Ich habe das Telefon noch in der Hand, als eine Nachricht ankommt. Sie ist von Eddie, der mir mitteilt, dass er und Isla im Krankenhaus vorbeigeschaut haben: Hannah Webers Zustand ist unverändert. Die verletzte Deutsche ist nicht die Einzige, deren Leben am seidenen Faden hängt. Ich muss Nina finden, bevor es zu spät ist. Die Rezeptionistin im Hotel klingt allzu fröhlich, als ich dort anrufe.
»Ms. Jackson hat das Hotel am frühen Abend verlassen. Sie war allein.«
»Und sie ist noch nicht zurückgekommen?«
»Ich glaube nicht, Sir, aber ich kann mal in ihrem Zimmer nachsehen.«
»Nicht nötig, das mache ich selbst.«
Ich packe das Bestandsbuch des Museums instinktiv ein, als ich, ungeachtet des Platzregens, hinauseile. Ich nehme Shadow an die Leine, damit er nicht in der Dunkelheit verschwindet, aber er blickt sich alle paar Sekunden um und scheint frustriert zu sein, weil ich so langsam laufe. Erst am Hoteleingang bellt er plötzlich wie verrückt. Der Hund ist mir auf dem Weg durch den Flur ein paar Schritte voraus und jault laut, als er an Ninas Zimmertür kommt. Ich hämmere an die Tür, doch es macht niemand auf.
»Wo, zum Teufel, bist du?«
Als mir schlagartig klarwird, was das bedeutet, fällt mir das Buch aus der Hand. Auch Nina ist verschwunden. Sie hat meinen Ratschlag, auf dem Hotelgelände zu bleiben, nicht befolgt. Ich spähe durch ein schmales Fenster im Flur nach draußen, doch der Garten ist leer, und die Laternen erhellen Blumenbeete, die durch den gnadenlosen Regen stark in Mitleidenschaft gezogen sind. Nina ist für den Mörder das ideale Opfer: Sie ist unabhängig und alleinstehend, und sie hat nicht vor, dauerhaft auf den Inseln zu bleiben. Shadow wird ungeduldig, weil wir nicht weitergehen. Er heult aus Leibeskräften und macht einen ohrenbetäubenden Lärm.
»Willst du wohl still sein! Ich kann so nicht denken.«
Meine Hände zittern, als ich sehe, dass das heruntergefallene Bestandsbuch genau an der Stelle aufgeklappt ist, wo ich die fehlende Seite eingelegt hatte. Irgendwer muss sie mit einem scharfen Messer herausgetrennt haben; nur ein winziger Papierstreifen ist im Buch verblieben. Jetzt bin ich mir noch sicherer, dass es einen Zusammenhang zwischen den gestohlenen Objekten und den Morden gibt. Ich starre auf die Liste der Stifter hinab, und diesmal springt mir ein vertrauter Name ins Auge. Sofort fangen meine Gedanken an zu rasen.
Bevor ich aus dem Hotel hinausrenne, mache ich Shadow von der Leine los. Jetzt kann er laufen, wohin er will, aber er scheint entschlossen zu sein, an meiner Seite zu bleiben. Mein Hund trabt neben mir her über den Rasen, der starke Wind peitscht mir die Regentropfen wie eine Ladung Granatsplitter ins Gesicht. Shadow hat Nina über eine Distanz von fünf Meilen hinweg an der Watermill Cove aufgespürt, und jetzt ist es an mir, dasselbe zu tun, bevor es zu spät ist.
Als ich die Church Road erreiche, bin ich völlig außer Atem. Eigentlich will ich zum Haus der Rawles, aber dann sehe ich, dass im Museum Licht brennt, und mir fällt ein, dass Frank erzählt hat, seine Frau führe dort spätabends noch mal einen letzten Security-Check durch. Ich renne hinein und rufe nach Elaine, bekomme aber keine Antwort. Einzige Lichtquelle ist eine Leuchte hinter dem Tresen. Sie strahlt eine Messingtafel an, in die die Namen großzügiger Stifter eingraviert sind. Wie konnte ich den Namen der Rawles übersehen, der ganz unten steht?
Irgendjemand rumort unten herum. Ich nehme Schritte auf dem Parkett wahr. Elaine muss im Lagerraum sein und die Tür hinter sich geschlossen haben, so dass sie mich nicht hören kann. Während ich darauf warte, dass sie wieder zum Vorschein kommt, rufe ich Eddie an und bestelle ihn zum Museum. Mein Deputy ist gerade auf der anderen Seite der Insel unterwegs, um zu überprüfen, ob alle Bewohner in Sicherheit sind, und ist schockiert, als er von Ninas Verschwinden hört. Jetzt suchen wir nicht mehr ein, sondern zwei Opfer. Ich höre Isla im Hintergrund reden, ihre Stimme klingt schrill, als ich den Anruf beende.
Die Museumbeleuchtung muss über einen zentralen Schalter geregelt werden, denn als ich den an der Treppe betätige, passiert nichts. Ich aktiviere die Taschenlampe in meinem Handy und gehe nach unten. Der Hund überholt mich, er kann im Dunkeln besser sehen als ich. Im unteren Raum ist eine Reihe von Galionsfiguren schemenhaft erkennbar. Als Elaine Rawle aus dem Lagerraum kommt, gehen plötzlich die Lichter an.
Die Augen der Museumsleiterin sind glasig vor Angst.
»Ach, Sie sind es, Gott sei Dank«, flüstert sie. »Der Lärm da oben hat mich zu Tode erschreckt.«
»Die Tür war nicht abgeschlossen. Das ist nicht besonders klug, wenn ein Mörder die Gegend unsicher macht.«
»Es fällt mir immer noch schwer, das zu glauben.« Elaines Stimme klingt dünn. »Warum sind Sie denn hier? Suchen Sie etwas?«
»Ich brauche Ihre Hilfe, aber beruhigen Sie sich erst mal.«
Ihre Hände zittern immer noch. »Ach, es geht schon wieder.«
Shadow reagiert gereizt, als sie näher kommt. Er schnappt nach ihr und bleckt die Zähne, als sie ihn streicheln will.
»Ignorieren Sie ihn. Er ist schlecht gelaunt, aber er beißt nicht.«
»Hier gibt es nichts, was ihn ängstigen müsste.« Elaines Blick ist auf das viktorianische Segelschiff gerichtet, das seit Jahrzehnten der ganze Stolz des Museums ist.
»Was wissen Sie über die Familien, die dem Museum in der Vergangenheit Gegenstände gestiftet haben, Elaine?«
»Nicht sehr viel. Warum fragen Sie?«
»Haben Sie am Telefon etwas über diese Glücksbringer herausfinden können?«
Sie schaut mich, Bedauern im Blick, an. »Tut mir leid, aber niemand konnte mir etwas sagen.«
»Sie lügen.«
Sie blinzelt. »Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ich habe die fehlende Seite aus dem Bestandsbuch gefunden, zusammen mit Leahs Schleier. Sie können aufhören, mir was vorzumachen.«
Sie verzieht wütend das Gesicht. »Wie konnte Michael Ihnen erlauben, die Kiste zu öffnen! Und wie konnten Sie es wagen, in den Sachen meiner Tochter herumzuwühlen!«
»Die Seemannsglücksbringer stammen aus Ihrer Familie. Sie haben sie dem Museum gestiftet, es nach Leahs Tod aber bereut. Also haben Sie die Seite aus dem Buch herausgeschnitten und sie unter dem Schleier versteckt. Haben Sie Michael neulich unter einem Vorwand besucht, um sie dort abzulegen?«
Ihr Blick wird glasig. »Meine Großmutter hat angefangen, diese Glücksbringer zu sammeln, nachdem mein Großvater auf See geblieben ist.«
»Kein Wunder, dass Julian Power keine Eintragung finden konnte. Sie haben den Schmuck vor einem Jahr gestohlen und seitdem versteckt.«
Ihre Stimme klingt kalt, als sie mir antwortet: »Er war mein rechtmäßiges Eigentum.«
»Wo sind Lily und Nina?«
Elaine weicht langsam vor mir zurück, doch Shadow springt auf sie zu und schnappt nach ihr. Jetzt wird mir klar, warum Frank Rawle unbedingt in die Ermittlungen eingebunden werden wollte.
»Sie können sich an einem so kleinen Ort nicht verstecken, Elaine. Es wird Zeit, dass Sie sich für das verantworten, was Sie getan haben.« Shadow bellt jetzt wie verrückt.
»Halten Sie den verdammten Hund von mir fern!«
»Diese Frauen zu opfern, das hat Ihnen Ihre Tochter auch nicht zurückgebracht.«
Über Elaines Wangen rollen Tränen, aber mir ist egal, wie viel sie durchgemacht hat.
»Wo ist Frank? Ich wette, er hat all das mit Ihnen zusammen geplant.«
»Er ist zu Hause im Bett.«
»Wieder eine Lüge.« Ich packe sie am Arm.
»Sie tun mir weh!«, ruft Elaine mit schriller Stimme. »Ich habe nichts getan.«
Ich halte sie noch fest, als ich hinter mir schlurfende Schritte höre, aber meine Reaktion kommt zu spät. Shadow springt hoch, um mich zu verteidigen, doch Elaine verpasst ihm mit voller Wucht einen Tritt gegen die Brust. Er fällt zu Boden und bleibt liegen. Ich gehe in die Knie, als ich plötzlich einen Schmerz zwischen den Schulterblättern spüre. Mein Angreifer stößt mich zu Boden.