Nach dem, was Rhianna über ihre Beziehung behauptet hat, würde ich am liebsten sofort Paul Keast vernehmen, doch Jeff Pendelows Worte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Der Mörder glaubt, dass seine Visitenkarten eine mächtige Symbolkraft besitzen, und der einzige Insulaner mit einer großen Liebe zu historischen Gegenständen ist Julian Power. Bevor ich irgendetwas anderes tue, muss ich dafür sorgen, dass ich seinen Namen von der Liste der Verdächtigen streichen kann. Doch als ich zum Büro des Reiseunternehmens komme, ist der Kai wie ausgestorben; lediglich einige Seemöwen liefern sich erbitterte Revierkämpfe. Ich bleibe vor dem Gebäude stehen, das mir Schutz vor dem stürmischen Wind bietet. Die Lage von Powers Büro ist ideal für die Zwecke des Mörders: Jedes Mal, wenn eine Fähre anlegt, kann man von dort aus die eintreffenden Besucherinnen beobachten.

Power öffnet mir, als ich ihn in seinem Haus neben dem Tregarthen Hotel aufsuche. Auf meine Ankündigung, dass ich noch mal eine gründlichere Durchsuchung durchführen müsse, reagiert er verärgert.

»Ihre Beamten haben hier doch schon vor zwei Tagen alles auf den Kopf gestellt.«

»Es wird nicht lange dauern, versprochen. Danach

»Und was, wenn ich mich weigere?«

»Dann beantrage ich telefonisch einen Durchsuchungsbeschluss.«

Er seufzt genervt. »Jeder Raum hier enthält Gegenstände von hohem historischem Wert. Und viele davon sind zerbrechlich.«

»Ich verstehe, Mr. Power. Ich werde nichts beschädigen.«

Der Mann scheint zu befürchten, dass ich seine Schätze quer durchs Zimmer werfe. Er weicht mir nicht von der Seite, was seinen Ruf als Sonderling bestätigt, aber ich erinnere mich daran, dass er noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist. Seine gereizte, herablassende Art macht ihn noch nicht zum Mörder.

Welches Ausmaß Powers Sammelleidenschaft hat, wird erst richtig deutlich, als ich in den ersten Stock hochgehe. In den unmöblierten Zimmern stehen überall hohe Stapel mit Pappkartons, doch als ich in einige hineinschaue, enthalten sie nur angelaufenes Silberbesteck, Porzellanteile und Art-déco-Leuchten. Power ist der Platz ausgegangen, aber sein Appetit auf Antiquitäten ist noch lange nicht gesättigt.

Wenn ich hier alles umkrempeln wollte, würde ich Wochen brauchen. Ich beschränke mich auf die Suche nach Orten, an denen er ein Opfer versteckt halten könnte, doch angesichts von Powers Sammelleidenschaft halte ich das ohnehin für eher unwahrscheinlich. Sein Schlafzimmer ist so vollgestopft, dass er jede Nacht über Kisten steigen muss, um ins Bett zu gelangen. Als wir zurück nach unten gehen, würdigt er mich keines Blickes mehr, entweder aus Wut oder aus Verlegenheit.

»Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass ich das Bestandsbuch bereits zweimal durchgegangen bin.«

»Darf ich es bitte mal sehen?«

Er führt mich leise grummelnd zu seinem Büro. Mein Blick bleibt einen Moment lang an seiner Sammlung von Federkielen und Tintenfässern hängen, die auf einem Wandregal ausgestellt ist. Dann nehme ich das staubige, in Leder gebundene Buch in Augenschein, das mit Bändern zusammengehalten wird. Die Bindung ist wegen des Alters und des häufigen Gebrauchs auseinandergefallen.

»Ich habe Stunden gebraucht, um es von vorn bis hinten durchzulesen«, klagt er.

Erst als ich es aufschlage, wird mir klar, was für eine Herausforderung er dabei zu meistern hatte. Die Handschrift ist so klein, dass mich die Entzifferung eines Eintrags über eine 1932 gestiftete Schnitzarbeit aus Walknochen mehrere Minuten kostet.

»Kann ich mir das mal eine Weile ausborgen?«

Power schaut mich entsetzt an. »Dieses Buch ist unersetzlich.«

»Ich passe gut darauf auf. Tut mir leid, dass ich Sie noch einmal belästigen musste; ich wusste nicht, dass Sie so eine riesige Sammlung haben.«

Seine Schultern entspannen sich ein wenig. »Irgendwann wird das alles ausgestellt. Das Museum ist der einzige Begünstigte in meinem Testament.«

Auf Powers Gesicht erscheint das erste von Herzen

Als ich zurück aufs Revier komme, versucht Lawrie Deane gerade, Paul Keasts Anwältin zu besänftigen, die inzwischen vom Festland angereist ist. Mary Tunstall sieht aus, als stünde sie kurz vor dem Pensionsalter, und ignoriert den entspannten Dresscode, der auf der Insel herrscht. Sie trägt einen Nadelstreifenanzug und hat ihr gefärbtes kastanienbraunes Haar streng zurückgekämmt, so dass ihr säuerlicher Gesichtsausdruck gut zur Geltung kommt. Kaum bin ich zur Tür reingekommen, schleudert sie mir bereits ihren Ärger über die Verschiebung der Vernehmung entgegen. Offenbar ist für die nächsten zwölf Stunden rekordverdächtig viel Regen vorhergesagt, und sie muss zurück aufs Festland, bevor die angekündigte Sintflut einsetzt. Als sie erfährt, dass Liz Gannick in Keasts Farmhaus eine kriminaltechnische Untersuchung durchführt, verwandelt sich ihr Ärger sogar in helle Empörung, obwohl eine schriftliche Einwilligung der Brüder vorliegt.

Als Paul schließlich in Madrons Büro geführt wird, sieht er verletzlicher aus als zuvor. Er ist unrasiert, und die Schatten unter seinen Augen lassen erkennen, dass er eine schlaflose Nacht hinter sich hat. Tunstall wirkt zufrieden, als er anfangs alle Fragen mit einem knappen »kein Kommentar« beantwortet. Seine Miene verändert sich erst, als ich mich nach seiner Beziehung zu Rhianna Polkerris erkundige.

»Sie glaubt an mich«, sagt er. »Steve kann aufs Festland ziehen, und wir bleiben zusammen auf der Farm.«

»Ich habe in ihrem Zimmer Dutzende

»Tom Polkerris macht so was vielleicht, ich nicht. Er behandelt Frauen wie Dreck: Der Schwachkopf hat Rhianna jahrelang gedemütigt.«

Die Verachtung im Gesicht meines alten Freundes könnte gespielt sein, aber seine Wut wirkt echt. Sie könnte daher rühren, dass seine Mordserie unterbrochen wurde, oder daher, dass er sich jahrelang zu wenig beachtet gefühlt hat. Bis jetzt stand er immer im Schatten seines selbstbewussten Bruders. Doch Liz Gannick hat im Farmhaus noch keinen belastbaren Beweis dafür gefunden, dass er in die Sache verwickelt ist, und seine Beteiligung erscheint zunehmend unsicherer.

Unsere Zusammenkunft endet mit dem Hinweis der Anwältin, dass der zuständige Officer sich einer Gesetzesübertretung schuldig macht, wenn er ihren Mandanten nicht spätestens nach sechsunddreißig Stunden aus der U-Haft entlässt, es sei denn, die Polizei von Cornwall erteilt eine Sondergenehmigung.

Tunstalls High Heels hämmern einen Siegesmarsch aufs Linoleum, als sie schließlich geht, was mich daran erinnert, dass Anwälte sich in einem seltsamen moralischen Universum bewegen. Für Geld verteidigen sie jeden Verdächtigen, sogar wenn die Beweise gegen ihn erdrückend sind. Ich schaue Paul in die Augen, bevor er in seine Zelle zurückgeführt wird, kann aber nicht erkennen, ob er froh oder beschämt darüber ist, die meisten meiner Fragen über die Todesumstände der Frauen abgeblockt zu haben. Ich bleibe allein am Fenster zurück und betrachte die über den Himmel jagenden Regenwolken. Madrons Büro hat sich noch nie leerer angefühlt.