Lily weiß, dass ein neuer Tag angebrochen ist, weil graues Licht durch die Ritzen in dem vernagelten Fenster fällt. Sie hat einen schweren Kopf, doch ihre Sinne sind hellwach. Sie riecht die Farbe an den rauen Wänden der Hütte und hört Seemöwen schreien, aber sie hat sich noch nie so allein gefühlt. Sogar das Meer hat sie verlassen. Sie hört die Wellen nicht mehr an den Strand schlagen. Jetzt muss Ebbe sein; die Zeit verfliegt, während sie mal bei Bewusstsein ist und mal nicht.

Lily dreht ihre Hände, aber durch die Bewegung werden ihre Fesseln nur noch enger. Sie blickt sich um, sucht nach einer Möglichkeit, sich zu befreien. Sie kann die Fessel jedoch nur lockern, wenn sie ihre Hände an einer splittrigen Kante des Tisches reibt. Das Seil scheuert über ihre Haut, doch sie gibt nicht auf.

»Ich muss nach Hause«, murmelt sie.

Sie will nicht so sterben wie Sabine, ihr Leben hat doch noch gar nicht richtig angefangen. Ihr Blick bleibt an dem Spiegel hängen, und sie starrt das Brautkleid an. Früher hat sie davon geträumt, wie eine Märchenprinzessin zum Altar zu schreiten, aber ihre Mutter hat sie gewarnt, dass Hochzeiten in Weiß nicht immer Glück bringen. Ihre Gedanken kommen und gehen, während ihre Schmerzen stärker

Lilys Gedanken rasen, als sie draußen knirschende Schritte auf dem Kies hört; die Tür wird aufgeschlossen, und diesiges Licht strömt in die Hütte. Sie hat zu viel Angst, um Luft zu holen. Instinktiv versucht sie, ihre Hände aus der Fessel herauszuziehen.

»Wer sind Sie?«, fragt sie. Ihre Stimme ist nur ein heiseres Krächzen, doch sie bekommt keine Antwort, und dann werden ihr wieder die Augen verbunden.

Er steht so dicht neben ihr, dass sie ihn leise vor sich hinsingen hören kann. Den Text versteht sie nicht, aber im Refrain geht es um eine schöne Braut. Seine Stimme klingt schrill, fast schon feminin. Als der Gesang endet, spürt Lily, dass sie angeschaut wird. Beinahe hätte sie panisch aufgeschrien, aber sie schluckt, damit ihr kein Laut entweicht.

»Bitte lassen Sie mich gehen. Ich hab solche Angst.«

Sie spürt eine Hand auf ihrer Schulter, dann wird ihr eine Flasche Wasser an die Lippen gehalten. Sie schluckt gierig, denn sie ist durstig, nachdem sie stundenlang nicht trinken durfte. Jemand hält ihren Kopf fest, damit sie sich nicht verschluckt. Die Geste ist so sanft, dass Lily nicht glauben kann, dass das der Mörder ist.

»Warum tun Sie das?«, fragt sie. »Zwingt jemand Sie dazu?«

Die Hand wird zurückgezogen, und Lily hält die Luft an, wartet auf einen Schlag, der aber nicht kommt. Sie hört ein leises, klägliches Weinen.

Sie bekommt keine Antwort, aber die Hände streichen ihr zärtlich über das Schlüsselbein. Lily zuckt zusammen, als ihr ein kaltes Stück Metall umgehängt wird. Der Mörder lässt sich Zeit beim Schließen des Kettenverschlusses; seine Tränen sind genauso schnell versiegt, wie sie gekommen sind. Als er die Hütte durchquert, klingen seine Schritte schwer auf dem Holzboden. Bei der nächsten Berührung des Mörders hämmert Lilys Herz wild gegen ihre Brust. Er knebelt sie mit einem Wattebausch, der ihr das Atmen erschwert. Ihre Hände werden noch fester zusammengebunden, dann wird sie nach draußen gezerrt.

Lily wird in einen engen Raum gequetscht. Ihre Knie drücken gegen die Brust, aber sie kann nicht um Hilfe schreien. Erst, als der Motor angelassen wird, dessen Vibrationen ihr durch und durch gehen, begreift sie, dass sie an einen anderen Ort gebracht wird. Die Erschöpfung fordert ihren Tribut; vor lauter Angst kann sie keinen klaren Gedanken fassen.