Während ich über den schmalen Pfad in dem Kliff nach oben klettere, halte ich den Blick auf die vom Pulpit Rock baumelnde Frauenleiche gerichtet; ihr Gesicht wird von einem weißen Schleier verdeckt. Meine nackten Fußsohlen leiden beim Klettern über das Basaltgestein, doch ich nehme den Schmerz kaum wahr. Dazu bin ich zu sehr mit der Frage beschäftigt, warum das Leben dieser Frau so dramatisch enden musste. Welche Verzweiflung hat sie dazu gebracht, sich von da oben herunterzustürzen? Noch kann ich unmöglich erkennen, wer es ist. Meine erste Aufgabe wird darin bestehen, den Leichnam auf festen Untergrund zu ziehen. Oben angekommen bleibe ich kurz stehen und halte nach möglichen Zeugen Ausschau. Peninnis Head ist ein mit Gras und Heidekraut bewachsener Streifen Land, auf dem einiges Felsgeröll herumliegt, Spaziergänger kann ich jedoch keine erspähen. Auf dem höchsten Punkt, fünfzig Meter von mir entfernt, steht der automatisierte Leuchtturm der Insel. Er ist das einzige menschengemachte Objekt in Sichtweite und recht simpel konstruiert: In einem Gehäuse, das erhöht auf einem schwarzen Metallgestell steht, rotiert eine Signallaterne. Als ich über den Rand des Kliffs schaue, kann ich der Frau auf den Scheitel gucken und sehe ihren Spitzenschleier in der Brise flattern. Der unnatürliche

Mein Boot treibt unten auf der Flut. Ray hat in sicherer Entfernung zu einigen Felsen Anker geworfen. Glücklicherweise ist die Wasserstraße zum Festland gerade unbefahren, und auch sonst segelt niemand so dicht in der Nähe, dass er das Opfer von seinem Boot aus sehen könnte. Eddie macht sich ebenfalls daran, die Kliffwand hochzuklettern, und auch die anderen schwimmen an Land. Aber die Verantwortung, herauszufinden, was mit dieser Frau passiert ist, liegt bei mir. Auch mein Jahrzehnt bei der Londoner Mordkommission hat mich nicht abgehärtet: Als ich den Schauplatz erneut in Augenschein nehme, steigt Übelkeit in mir auf. Wir werden rasch eine Absperrung einrichten müssen, damit keine Hundehalter hier entlanggehen und ihn verunreinigen können.

Eddie ringt nach Luft, als er neben mir ankommt. »Wissen Sie, wer sie ist?«

»Wir werden erst Fotos machen müssen, bevor wir das herausfinden können; ich sollte auch von hier oben eines schießen. Ich sage Lawrie Bescheid, dass er mir die Kamera vom Revier mitbringt.«

»Nicht nötig, ich hab mein Handy dabei.«

Verdutzt sehe ich, wie er einen wasserfesten Beutel mit seinem Handy darin aus dem Ärmel seines Neoprenanzugs zieht. »Sie waren bestimmt ein toller Pfadfinder, Eddie.«

Er schaut mich verlegen an. »Ich trage es immer bei mir, für den Fall, dass Michelle wegen der Kleinen anruft.«

Seit der Geburt seiner Tochter Lottie im letzten Jahr ist Eddie der engagierteste Papa der Welt; er ist ein ebenso begeisterter Vater wie Polizist und hat mich sogar dazu

»Ich brauche euch beide in Hugh Town«, erkläre ich den Brüdern, sobald auch Paul oben ist.

»Ray kann uns nach Porthcressa zurückbringen«, erwidert Steve.

»Ruht euch zuerst ein bisschen aus und schwimmt dann raus zum Boot. Ich möchte, dass ihr den Küstenpfad bewacht. Lasst niemanden hier herauf.«

»Soll Ray dir deine Kleider aufs Revier bringen?«

»Danke, Steve, das wäre toll.«

Er bleibt ruhig, während ich weitere Instruktionen erteile, aber die Augen seines jüngeren Bruders werden glasig, als er die von der Felswand baumelnde Frauengestalt betrachtet. Paul war schon in unserer Kindheit ein Sensibelchen und hat mit jedem mitgelitten, der in Schwierigkeiten war. Daher bin ich nicht überrascht, als er sich abrupt umdreht, ein paar Schritte wegläuft und sein Frühstück ins Heidekraut erbricht; die Reaktionen der Brüder sind so gegensätzlich, wie es nur geht. Es kommt häufig, vor, dass Zeugen eines Todesfalls einen Schock erleiden, aber ich darf mir hier und heute nur Gedanken um das Opfer machen. Steve

Während ich über Granit klettere, um die Leiche zu bergen, wird mir klar, wie Pulpit Rock – der Kanzelfelsen – zu seinem Namen kommt. Ein riesiger Felsblock balanciert über einem anderen wie ein Prediger, der sich auf seine Kanzel stützt und seiner unwilligen Gemeinde von Tod und Teufel erzählt. Der Priester scheint zur unermesslichen Weite des Atlantiks zu sprechen, denn die Felsformation ragt aufs offene Meer hinaus. Ich benutze Eddies Handy, um die Schlinge zu fotografieren, die das Leben der Frau beendet hat, doch allmählich kommen mir Zweifel. Wie viele Selbstmörder sind gefasst genug, um ein Seil dreimal um einen Granitblock zu wickeln und es dann mit einem doppelten Kreuzknoten zu sichern, bevor sie sich in den sicheren Tod stürzen? Ich versuche, die Felsen unter mir zu ignorieren, die wie abgebrochene Zähne zu mir hochstarren. Der nächste Windstoß weht das Seil so dicht an mich heran, dass ich es zu fassen bekomme, aber Eddie und ich brauchen drei

Aber auch nachdem ich sie ins Gras gelegt habe, ist das Rätsel um die Identität der Frau weiter ungelöst, denn ihr Gesicht wird von mehreren Schichten dichter weißer Spitze verdeckt. Nur die Füße und Hände sind unbedeckt, ihre Fingernägel sind in einem zarten rosa Farbton lackiert.

»Soll ich den Schleier anheben?«, fragt Eddie.

»Erst muss ich noch ein Bild machen.«

Als ich einen Schritt zurücktrete, um das Foto aufzunehmen, sehe ich eine archetypische Braut vor mir. Ihre schlanke Gestalt ist in ein knöchellanges Kleid gehüllt. Unter dem undurchsichtigen Schleier quellen dunkle Locken hervor; die hineingeflochtenen Mohn- und Kornblumen sind jedoch schon fast verwelkt.

Eddie und Isla stehen dicht neben mir, als ich den Spitzenschleier lüpfe. Die Frau kommt mir bekannt vor, aber das Bild, das ich sehe, ergibt keinen Sinn. Ihr Gesicht wurde sorgfältig geschminkt, die Augenlider sind mit blassgrauem Lidschatten betupft, die Wimpern getuscht, ihr verzogener Mund glänzt von Lippenstift. Wegen ihres gequälten Ausdrucks lasse ich den Schleier schnell wieder sinken. Ich hoffe, unsere neue Kollegin hat nicht genug gesehen, um das Opfer identifizieren zu können.

»Wir sollten auf den Gerichtsmediziner warten«, sage ich. »Haltet Abstand, alle beide.«

Eddie befolgt meine Anweisung, aber Isla kommt näher und flüstert mit merkwürdig unbewegter Miene: »Ich erkenne das Tattoo an ihrem Fuß; das Symbol der Sonne soll Glück bringen. Es ist Sabine, oder, Boss?«

Das hellorange gehaltene Design auf der Fußhaut der jungen Frau hat seinen Zweck offensichtlich verfehlt. Als ich über ihren Tod nachdenke, bekomme ich Schuldgefühle. Ich habe ein Dutzend Mal mit ihr zusammen trainiert und nie Anzeichen für eine Depression an ihr entdeckt, aber Selbstmorde sind immer schwer vorherzusagen. Meine ehemalige Arbeitskollegin in London hat sich das Leben genommen, nachdem sie bis zum Ende so getan hatte, als ginge es ihr gut.

Ich schiebe meine Gefühle über den Tod der jungen Frau beiseite, rufe mit Eddies Handy auf dem Revier in Hugh Town an und weise Lawrie Deane an, mich sofort abzuholen. Als ich mich aufrichte, erblicke ich ein unverwechselbares gelbes Fahrrad auf der Rasenfläche neben dem Leuchtturm. Auf dem Rahmen steht der Name des Star Castle Hotels. Warum sollte Sabine sich wie eine Braut zurechtmachen und dann mitten in der Nacht hierherradeln, anstatt in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers eine Handvoll Tabletten zu nehmen? Die Sonne versengt mir den Nacken, als ich mich wieder ihrer Leiche zuwende. Dann bläst plötzlich eine Brise vom Meer her und fährt unter den Schleier. Er zeigt mir erneut das Gesicht der jungen Frau und macht es mir unmöglich, ihrem gequälten Blick auszuweichen.