Die Stunden rasen zu schnell dahin, während wir hektisch Einsatzbesprechungen abhalten, die Staatsanwaltschaft das Beweismaterial prüft und ich mir Tom Polkerris zu einem kurzen Verhör bringen lasse. Es ist neunzehn Uhr, als der Hotelmanager Madrons Büro betritt. Er verhält sich zwar nicht mehr ganz so selbstgefällig, doch seine Antworten sind wertlos für uns. Er hat bereits zugegeben, nach einer Spätschicht in der Hotelbar mit Sabine geschlafen zu haben. Während des Übergriffs auf Hannah Weber hat er jedoch nachweislich gearbeitet. Wenn er einen Komplizen hat, ist er ein guter Lügner. Mein alter Klassenkamerad schaut mich verständnislos an, als ich ihn frage, ob er mit jemandem gemeinsame Sache mache, und leugnet dann weiterhin jede Beteiligung an den Verbrechen.
Eine Stunde nach dem Ende des Verhörs entlasse ich Paul Keast aus der U-Haft, obwohl das Sechsunddreißig-Stunden-Limit noch nicht ganz ausgeschöpft ist. Es hat wenig Sinn, ihn noch länger festzuhalten, wenn es nicht einen belastbaren Beweis für seine Schuld gibt. Er sagt keinen Ton, als Eddie ihm den Beutel mit seiner persönlichen Habe zurückgibt, und schlüpft hinaus, um nach seinem Vieh zu schauen oder seine neue Flamme zu treffen. Tom Polkerris ist eine andere Sorte Häftling. Er wird im Laufe der Zeit immer wütender, schlägt erst mit der Faust gegen die Wand und ruft dann wüste Beschimpfungen durch die Klappe in seiner Zellentür.
Liz Gannick beäugt mich kritisch, als wir uns bei Anbruch der Nacht in Madrons Büro treffen. Sie lehnt ihre Krücken an die Wand, so als wollte sie sich eine schnelle Fluchtmöglichkeit sichern.
»Sie schicken mich zurück in das verdammte Hotel, hab ich recht?«
»Polkerris ist ein überzeugender Verdächtiger, Liz. Er geht respektlos mit Frauen um, ist ein geschickter Lügner und konnte sich leicht Zugriff auf Sabine und Lily verschaffen. Jetzt müssen Sie nur noch einen Beweis finden. Der Kerl manipuliert für sein Leben gern andere Menschen, und er war von Anfang an nervös.« Ich erinnere mich, wie aufgewühlt er zu sein schien, als er von Sabines Tod erfuhr. Möglicherweise war das gar keine Trauer über ihren Tod, sondern Angst vor Entdeckung.
»Ich fange mit seinem Wagen an«, sagt Gannick. »Wenn er schuldig ist, muss er ihn kürzlich benutzt haben, um sein neuestes Opfer zu transportieren. Vielleicht finde ich sogar frische DNA.«
»Wir haben keine Zeit mehr, um Proben ins Labor zu schicken. Wenn Lily immer noch festgehalten wird, ist sie morgen früh tot.«
»Ich kann keine Wunder vollbringen, Ben.«
»Schade.«
Gannicks Miene ist alles andere als engelsgleich, als sie sich die Krücken schnappt, um sich schwungvoll wieder auf den Weg zu machen. Ich sorge mich um jede Frau, die allein unterwegs ist, deshalb bitte ich Lawrie Deane, Liz ins Hotel zu begleiten. Wenigstens weiß ich, dass Isla in Sicherheit ist. Ich habe sie zusammen mit Eddie ein letztes Mal für heute auf Streife geschickt; die beiden sollen sich erkundigen, wann Lily Jago zuletzt gesehen wurde. Also bleibe ich allein auf dem Revier zurück.
Ich habe mich gerade wieder meinem Computer zugewandt, als ein Anruf auf dem Festnetz eingeht. Frank Rawle bietet mir erneut seine Unterstützung an. Ich lehne höflich ab; es nervt mich, dass er unbedingt mitmischen will, vermutlich, weil er in allen Bereichen des Insellebens eine führende Rolle spielt. Er ist der Vorsitzende des Gemeinderats und des Schulbeirats, und er sitzt im Kuratorium des Krankenhauses. Der unermüdliche Einsatz des Mannes, die Lebensqualität auf St. Mary’s zu verbessern, macht es unwahrscheinlich, dass er der Mörder ist.
Ich verdränge meine Angst, dass wir zu langsam sind, um Lily Jago zu retten. Wir haben den ganzen Tag lang jede noch so abgelegene Hütte und jedes Außengebäude durchsucht und heute Abend Verdächtige vernommen. Das Einzige, was mir jetzt noch zu tun bleibt, ist, herauszufinden, welche Bedeutung die Seemannsglückbringer für den Mörder haben – obwohl ich eigentlich lieber draußen nach der Vermissten suchen würde. Der Regen prasselt gnadenlos aufs Dach des Reviers; das Geräusch erinnert an Schüsse aus einer Schrotflinte, und ich muss daran denken, dass die junge Frau bereits tot und ihre Leiche den Elementen ausgesetzt sein könnte.
Die nächste Stunde bringe ich mit dem Versuch zu, das Bestandsbuch des Museums durchzusehen. Die Einträge der letzten zwanzig Jahre sind leicht zu entziffern, weil Elaine Rawle eine saubere Handschrift hat, aber die Glücksbringer könnten dem Museum auch schon vor etlichen Jahrzehnten vermacht worden sein. Das winzige Gekritzel des vorherigen Museumsleiters, der fünfzig Jahre lang im Amt war, wird im Laufe der Zeit immer unleserlicher. Die einzelne Seite, die ich im Keller von Pfarrer Michael gefunden habe, hilft mir auch nicht weiter; zudem wurde sie so sauber aus dem Buch herausgetrennt, dass es schon mühsam ist, die Stelle zu finden, an der sie fehlt. Mein Blick fliegt über die Liste der Gegenstände, und ich bin sicher, dass mir etwas entgeht, aber keiner der Namen kommt mir bekannt vor.
Als meine Augen vor Überanstrengung zu brennen beginnen, höre ich ein Scharren an der Tür. Es ist stockdunkel draußen, als Shadow hereingesprungen kommt. Normalerweise begrüßt er mich stürmisch, doch jetzt verhält er sich merkwürdig. Er bellt ein paarmal laut und fixiert mich mit seinen eisblauen Augen. Draußen ist nichts zu sehen als Finsternis und der Regen.
»Wo ist Nina?«
Als der Hund ein klägliches Winseln ausstößt, rufe ich bei ihr an, aber sie geht nicht ans Telefon. Ich weiß sofort, dass etwas nicht stimmt, denn der Hund stellt sich an die Tür und jault, weil er wieder zurücklaufen will. Ich habe Nina gebeten, ihr Handy immer eingeschaltet zu lassen, aber sie nimmt das Gespräch auch bei meinem nächsten Versuch nicht an.