Es ist vierzehn Uhr, als ich wieder zu Eddie stoße. Die gute Laune des Sergeant scheint verflogen zu sein.
»Gannick hat gerade angerufen«, sagt er. »Im Farmhaus gibt es keine Turnschuhe, die mit dem Abdruck in Holy Vale übereinstimmen, und das Blut in Jades Haus ist nicht das von Paul Keast.«
»Wenn wir keine neuen Indizien finden, muss ich ihn bis heute Abend zweiundzwanzig Uhr auf freien Fuß setzen.« Paul hatte möglicherweise einen Hass auf Jade und Sabine, weil sie ihn zurückgewiesen haben, aber das beweist natürlich nicht, dass er ihnen etwas angetan hat, und der Umstand, dass er eine neue Beziehung eingegangen ist, bringt sein Motiv für die Mordserie ins Wanken.
Ich werfe erneut einen Blick auf die Liste der Verdächtigen, und Eddie schaut mir über die Schulter. Tom Polkerris steht noch immer darauf. Er schien von Hochzeiten in Weiß nicht mehr allzu viel zu halten, als ich mit ihm gesprochen habe, aber vielleicht reicht seine Obsession ja tiefer als die von seiner Ex. Außerdem konnte er Sabine und Lily im Hotel perfekt beobachten. Und es ist nicht auszuschließen, dass er immer noch von der Grausamkeit getrieben ist, die er als Kind an den Tag gelegt hat.
»Was machen wir jetzt, Boss?«, fragt Eddie.
»Sprechen wir zuerst mit Polkerris.«
Isla bleibt auf dem Revier und sieht Liz Gannicks neuesten Bericht durch. Lawrie Deane unterstützt auf der Keast-Farm weiterhin die Chefkriminaltechnikerin. Ich werde meine Leute bald zusammentrommeln müssen, um mit ihnen die Sicherheitsmaßnahmen zu besprechen, die in dieser Nacht getroffen werden müssen. Jeder hier auf St. Mary’s braucht unseren Schutz, inklusive Lily Jago. Sollte die junge Frau noch leben, wird der Mörder Vorbereitungen treffen, damit er ihre Leiche morgen früh zur Schau stellen kann.
Da Tom Polkerris im Rezeptionsbereich des Star Castle Hotels nirgends zu sehen ist, gehen Eddie und ich den engen Flur entlang. Ich klopfe an die Tür seines Büros, und als ich sie danach sofort aufreiße, hat Polkerris seine Hand unter die Bluse einer der Hotelkellnerinnen geschoben und küsst sie. Die junge Frau wird knallrot und huscht davon. Ich kann kaum fassen, dass wir so prompt einen Beweis für Toms Untreue geliefert bekommen, aber vielleicht benimmt er sich ja jeden Tag so. Nachdem die Kellnerin gegangen ist, bleibt er am Fenster stehen und schaut uns wütend an. Unter anderen Umständen wäre diese Situation zum Lachen, aber mein Sinn für Humor ist mir in den letzten Tagen abhandengekommen.
»Wie alt ist sie, Tom?«, frage ich. »Siebzehn?«
»Alt genug, um zu wissen, was sie will«, sagt er. »Wir hatten ein ganz normales Mitarbeitergespräch, und dann hat sie mich plötzlich total angemacht.«
»Muss ja schön sein, wenn man so unwiderstehlich ist«, grummelt Eddie.
Polkerris hält die Hände hoch. »Das war ein Fehler, okay? Ich stehe momentan ziemlich unter Druck. Dafür können Sie mich aber nicht verhaften.«
Er setzt sich aufs Sofa. Er ist nun wieder ganz der smarte Manager, sein teurer Anzug hat nicht eine einzige Falte.
»Wie oft passiert so was?«
»Wie bitte?«
»Du stellst dauernd Leute auf Zeit ein, überwiegend Frauen, die jung und leicht zu beeindrucken sind. Das ist Machtmissbrauch.«
»Ich habe gegen kein Gesetz verstoßen.«
»Deine Fingerabdrücke waren überall in Sabines Zimmer. Hast du auch mit Lily Jago geschlafen?«
»Das macht dir jetzt Spaß, was?«, spottet er. »Du reitest eine rein persönliche Attacke gegen mich.«
»Ich wette, deine Mitarbeiter wissen genau Bescheid über deine Eskapaden.«
Polkerris’ Körpersprache verändert sich; er lässt die Schultern hängen und geht in die Defensive. »Ich habe einmal mit Sabine geschlafen, aber das war’s auch schon.«
»Hannah Weber war fasziniert von der Geschichte des Hotelgebäudes. Sie war zweimal hier und hat das Star Castle in ihrem Reisetagebuch als ›magisch‹ beschrieben. Ist sie auch eine von deinen Eroberungen?«
»Ich hab die Frau nie gesehen.« Aus seiner Miene spricht blanke Wut. »Vergeben und vergessen ist nicht deine Stärke, was?«
»Typen, die andere drangsalieren, stoßen nun mal selten auf Sympathie. Der einzige Unterschied zu damals ist, dass man es jetzt anders bezeichnet. Wir nennen es Missbrauch einer Machtposition. Wenn eine weibliche Angestellte dich zurückweist, läuft sie Gefahr, ihren Job zu verlieren. Wenn das bekannt wird, fliegst du hier raus.«
»Die Besitzer glauben dir das nie im Leben.«
»Doch, das werden sie, verlass dich drauf.«
Ich nehme Tom Polkerris mit einiger Genugtuung fest. Wahrscheinlich wird die Anwältin ihrem neuen Mandanten, wie Paul Keast auch, raten, alle Fragen mit »kein Kommentar« zu beantworten, aber wenigstens können wir ihn über Nacht festsetzen. Wenn er der Mörder ist und Lily noch lebt, kann er ihr nicht noch einmal weh tun.
Kurz nachdem wir den Papierkram erledigt haben und Polkerris gegen sechzehn Uhr in der Zelle sitzt, ruft Lawrie Deane mich an. Der Sergeant erklärt mir, er hätte vergessen zu erwähnen, dass das Haus der Rawles noch nicht vollständig durchsucht wurde. Frank war während seines Besuchs dort nicht zu Hause, und Elaine hat behauptet, ihr Mann hätte den einzigen Schlüssel für den Dachboden.
»Ich verstehe nicht, warum sie ihn überhaupt abschließen, da ja nur die beiden dort wohnen.«
»Ich gehe bei ihnen vorbei, Lawrie. Ich sollte ohnehin mal nach Leo Kernick sehen.«
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Rawles ihr Image als unbescholtene Mitglieder der Inselgemeinschaft beschädigen, geschweige denn, eine Mordserie begehen. Allerdings klingt mir Jeff Pendelows Hinweis, dass der Mörder durchaus auch eine Stütze der Gemeinde sein könnte, noch in den Ohren.
Es regnet in Strömen, als ich mich auf den Weg mache, aber dass ich nass werde, ist gerade meine geringste Sorge. Ich denke über die Widersprüche in den Geschichten von Rhianna und Tom Polkerris nach. Es erscheint mir immer noch möglich, dass das Scheitern ihrer Ehe den Morden zugrunde liegt, aber ich muss weiter jedes Detail überprüfen, bis ich einen Beweis gefunden habe.
Frank Rawles Erscheinung ist makellos, als ich bei ihm klingele. Die exakten Bügelfalten in den Ärmeln seines Hemdes bilden einen starken Kontrast zu meiner tropfnassen Windjacke. Sein Labrador kommt angetrabt, um mich zu begrüßen und ein paar Streicheleinheiten zu erbetteln.
»Ich wollte Sie schon anrufen, Ben. Leo ist leider gegangen«, verkündet Rawle. »Wir hatten gehofft, er würde länger bleiben, aber er hat das Haus verlassen, bevor wir aufgewacht sind.«
»Hatte er sich denn etwas beruhigt, als er ins Bett gegangen ist?«
»Er steht unter Schock. Er wird Monate brauchen, um sich davon zu erholen.«
»Könnten Sie später mal zu seinem Studio fahren und nachschauen, ob es ihm gut geht?«
»Wir haben unser Auto schon vor Jahren verkauft, aber ich komme auch zu Fuß dorthin.«
»Danke, Frank. Können wir uns vorher noch kurz unterhalten?«
Ich schicke Lawrie Deane per Handy eine Nachricht, damit er weiß, dass Leo Kernick allein zu Hause oder in seinem Labor ist, bevor ich Rawle ins Haus folge. Im Wohnzimmer tickt laut eine Standuhr. Am liebsten würde ich ihn schnell mit meinen Fragen bombardieren und dann zurück aufs Revier eilen, doch die Situation erfordert einiges Feingefühl. Als Rawle mir bedeutet, dass ich mich setzen soll, kommt unter seinem Hemdsärmel ein dicker Verband zum Vorschein.
»Wann haben Sie sich denn am Handgelenk verletzt, Frank?«
Er schaut mich verlegen an. »Ich bin im Garten gestolpert, und Elaine hat darauf bestanden, mir zur Vorsicht diese Bandage anzulegen. Das Gelenk ist aber nur verstaucht.«
»Ihr Haus ist ja bereits durchsucht worden, aber wie ich höre, war Ihr Dachboden zu dem Zeitpunkt abgeschlossen. Haben Sie was dagegen, wenn ich da mal einen Blick reinwerfe?«
Ich fühle mich unbehaglich dabei, einen Beweis zu suchen, der Rawle mit den Morden in Verbindung bringen könnte, obwohl er seit Jahrzehnten ein angesehenes Mitglied der Inselgemeinschaft ist, aber seine dominante Persönlichkeit gibt ihm eine Sonderstellung. Die Zimmer im oberen Stockwerk sind mit dem gleichen dunklen Holz vertäfelt wie der Flur, was eine klaustrophobische Atmosphäre schafft. Als ich die letzten Stufen zum Dachboden hochsteige, lässt Rawle sich Zeit, mir den Schlüssel zu geben.
»Meine Frau sähe das gar nicht gern«, sagt er. »Sie betrachtet diesen Raum als geheiligtes Territorium.«
»Wird nicht lange dauern, versprochen.«
Als die Tür schließlich aufschwingt, werden wir mit einem Schlag in die Vergangenheit katapultiert. Der Raum wurde nie modernisiert und erinnert mit seinen freiliegenden Dachbalken an die späten Neunziger. Die Musiker von Primal Scream, Nirvana und den Fugees blicken jugendlich frisch von den Postern über dem schmalen Bett der jungen Frau herab. Der ursprünglich rote Bettbezug ist zu einem faden Rosa ausgeblichen, und der Modergeruch lässt vermuten, dass das Fenster selten geöffnet wird. Auf der Frisierkommode stehen altmodisch aussehende Haarsprayflaschen und Lippenstifte. Leah Rawle lächelt strahlend von einem Foto an der Wand auf mich herab. Der junge Mann neben ihr kommt mir bekannt vor; er hat eine Zigarette zwischen den Lippen und einen Arm über ihre Schultern gelegt. An der Wand lehnt eine Gitarre.
»Sieht so aus, als wäre Ihre Tochter ein großer Musikfan gewesen.«
»Leah träumte davon, Musiklehrerin zu werden.« Frank Rawle steht noch immer im Türrahmen, offenbar widerstrebt es ihm, über die Schwelle zu treten. »Wir hätten ihre Sachen schon vor langer Zeit weggeben sollen, aber Elaine will davon nichts hören.«
Leahs Habseligkeiten werden wie unbezahlbare Artefakte behandelt. Die Luft in dem Raum riecht nach Staub und alten Erinnerungen, und als ich weiter hineingehe, verschlägt es mir den Atem. An der Schranktür hängt ein Hochzeitskleid, dessen Spitze bereits vergilbt ist. Es sind zwanzig Jahre vergangen, aber die Seide hat noch immer einen matten Glanz, das Oberteil ist mit Stickereien übersät.
»Wollte Ihre Tochter heiraten?«
»Ja, nur eine Woche später wäre sie getraut worden. Der Termin für die kirchliche Trauung stand schon lange fest, und sie hatten auch schon ihre Flitterwochen gebucht.«
»Stammte ihr Verlobter auch von der Insel?«
»Hat Ihnen das nie jemand erzählt? Sie war mit Michael Trevellyan verlobt.«
»Dem Priester?«
Rawle nickt. »Er arbeitete damals noch auf der Blumenfarm seiner Eltern. Sie waren viel zu jung, aber irgendwann haben wir nachgegeben. Es war nicht zu übersehen, dass sie sich liebten.«
Ich starre ihn an. »Ich hatte ja keine Ahnung.«
»Für Michael ist damals die Welt zusammengebrochen. Ich weiß, dass er Trost in seiner Religion findet, und er übt das Amt auch wirklich großartig aus, aber er hätte ein glücklicheres Leben gehabt, wenn Leah weitergelebt hätte.«
Ich würde gern wissen, wie Leah gestorben ist, doch es erscheint mir taktlos, danach zu fragen. Mein ehemaliger Schulleiter möchte die Vergangenheit offensichtlich lieber ruhen lassen. Leah Rawles Tod hatte für jeden Folgen, der sie gekannt hat: Ihre Mutter wäre fast daran zerbrochen, während ihr Verlobter die Liebe durch die Religion ersetzt hat. Mich treibt nach wie vor um, dass der Priester mit Hannah Weber gesprochen hat, kurz bevor sie angegriffen wurde. Mir schießt sogar der Gedanke durch den Kopf, er könnte so oft an ihrem Krankenbett sitzen, um ihr beim Sterben zuzusehen, und nicht, um ihr beim Überleben zu helfen. Aber diese Vorstellung erscheint mir dann doch zu weit hergeholt. Warum sollte ein angesehener Geistlicher zwanzig Jahre nach dem Tod seiner Verlobten eine Mordserie begehen? Wenn die richtigen Umstände zusammenkommen, kann allerdings jeder ein Gewaltverbrechen verüben. Ich rufe den Priester auf dem Handy an, sobald ich das Haus der Rawles verlassen habe, doch er nimmt nicht ab.