Als ich am späten Nachmittag zurück im Revier bin und das Motorrad starte, um Pfarrer Michael einen Besuch abzustatten, regnet es immer noch. Als ich am menschenleeren Town Beach vorbeikomme, fühlt es sich an, als wären die Inseln in einem Tropensturm gefangen, denn die Luft ist schwül und feucht. Der Himmel sieht aus wie ein mit Kohle beschmiertes, blassgraues Tuch. Der Pfarrer braucht lange, um auf mein Klopfen zu reagieren, und er wirkt zerstreut. Seine Körpersprache hat sich seit meinem letzten Besuch verändert. Diesmal blockiert er den Eingang und verweigert mir trotz des schlechten Wetters den Zutritt.

»Ich hab gerade mit einem Gemeindemitglied gesprochen, Ben. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Ich würde gern kurz mit Ihnen reden, wenn das geht.«

Er bleibt auf der Schwelle stehen. »Ich werde im Krankenhaus erwartet.«

»Dauert nicht lange.«

Pfarrer Michael geht mit schleppenden Schritten voraus zu seinem Wohnzimmer. Er setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber, aber unsere Rollen sind vertauscht. Der Pfarrer sieht aus, als lasteten Sünden auf ihm, die er mir beichten muss.

Seine Körperhaltung signalisiert Erschöpfung. »Ich wusste, dass dieses Gespräch früher oder später stattfinden würde.«

»Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass Sie mit all diesen Frauen Zeit verbracht haben.«

»Aber ich habe keine von ihnen gut gekannt.«

»Sabine haben Sie die Beichte abgenommen, mit Hannah Weber haben Sie sich unterhalten, Jade Finbury kam hin und wieder zur Messe, und dann ist da noch …«

Er unterbricht mich. »Was wollen Sie damit sagen Ben?«

»Es muss schwer sein, so lange allein zu leben.«

»Ich bin ein Mensch wie Sie auch. Manchmal ist das Leben einsam.«

»Für einen Priester ist es härter. Sie müssen den ganzen Sommer hindurch Hochzeitszeremonien abhalten.«

»Das Ritual stiftet eine erfreuliche Verbindung zwischen Menschen, die sich lieben. Warum sollte mir das Schmerzen bereiten?«

»Sie sagen immer, dass Ihr Leben einem höheren Zweck dient, aber Sie haben Leahs Tod nie verwunden, hab ich recht?«

»Meine Arbeit spendet mir Trost.« Er klingt traurig. »Früher, als die Trauer noch frisch war, habe ich um mich geschlagen, wenn ich mit jemandem eine Rechnung begleichen wollte. Warum sollte ich so lange warten und dann andere Frauen dafür bestrafen, dass sie am Leben sind?«

»Sagen Sie es mir.«

»Leah hat mir eine neue Perspektive vermittelt. Ich fühlte mich hier eingesperrt, aber sie hat mir gezeigt, wie schön

»Die Opfer sind alle weiß gekleidet wie Nonnen, wenn sie ihr Gelübde ablegen. Man nennt es auch ›den Schleier nehmen‹ nicht wahr? Vielleicht betrachten Sie diese Frauen als Novizinnen, nicht als Bräute.«

»Unsinn.« Er erhebt sich schnell. »Los, machen Sie schon, stellen Sie mein Haus auf den Kopf. Sie können oben anfangen.«

»Ich fange lieber hier unten an.«

Der Priester verstummt, als ich in die Küche gehe. Die Hintertür ist offen, und auf dem Tisch stehen die Hinterlassenschaften einer Mahlzeit: zwei Teller mit Sandwichresten und zwei halb ausgetrunkene Wassergläser.

»Wer war eben hier, Herr Pfarrer?«

»Ein Mitglied meiner Gemeinde, wie ich schon sagte. Er hatte noch nichts gegessen, da hab ich uns was gemacht.«

»Sagen Sie mir den Namen.«

Der Priester scheint erst sein Gewissen zu befragen, bevor er mir antwortet. »Harry Jago. Der Junge hatte solche Angst, dass er weggerannt ist, bevor ich ihn daran hindern konnte.«

»Sie haben ihn nicht festgehalten, obwohl seine Schwester verschleppt wurde?«

»Lily ist verschwunden?«

Der Priester sinkt auf einen Stuhl, während ich Eddie

»Erklären Sie mir bitte Ihr Verhältnis zu Harry.«

»Seine Mutter war eine gute, hart arbeitende Frau. Sie hat nur einen Fehler begangen, nämlich den falschen Mann zu heiraten. Sie hatte nichts, als sie hier ankam, außer zwei Kindern, die sie durchbringen musste. Darum habe ich sie hier und in der Kirche für Geld putzen lassen. Bevor sie starb, habe ich ihr versprochen, auf Harry und Lily aufzupassen.«

»Der Junge scheint Angst vor Ihnen zu haben.«

»Nur, weil ich ihn zur Rechenschaft ziehe. Harry weiß, dass ich enttäuscht bin, wenn er auf Abwege gerät, aber ich unterstütze ihn trotzdem. Ich war in seinem Alter weitaus schlimmer.«

»Ich wette, er würde alles für Sie tun.«

Die Augen des Pfarrers funkeln zornig. »Werfen Sie mir jetzt vor, dass ich mich um einen verletzlichen jungen Erwachsenen kümmere? Ich habe ihm gesagt, dass er zur Polizei gehen soll, aber das muss er selbst entscheiden.«

»Seine Schwester hat nur noch wenige Stunden zu leben, und Harry könnte wissen, wer der Mörder ist. Ich wette, er hat Ihnen alles erzählt.«

Der Pfarrer antwortet nicht, aber auf seinem Gesicht zeigt sich eine Geschichte der Gewalt; meine Anschuldigungen haben seinen alten Kampfgeist geweckt. Er ballt die Hände zu Fäusten, hält sein Temperament jedoch im Zaum.

»Bleiben Sie an meiner Seite, solange ich Ihr Haus durchsuche, Michael.«

Während ich auf der Suche nach einer Polaroidkamera,

»Ich muss auch in Ihren Keller schauen.«

»Sie verschwenden Ihre Zeit.«

Der Priester sucht so lange nach Ausflüchten, dass ich schließlich allein nach unten gehe. Er grummelt noch immer vor sich hin, als ich in den Keller hinabsteige; die Luft ist kühl und trocken, die Wände sind frisch gestrichen. Bis auf eine Kiste, die Fotos aus Michaels Jugend enthält, ist der Raum praktisch leer. Die Bilder zeigen ihn, wie er neben einem Narzissenfeld sitzt; sogar damals hatte er bereits eine sorgenvolle Miene. Ich will schon wieder gehen, da fällt mir eine Truhe an der Wand auf; sie hat die Größe eines Sarges, und ich hätte sie fast übersehen, weil sie im Schatten steht. Als ich den Deckel anhebe, finde ich darin einen Brautschleier, der zusammen mit zierlichen weißen Schuhen in einem Beutel aus Nesselstoff liegt. Ich habe ihn noch in der Hand, als der Priester hinter mir auftaucht, wütend und angespannt.

Pfarrer Michael nimmt mir den Schleier aus den Händen und hält ihn wie ein Vater ein Neugeborenes, dann wickelt er die Schuhe wieder in das Seidenpapier. Er will die

»Wo haben Sie das her, Herr Pfarrer?«

Er verzieht keine Miene. »Ich weiß nicht, wo das herkommt.«

»Warum sollte ich Ihnen das glauben? Zuerst lassen Sie Harry Jago entkommen, dann finde ich Brautsachen in Ihrem Keller.«

»Gehen wir zurück nach oben, dann erkläre ich Ihnen alles.«

Ich strecke die Hand aus. »Zuerst will ich dieses Blatt haben.«

Er übergibt es mir betont langsam und schaut dann zu, wie ich es in meine Tasche stecke. Die Freundlichkeit des Pfarrers kehrt erst zurück, als wir wieder in seinem Wohnzimmer sind. Er lächelt mir aufmunternd zu, als stünde er im Begriff, eine schwierige Rede zu halten.

»Ich habe Leahs Eltern vor zwanzig Jahren gebeten, mir einige von Leahs Sachen zu geben.« Sein Blick wandert zum Fenster. »Ich war zu einem Vorstellungsgespräch auf dem Festland, als sie starb; ich war nicht da, als sie mich am dringendsten brauchte. Das ist auch der Grund, warum ich so oft im Krankenhaus bin. Ich hasse die Vorstellung, dass eine Menschenseele ohne jeden Trost von dieser Welt in die nächste entschlüpft.«

»Wie ist Leah gestorben, Michael?«

Er zuckt zusammen bei dieser Frage. »Frank und Elaine

»Sie hat sich umgebracht?«

Der Pfarrer schaut auf seine Hände. »Bei Leah war eine Depression diagnostiziert worden. Ich dachte, wenn ich sie nur genug liebe, kann sie das überwinden. Sie hat mir in den letzten Wochen verheimlicht, wie es ihr ging, und so getan, als würde sie sich auf die Hochzeit freuen, während die Krankheit die Oberhand gewonnen hat. In Leahs Abschiedsbrief stand, sie würde mich über alles lieben, sähe aber keinen anderen Ausweg. Sie wollte niemandem zur Last fallen.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Frank, als er aus der Schule nach Hause kam. Er hat mich davor bewahrt, sie noch einmal zu sehen, und mir all die hässlichen Details erspart. Er und Elaine behandeln mich seitdem wie einen Sohn. Sie haben mir nie vorgeworfen, Leah tiefer in diese brutale Krankheit getrieben zu haben.«

»Aber Sie haben sich selbst die Schuld gegeben.«

Er wischt sich mit der Hand übers Gesicht, als wollte er das Thema wegwischen. »Nichts davon spielt jetzt für Harry Jago eine Rolle. Der Junge braucht ein gutes Vorbild. Ich versuche um seiner Mutter willen, ihm mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.«

»Sind Sie in die Morde verwickelt, Michael?«

»Wie könnte ich? Wo ich doch seit drei Tagen kaum das Krankenhaus verlassen habe.«

»Die Leute vertrauen Ihnen. Ihre Gemeinde würde alles für Sie tun, vor allem, wenn sie verwundbar sind.«

»Sagen Sie mir genau, was Harry erzählt hat. Aus Sabines letzter Beichte haben Sie mir auch nichts verraten.«

»Ich habe ein Schweigegelübde abgelegt. Wenn jemand mir gegenüber sein Gewissen erleichtert, dann ist dieses Vertrauen heilig. Wenn ich das Sakrament breche, kann ich Gott nicht länger dienen.«

»Harry Jago glaubt nicht an Gott. An Ihrem Gespräch heute war gar nichts heilig.«

»Er hat mich gebeten, nichts zu verraten. Das ist doch wie eine Beichte – oder nicht?«

»Sagen Sie mir, wo der Junge hingelaufen ist.«

Endlich gibt er nach. »Ich habe ihm geraten, sich in den Hütten an der Watermill Cove zu verstecken. Er muss erst sein Gewissen prüfen, bevor er bereit ist zu reden.«

»Rufen Sie ihn für mich an. Wenn er Ihre Nummer sieht, geht er dran.«

Der Pfarrer tut es, und Jago nimmt das Gespräch sofort an. Als ich ihm das Telefon aus der Hand nehme, höre ich den Jungen keuchen, so als wäre er mitten in einem Marathon.

»Hören Sie mir zu, Harry, hier ist DI Kitto. Ihre Schwester wurde verschleppt. Wenn Sie etwas wissen, sagen Sie es mir, bevor es zu spät ist.«

Der Junge stößt einen Schrei aus, dann ist die Leitung tot.