Lily hat die Uniform gegen eine schwarze Hose und eine frische weiße Bluse eingetauscht und sich so in wenigen Minuten vom Zimmermädchen in eine Kellnerin verwandelt. Andere aus dem Team klagen darüber, dass das Hotel sie für viele verschiedene Aufgaben einsetzt, aber Lily mag die Abwechslung. Bis zum Ende ihrer Schicht wird sie den Gästen ihren spätvormittäglichen Kaffee servieren, dann hat sie Zeit, um Harry zu suchen. Lily versucht, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, anstatt sich Gedanken über die bevorstehende Auseinandersetzung mit ihrem Bruder zu machen.
Das Restaurant gefällt ihr von allen Räumen des Hotels am besten, denn das offene Mauerwerk gewährt mit seinen alten Steinen einen Blick auf die Ursprünge des Star Castles. Einer der Portiers hat ihr erzählt, die Festung sei unter Elisabeth I. erbaut worden; also versteckt sie sich schon seit fünf Jahrhunderten hinter ihren sternförmig angeordneten Umfassungsmauern. Wenn die letzten Gäste sich schlafen gelegt haben, kommt Lily häufig noch mal hierher, um mit den Fingern über das Mauerwerk zu fahren und seine Beständigkeit zu bestaunen. Aber heute ist sie zu verstimmt, um sich an der langen Geschichte des Hotels erfreuen zu können. Außer ihr sind noch zwei andere Kellner eingeteilt, Sabine ist jedoch immer noch nicht aufgetaucht.
Die junge Frau schlüpft mit einer Kaffeekanne in der Hand flink zwischen den Tischen hindurch. Sie schenkt einer Frau nach und quittiert deren gemurmelten Dank mit einem Lächeln, bevor ein männlicher Gast sie zu sich heranwinkt. Lily würde ihm lieber aus dem Weg gehen, aber dazu ist es jetzt zu spät. Der Mann heißt Liam Trewin; er ist Anfang vierzig, und Lily weiß nicht genau, warum es ihr unangenehm ist, in seiner Nähe zu sein. Vielleicht wegen der Direktheit und Intensität, mit der er sie anstarrt; sie fühlt sich dann wie ein Präparat in einem Labor. Alles an ihm stinkt geradezu nach Geld. Sogar sein blondes Haar wirkt teuer; es fällt ordentlich über seine Stirn und rahmt sein Gesicht. Er sieht nicht so gut aus, dass es für Hollywood reichen würde. Seine Augen stehen ein winziges bisschen zu eng zusammen, und die schmalen Lippen verleihen seinem Lächeln einen Zug ins Grausame.
»Wie geht es Ihnen heute, junge Dame?«, fragt er mit seinem breiten amerikanischen Akzent.
»Gut, danke, Sir.«
»Wie heißen Sie noch gleich?«
»Lily.«
»Ein hübscher Name für ein hübsches Mädchen.« Sein Hochglanzlächeln wirkt unnatürlich fröhlich. »Wo ist denn Ihre Freundin Sabine heute Morgen?«
»Das weiß ich nicht, Sir.«
»Ich dachte, sie hätte heute Dienst.« Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Ich würde später, wenn sie frei hat, gern eine Tour über die Insel mit ihr machen.«
»Tut mir leid, ich weiß nicht, wo sie ist.«
»Wären Sie so gut, Ihren Chef für mich zu fragen?«
»Ja, Sir.«
Als Lily davoneilt, spürt sie, dass Trewins Blick ihr folgt. Sie weiß, dass Sabine niemals einwilligen würde, ihn allein zu begleiten. Erst gestern hat sie noch über seine armseligen Versuche gespottet, sie mit Geschenken und Wein auf sein Zimmer zu locken. Die junge Frau bekommt eine trockene Kehle, als sie sich einem der Hotelmanager nähert. Lily schwärmt heimlich für Tom Polkerris, obwohl er verheiratet und fast zwanzig Jahre älter ist als sie. Er behandelt sie stets freundlich, aber sie möchte ihre Freundin nicht in Schwierigkeiten bringen, auch wenn sie sie gewarnt hat, dass Harrys Liebschaften nie von langer Dauer sind. Es ist leichter, ihrem Chef etwas vorzulügen, als zuzugeben, dass Sabine sich wahrscheinlich mit ihrem Bruder herumtreibt.
»Sabine ist nicht gekommen, Sir. Mr. Trewin fragt, wo sie ist.«
»Ist sie in ihrem Zimmer?«
»Ich glaube nicht.«
»Belästigt dieser Typ Sie?« Polkerris lässt seinen Blick durch den Raum wandern, als hätte er gerade erst registriert, dass eine Mitarbeiterin fehlt.
»Eigentlich nicht, er wollte es nur wissen.«
»Dann sagen Sie ihm bitte, dass sie heute frei hat, Lily. Ich gehe sie mal suchen.«
Trewin wirkt gereizt, als sie zurückkommt, in seinem Kiefer zuckt ein Muskel. »Dann habe ich den Mietwagen völlig umsonst gebucht.« Sein Blick gleitet wieder über ihren Körper. »Es sei denn, Sie hätten stattdessen Lust auf einen Ausflug?«
»Tut mir leid, ich habe heute schon was vor.«
Sie zieht sich zurück, und der Mann schaut ihr wütend nach.