Lily tut die Hüfte weh, weil sie schon so lange in derselben Position verharrt, aber sie kann nicht aufstehen. Wenn sie sich ganz stark konzentriert, hört sie leise Stimmen durch die Wände, die unglaublich weit weg klingen. Sie ruft um Hilfe, doch ihre Kehle ist so trocken, dass nur ein Röcheln herauskommt. Beim zweiten Versuch ist ihr Schrei schon lauter, aber es reagiert niemand.
Sie starrt wieder auf das Foto und rückt es mit zitternden Händen mehr ins Licht. Die hübsche junge Frau auf der Nahaufnahme sieht aus, als wäre sie ungefähr im selben Alter wie sie. Der Wind weht ihr die Haare aus dem Gesicht, und sie lächelt in die Kamera. Die Farben sind verblasst, aber sie sieht immer noch perfekt geschminkt aus. Ihre Lippen sind puderrosa, der graue Lidschatten und die Wimperntusche lassen ihre Augen riesengroß erscheinen. Lily trägt die Grundierung auf ihre Haut auf, aber die Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken bleiben trotzdem sichtbar. Sabine muss auf demselben Stuhl gesessen haben und sich, von demselben Licht geblendet, mit zitternden Händen geschminkt haben.
»Das schaffe ich nie«, sagt Lily in einem lauten Flüsterton.
Sie wischt das Make-up wieder ab, und die Entscheidung beruhigt sie. So zeigt ihr Spiegelbild wenigstens die Wahrheit; das Funkeln in ihren Augen könnte sowohl Hoffnung signalisieren als auch Verzweiflung. Sie reißt an den Ketten um ihre Knöchel, und das kalte Metall drückt sich in ihre Haut. Als sie die Finger zwischen die Glieder der Kette schiebt, schreit sie fast auf vor Schmerz, doch sie hat keine andere Wahl. Sabine hat versucht, die Anweisungen des Mörders zu befolgen, aber gestorben ist sie trotzdem. Sie muss sich befreien, bevor er zurückkommt, und dann an ihm vorbeirennen, wenn er die Tür öffnet.