteilt, so als sehnte sie sich nach den unkomplizierten Tagen ihrer Kindheit zurück.

»Sie geht nicht dran«, sagt Polkerris. »Lily hat noch nie eine Schicht verpasst.«

Nachdem ich gesehen habe, wie gut er seine wahren Gefühle verschleiern kann, wage ich nicht zu sagen, ob die Panik in der Miene des Hotelmanagers echt oder gespielt ist. Ich lasse meinen Blick noch einmal durch Lilys Zimmer gleiten und stutze, als ich etwas auf dem Nachttisch liegen sehe: ein knallpinkes Handy mit Blumenmuster.

»Nach Ihnen suche ich, Sir«, sagt er, bevor er mir einen braunen Umschlag reicht. »Das wurde heute Nacht für Sie abgegeben.«

Ich weiß sofort, dass er von dem Mörder stammt, aber weil Tom Polkerris mich beobachtet, verziehe ich keine Miene, während ich das Polaroidfoto von Lily aus dem Umschlag ziehe. Diesmal es ist ein anderes Bild. Es wurde aus der Ferne aufgenommen und zeigt Lily, wie sie aus einem Fenster des Hotelrestaurants schaut. Der Mörder muss auf dem Hotelgelände gestanden und sie unbemerkt fotografiert haben. Er lässt sich Zeit mit seinem neuen Opfer; er hat noch nicht einmal damit begonnen, sie in eine perfekte Braut zu verwandeln, aber auf der Rückseite des Fotos steht: »So weiß, so zart und ganz aus Seide, für alle eine Augenweide.«

»Bring mich zu Rhianna, Tom.«

Polkerris tastet nach seinem Handy. »Lass mich zuerst bei ihr anrufen.«

Ich reiße ihm das Telefon aus der Hand. »Jetzt sofort, sonst verhafte ich dich wegen Behinderung der Justiz.«

Meine Drohung zeigt die gewünschte Wirkung; Polkerris dreht sich auf dem Absatz um und führt mich schnellen Schrittes zu seiner Ex.