Ich würde gern bei Sabines Leiche warten, bis der Gerichtsmediziner eintrifft, aber den Luxus einer Totenwache kann ich mir heute nicht leisten. Bis zur Rückkehr des DCI leite ich die Ermittlungen als Commander, und als solcher kann ich mich unmöglich in einem Neoprenanzug und mit einer Taucherbrille in der Hand an einem Tatort sehen lassen. Eddie und Isla bleiben am Pulpit Rock, um Dr. Keillor in Empfang zu nehmen, als Lawrie Deane mich am Mittag im einzigen Wagen der Inselpolizei abholt. Der Sergeant mit dem kurz geschorenen roten Haar ist in seinen Fünfzigern und ein Miesepeter, der permanent finster dreinschaut. Während der Wagen über unebenes Gelände zur King Edward’s Road rollt, hält er den Blick starr geradeaus gerichtet. Ich versuche, mich auf die kurze Fahrt in die Stadt zu konzentrieren, um mir nicht vorzustellen, wie Sabine gelitten haben muss, bevor sie starb.
Die an uns vorbeiziehenden Felder auf der Peninnis-Halbinsel sind unbestreitbar schön: Im Vordergrund gelber reifer Weizen und im Hintergrund der endlos weite Atlantik. Je näher man Hugh Town kommt, desto schmaler wird die von Bruchsteinmauern gesäumte Straße. Um den Buzza Tower hat sich eine Gruppe von Touristen geschart und fotografiert die alte Windmühle aus sämtlichen Perspektiven. Alle Unterkünfte auf St. Mary’s sind momentan ausgebucht; dadurch schwillt die Bevölkerung auf mehr als tausend Personen an, was die Untersuchungen nicht gerade erleichtern wird. Als wir Hugh Town erreichen, führt unser Weg zwischen Häusern hindurch, deren Fassaden mit Gestein von der Insel verkleidet sind. Die Gegend am Kai ist überfüllt. Leute in Shorts und Flipflops spazieren durch die Gassen, stöbern im Mumford’s nach Lektüre oder kaufen sich Picknickzutaten im Co-op. Mit der sorglosen Stimmung auf der Insel wird es vorbei sein, sobald sich die Nachricht von Sabines Tod verbreitet.
»Alles okay mit Ihnen, Boss? Eddie hat erzählt, das Mädchen trägt ein Brautkleid.«
»Niemand von uns hat das kommen sehen. Sie muss still gelitten haben.«
»Sind Sie denn sicher, dass es Selbstmord war?«
»Ich glaube, Sabine ist auf einem Fahrrad vom Star Castle Hotel zum Kliff gefahren. Wenn noch jemand involviert war, erfahren wir es erst morgen.«
»Keiner von den Insulanern würde einem jungen Mädchen so etwas antun.«
»Brutale Verbrechen hat es hier auch vorher schon gegeben, Lawrie. Bis der Gerichtsmediziner uns das Ergebnis der Obduktion mitteilt, können wir uns über gar nichts sicher sein. Es sieht aus wie Selbstmord, aber sie kann auch Opfer eines Tötungsdelikts sein.«
»Ein Psychokiller auf unserer Insel«, grummelt Deane. »Das hat uns noch gefehlt.«
»Reden Sie mit niemandem über die Details. Nicht mal mit Ihrer Familie. Wenn das bekannt wird, ist es innerhalb von fünf Minuten auf der ganzen Insel rum.«
Der Sergeant bedenkt mich mit einem missbilligenden Blick, weil ich seine Loyalität in Frage gestellt habe. Dean kennt St. Mary’s besser als wir alle, denn er lebt schon seit Jahrzehnten auf der Insel. Die Leute von hier unterscheiden sich von denen auf den anderen Inseln, wo es nur wenige Fahrzeuge und noch weniger öffentliche Einrichtungen gibt. Die meisten Bewohner von St. Mary’s freuen sich, von Nachbarn umgeben zu wohnen und ein Krankenhaus, ein Sportzentrum und Vereine zu haben, denen man beitreten kann. Sie sind weniger reserviert als meine Nachbarn auf Bryher, die ihren Küstenabschnitt manchmal wochenlang nicht verlassen. Ich habe keine Ahnung, wie der bizarre Tod einer jungen Frau sich auf den unbeschwerten Charakter der Insel auswirken wird.
Wir sind bereits in der Garrison Lane angekommen, in der das Polizeirevier mit seinen Kieselrauputzwänden liegt. Es ist eine der kleinsten Polizeistationen im gesamten Vereinigten Königreich und verfügt über einen Empfangsbereich, ein paar Büros und zwei Zellen. An Tagen wie diesen sehne ich mich nach dem hochmodernen Gebäude der Londoner Polizei in Hammersmith zurück, wo ich zehn Jahre lang als Undercover-Ermittler der Mordkommission tätig war. Dort waren alle Arten von Spezialausrüstung unter einem Dach versammelt, aber dahin führt kein Weg mehr zurück. Auf den Scilly-Inseln geschehen so selten schwere Verbrechen, dass alles andere als das absolute Minimum an Ausrüstung eine Verschwendung von Ressourcen wäre. Auf St. Mary’s scheint die Zeit stehengeblieben zu sein; hier gibt es keine Videoüberwachung und, abgesehen von gelegentlichen Schlägereien unter Betrunkenen, normalerweise auch keine brutalen Gewalttaten.
»Könnten Sie einen unserer Hilfspolizisten mit Absperrband und einem Zelt zu Eddie und Isla am Pulpit Rock schicken? Und die beiden möchten sich bestimmt auch was überziehen. Wir können sie nicht vor Hitze umkommen lassen da draußen.«
»Ich kümmere mich darum.« Er setzt eine leidgeprüfte Miene auf.
»Danach rufen Sie bitte das kriminaltechnische Labor in Penzance an und bitten Liz Gannick, in den nächsten Flieger zu steigen.« Es ist nicht ohne Risiko, Hilfe von der Chefkriminaltechnikerin zu erbitten. Mit ihr ist nicht gut Kirschen essen, doch ich möchte unbedingt vermeiden, dass uns irgendwelche Details entgehen, die mit Sabines Tod im Zusammenhang stehen.
Ray muss vor uns am Revier gewesen sein; als wir einparken, sehe ich, dass Shadow draußen angebunden ist. Die Kleider, die ich auf dem Boot gelassen hatte, sind ordentlich gefaltet unter dem Vordach abgelegt worden, das Handy steckt in der Hosentasche meiner Jeans. Es ist eine Wohltat, den feuchten Neoprenanzug ausziehen zu können, sobald wir drinnen sind, aber ich weiß, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die ersten Leute wissen wollen, warum der Küstenpfad gesperrt ist.
»Nehmen Sie die eingehenden Anrufe entgegen, während ich unterwegs bin, ja, Lawrie? Ich gehe zum Star Castle Hotel und lasse den Hund bei Ihnen.«
Der Sergeant setzt sich mit säuerlicher Miene hinter den Empfangstresen und nickt widerstrebend.
Sabines Arbeitsplatz liegt auf dem Garrison, und von der Polizeistation sind es nur fünf Gehminuten bis dorthin. Das felsige Stück Land hat seinen Namen von den wiederholten Versuchen der britischen Armee, die Insel als Militärstandort und Schutzwall gegen fremde Invasoren zu nutzen. Die Festung Star Castle wurde zu einem Luxushotel umgebaut und zieht Touristen an, die seine Architektur bewundern. Auf Luftaufnahmen erinnert es an Weihnachtsdekoration, denn seine sternförmigen Umgrenzungsmauern sind noch perfekt erhalten. Ich gehe durch die engen Straßen des Städtchens und erklimme dann den steilen Weg zu dem Torbogen, durch den früher Soldaten zu Pferd auf das Gelände ritten. Auf den Aussichtsposten werden vor Jahrhunderten Wachleute gesessen und den weiten Blick über Land und Meer genossen haben. Damals galt St. Mary’s als wichtiges Territorium, doch wenn ich jetzt nach Osten blicke, gibt es dort außer einer unberührten, durch jahrhundertelange Landwirtschaft geprägten Natur wenig zu verteidigen. Die pittoreske Ansammlung von Fischerhäuschen in Hugh Town würde auf dem Festland als Dorf bezeichnet werden.
Mir fällt es immer noch schwer zu glauben, dass Sabine tot ist, als ich das Hotelfoyer betrete, in dem absolute Stille herrscht. Die meterdicken Mauern der Festung blocken jeden Lärm von außen ab. In der Luft hängt der Duft der üppigen Blumendekoration, und ich höre nur das leise Gemurmel von Gesprächen aus dem Restaurant, wo sich die Hotelgäste zu einem frühen Mittagessen versammelt haben. Die Dame an der Rezeption lächelt mich gleichmütig an, so als ob sie durch nichts aus der Ruhe zu bringen wäre, dann ruft sie telefonisch den Manager herbei. Schon kurz nachdem sie aufgelegt hat, steht Tom Polkerris vor mir, und als er mir die Hand schüttelt, muss ich mich zusammennehmen, um meinen Widerwillen zu verbergen. In meinem Jahrgang auf der Five Island School war er der Klassentyrann, der nichts lieber tat, als anderen Kindern das Leben schwer zu machen. Ich erinnere mich noch gut, dass ich einmal nachsitzen musste, weil ich ihn gegen eine Wand gestoßen hatte, nachdem er einen meiner Freunde gepiesackt hatte. Als Jugendlicher hatte er eine krause Mähne und eine fiese Akne, außerdem war er übergewichtig und nutzte seine Statur dazu, um andere einzuschüchtern. Heute hingegen sieht er exakt so aus, wie man es vom Geschäftsführer eines erstklassigen Hotels erwartet. Meine Ankunft scheint ihn nicht weiter zu beunruhigen, aber auf einer so kleinen Insel entkommt niemand seiner Vergangenheit.
Polkerris ist einen halben Kopf kleiner als ich, muss aber fleißig Sport treiben, denn er wirkt schlank in seinem schicken Anzug. Die Haare sind sorgfältig gestylt, sein Kinn von einem Dreitagebart bedeckt. Als er mich schließlich begrüßt, liegt doch ein besorgter Unterton in seiner Stimme.
»Welch unerwarteter Besuch. Wie kann ich helfen, Ben?«
»Ich müsste dich und Rhianna bitte mal unter vier Augen sprechen.«
»Komm hier entlang. Sie ist in unserem Büro und erledigt Papierkram.«
Ich folge ihm durch einen fensterlosen Flur, der quer durch das Gebäude führt, bis wir in einen lichtdurchfluteten Raum mit Blick auf den Garten eintreten. Auf einem hochflorigen grauen Teppich stehen sich zwei Schreibtische gegenüber. Polkerris’ Frau starrt auf ihren Laptop. Rhianna ist ebenfalls auf den Scilly-Inseln geboren, aber wir hatten als Kinder keinerlei Kontakt zueinander. Ihre Eltern haben sie auf ein exklusives Internat auf dem Festland geschickt, und auch in den örtlichen Pubs bin ich ihr nie begegnet. Rhianna ist eine noch elegantere Erscheinung als ihr Mann. Glattes blondes Haar fließt ihr wellenförmig über den Rücken, als sie sich erhebt, das enge graue Kleid betont ihre gute Figur. Ihre Gesichtszüge erinnern an eine Porzellanpuppe; die grünen Augen sind einen Tick zu weit aufgerissen. In ihr hat Tom Polkerris seine Meisterin gefunden: Dieser Eisklotz lässt sich unter Garantie von niemandem einschüchtern. Sie kann sich kaum ein Lächeln abringen, bevor sie auf einen Platz am Fenster deutet, als würde sie mich in die Büßerecke schicken.
»Ich habe eine Nachricht bezüglich Sabine Bertans zu überbringen«, sage ich zu den beiden.
»Sie hat doch nichts angestellt, oder?« Rhianna wirkt überrascht. »Sie hat alle notwendigen Papiere beigebracht. Wir hatten schon viele Mädchen aus Lettland hier; sie arbeiten hart und wissen sich zu benehmen.«
»Wann war sie zuletzt im Hotel?«
»Sabine hatte gestern Abend Dienst an der Bar«, antwortet Tom. »Sie hatte sich freiwillig für eine zusätzliche Schicht heute Morgen gemeldet, ist aber nicht aufgetaucht.«
»Und warum weiß ich davon nichts?«, giftet seine Frau ihn an. »Ich bin für das Personal zuständig.«
Die Eheleute starren einander derart feindselig an, dass es kurz so aussieht, als würden sie sich in meiner Gegenwart in die Wolle kriegen, aber private Zwistigkeiten gehören jetzt nicht hierher.
»Wir wissen, dass Sabine das Hotel nach dem Ende ihrer Schicht noch einmal verlassen hat«, sage ich.
»Das ist schwer zu glauben«, erwidert Rhianna. »Sie war nicht vor Mitternacht mit der Arbeit fertig. Bitte sagen Sie uns, was los ist.«
»Sabine wurde tot am Pulpit Rock aufgefunden. Ich kann keine Details nennen, aber wir sind sicher, dass sie es ist. Der Ordnung halber werde ich sie später noch formell identifizieren lassen.«
»Soll das etwa heißen, sie wurde umgebracht?«, fragt Tom Polkerris sichtlich schockiert.
»Tut mir leid, ich kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine weiteren Angaben machen.«
Ihm weicht alle Farbe aus dem Gesicht, dann sinkt er kraftlos auf einen Stuhl. Von dem Kind, das Spaß daran hatte, seine Klassenkameraden aufzustacheln, ist keine Spur mehr zu sehen. Polkerris steht vor Schreck der Mund offen, aber seine Frau bleibt die Ruhe selbst.
»Wann ist das passiert?« Sie klingt gereizt, so als passte der Tod der jungen Frau ihr nicht in den Kram.
»Wir haben noch kein klares Bild; ich muss ihr Zimmer durchsuchen, bevor ich wieder gehe. Wirkte sie in den letzten Tagen irgendwie niedergeschlagen?«
»Überhaupt nicht. Sie hat ihre Zeit hier genossen«, antwortet Tom Polkerris.
Plötzlich ist es mit der Gelassenheit seiner Frau vorbei. »Unsere Gäste dürfen nichts davon erfahren! Sie kommen schließlich hierher, weil sie Ruhe und Frieden suchen.«
»Halt den Mund, Rhianna«, murmelt Polkerris. »Hast du nicht gehört, was Ben gesagt hat? Eine Mitarbeiterin von uns ist gestorben; alles andere ist im Moment zweitrangig.«
»Sag das mal unseren Aktionären, wenn wir schlechte Bewertungen auf Trip Advisor bekommen.« Sie presst die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen, und ich frage mich, welche Gefühle sich wohl in dieser glänzenden Hülle verbergen.
»Wäre es in Ordnung, wenn ich hier später eine öffentliche Versammlung abhalten würde? Ich möchte Sabines Tod bekannt geben, bevor Gerüchte die Runde machen. Ihr Restaurant wäre der ideale Ort dafür.«
»Nicht im laufenden Betrieb«, antwortet Rhianna schnippisch. »Es wäre besser, Sie nutzen den Pfarrsaal dafür.«
Tom sieht aus, als wollte er Einspruch einlegen, hält jedoch den Mund. Unser Gespräch hat Probleme des Paares sichtbar gemacht: Die beiden scheinen im Angesicht einer Krise eher aufeinander loszugehen als zusammenzustehen. Polkerris’ Gang ist unsicher, als er mich durch den begrünten Innenhof des Hotels zum Wohntrakt der Angestellten führt. Wie es aussieht, hat er sich heute Morgen schon ein Gläschen gegönnt, aber die frische Luft scheint zu helfen. Als wir das einstöckige Gebäude erreichen, hat er sich wieder stabilisiert.
»Sabine wohnte in Zimmer elf«, sagt er leise. »Die Tür war nicht abgeschlossen, als ich vorhin nach ihr gesucht habe.«
Ich ziehe sterile Handschuhe an, bevor ich die Klinke anfasse. Sollte sich herausstellen, dass Sabine nicht aus freien Stücken aus dem Leben geschieden ist, könnte ich andernfalls wichtige Beweise zerstören; es zahlt sich immer aus, Vorsicht walten zu lassen. Als ich eintrete, liegt der künstliche Duft eines billigen Parfüms in der Luft. Ansonsten könnte es das Zimmer jeder x-beliebigen jungen Frau sein. An der Wand steht ein schmales Bett, auf der Frisierkommode liegen Haarclips, eine Sonnenbrille und loses Kleingeld herum. Sie muss in Eile gewesen sein, als sie ging: Ihre Uniform wurde achtlos über den Stuhl geworfen, so als hätte sie es nicht erwarten können, loszukommen. Wenn sie einen Abschiedsbrief hinterlassen hat, ist davon keine Spur zu sehen. Mein Blick fällt auf ein rotes Kleid in ihrem Schrank. Sabine ist ein langes Leben mit vielen Anlässen zum Feiern versagt geblieben, und das aus Gründen, die ich nicht kenne. Ich versuche, die Wut zu unterdrücken, die in mir aufsteigt, denn die hat in einer Ermittlung keinen Platz. Seinen Gefühlen kann man sich hingeben, wenn man nicht im Dienst ist, bei der Arbeit verleiten sie nur zu Fehlern.
Ich brauche nicht lange, um unter die Matratze und hinter die Möbel zu schauen und die Taschen ihrer Kleidungsstücke zu durchsuchen. Jedoch ohne jeden Erfolg. Ich benötige dringend Sabines Handy, um rekonstruieren zu können, was in der Zeit vor ihrem Tod geschah, finde aber nur eine große Geldbörse aus Plastik mit einigen Briefen, ihrem Pass und ihren Reiseunterlagen darin. Ich stecke sie in einen Asservatenbeutel. Polkerris lehnt noch immer draußen an der Wand und lässt den Kopf hängen, als wäre er eine schwere Last.
»Alles in Ordnung, Tom?«
Er schließt die Augen. »Glaubst du, sie hat leiden müssen?«
»Es ist noch zu früh, um das sagen zu können.«
»Sie war erst neunzehn.« Auf seiner blassen Haut liegt ein Schweißfilm.
»Konzentrieren wir uns auf die Aufgaben, die vor uns liegen. Ich brauche Sabines Handy. Ich habe sie kürzlich noch damit gesehen. Die Hülle ist knallpink und hat ein Blumenmuster. Kannst du deine Mitarbeiter bitten, im Hotel danach zu suchen?«
»Natürlich.«
»Hatte Sabine einen Freund?«
»Tut mir leid, das weiß ich nicht.«
»Was ist mit Freundinnen? Mit wem hat sie an freien Tagen ihre Zeit verbracht?«
»Das weiß ich auch nicht.« Er zögert, bevor er weiterspricht. »Das Privatleben unserer Angestellten ist für uns tabu.«
»Wie wirkte sie denn gestern Abend auf dich?«
»Entspannt wie immer; sie hat mit den Kellnern herumgealbert. Ich habe von sechs Uhr bis nach Mitternacht gearbeitet und war die ganze Zeit zwischen Restaurant, Bar und Rezeption unterwegs. Wir haben uns noch eine gute Nacht gewünscht, als ihre Schicht zu Ende war.«
»Weißt du irgendwas Privates über sie?«
»Nur, dass sie katholisch war; sie hat mich gefragt, ob es hier eine Kirche gibt.«
»Okay, ich werde dem nachgehen. Mein Team muss noch mal wiederkommen, heute oder morgen.«
»Jederzeit. Einer von uns ist immer da.«
Ich ziehe die Tür zu Sabines Zimmer zu und bitte Polkerris, abzuschließen und mir den Schlüssel zu geben, damit niemand an ihre Sachen herankommt. Als wir gerade gehen wollen, fällt mir eine Gestalt am Ende des Flurs auf; es ist nicht mehr als ein Schatten, und sie huscht davon, bevor ich ihr Gesicht erkennen kann. Das erinnert mich daran, dass Gerüchte die Runde machen werden, wenn wir nicht bald sachliche Informationen zur Verfügung stellen. Polkerris ist zu sehr in Gedanken, um den Lauscher zu bemerken. Als wir durch den Garten zurückgehen, lasse ich meinen Blick über die Blumenbeete gleiten. Die Rosen bieten ein ideales Ambiente für noble Hochzeitsfeiern, die Haupteinnahmequelle des Hotelgewerbes. Hochzeitspaare zahlen viel Geld, um sich ihr Ja-Wort in so einem historischen Gemäuer geben zu können. Als wir am Ausgang ankommen, hat mein ehemaliger Klassenkamerad sich wieder gefasst, und ich frage mich, wo er die Aggressionen gelassen hat, die ihn als Kind angetrieben haben. Er wirkt ruhig und nüchtern, als ich ihn anweise, seine Mitarbeiter nicht über Sabines Tod zu informieren, bevor die öffentliche Versammlung gegen fünfzehn Uhr vorbei ist.
Als ich aufs Revier zurückkehre, klemmt Lawrie Deane noch immer hinter dem Empfangstresen, aber Shadow springt sofort auf, in der Hoffnung, jetzt über den Strand jagen zu dürfen. Lawrie telefoniert gerade mit dem Flugplatz, und das ist die erste gute Nachricht des Tages: Liz Gannicks Flieger von Penzance befindet sich im Landeanflug. Wenn uns das der Wahrheit näherbringt, nehme ich alle Hilfe an, die ich kriegen kann. Als ich mich auf den Weg machen will, um die Kriminaltechnikerin abzuholen, fällt mir plötzlich ein brauner Umschlag auf, der unter der Türmatte hervorlugt. Er wurde offenbar unter der Tür durchgeschoben und ist bis jetzt niemandem aufgefallen. Vorn drauf stehen in unregelmäßigen schwarzen Lettern mein Titel und mein Name: DI Ben Kitto. Ich überlege, ihn auf meinen Schreibtisch zu werfen und erst später hineinzuschauen, doch mein Bauchgefühl rät mir, es gleich zu tun. Der Umschlag enthält ein einzelnes Polaroidfoto, bei dessen Anblick sich mein Magen sofort wieder zusammenzieht. Sabine ist darauf zu sehen, und ihr Gesicht wird von demselben Schleier eingerahmt, den sie auch heute Morgen trug. Hier ist sie allerdings noch sehr lebendig; sie blickt mir als die ungeschminkte, natürliche Schönheit entgegen, als die ich sie in Erinnerung habe, doch aus ihrer Miene spricht der blanke Horror. Wenn sie das Foto selbst aufgenommen hat, bevor sie sich umgebracht hat, ist es eine makabre Art von Selfie. Möglicherweise hat sie den Umschlag ja gestern Nacht unter der Tür durchgeschoben, bevor sie nach Peninnis Head hinausgeradelt ist.
Erst jetzt kommt es so richtig bei mir an, dass die junge Frau, mit der ich geschwommen bin, aus dem Leben gerissen wurde; ganz gleich, auf welche Weise es geschehen ist. Als ich das Foto erneut betrachte, sehe ich, dass es weder Hinweise auf die Zeit noch auf den Ort der Aufnahme enthält. Ich kann nicht wissen, ob es nur Minuten oder Stunden vor ihrem Tod gemacht wurde. Aber als ich es umdrehe, steht mit weißem Marker auf der Rückseite: Die Braut trägt heute ihr Geschmeide, auf ewig schön im weißen Kleide. Ich weiß nicht, woher dieser Satz stammt, aber ich muss es herausfinden. Sabine könnte ihn selbst geschrieben haben, in der Gewissheit, dass ein früher Tod ihre Schönheit für immer konservieren wird, aber ich hatte nie den Eindruck, dass sie eitel war. Wenn sie ermordet wurde, haben diese Worte eine andere Bedeutung. Der Killer hat sich nicht damit zufrieden gegeben, eine lebensprühende junge Frau zu töten: Er verhöhnt uns auch noch. Und vielleicht ist der Mistkerl jetzt weniger als eine Meile entfernt und plant bereits die nächste Tat.