KAPITEL 10

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SCHLAF MACHT DEN KOPF FREI

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In dieser Nacht knurrte mein Magen im Einklang mit dem untoten Gesindel. Als ich sie vor meiner sicheren Beobachtungskammer auftauchen sah, ertappte ich mich doch glatt dabei, wie ich die umherstreifende Meute mit großem Hunger beäugte. Ich konnte es kaum erwarten, dass die Morgendämmerung kam und sie endlich alle in widerliche Häufchen Fleisch verwandelte.

Ich bin jetzt wohl ein Aasfresser, dachte ich und merkte mir die Stellen, an denen Zombies erschienen. Oder welche Tiere ernähren sich von totem Fleisch, um zu überleben? Geier oder Hyänen oder Maden? Ja, genau das bin ich.

Ich glaubte, schon mal gehört zu haben, dass die frühe Menschheit auch so angefangen hatte. Sie hatte andere Aasfresser vertrieben, um sich an den angefressenen Tierkadavern zu laben. Vielleicht stimmte das ja, oder vielleicht redete ich mir das nur ein, um mich besser zu fühlen.

Wenigstens war es dank meines Fackelbaums einfacher, die Ghule aufzustöbern. Vielleicht war das ja doch keine völlige Zeitverschwendung gewesen, dachte ich und ahnte nicht, wie recht ich damit hatte. Während die Nacht voranschritt, fiel mir auf, dass keine Zombies – und auch sonst keine Monster – in der Nähe des Lichtkreises erschienen. Sie tauchten überall sonst auf. Im Wald, auf der Weide, bei der Lagune, ja sogar auf dem Strand, soweit ich den Küstenstrich von hier aus überblicken konnte – jedoch zu keiner Zeit in der Nähe des hell erleuchteten Baums.

„Können Monster nur in der Dunkelheit erscheinen?“, fragte ich mich und erhielt unerwartet Antwort von der Hintertür meines Bunkers. Verrottete Fäuste pochten lautstark dagegen, begleitet von aggressivem Grunzen.

„Lieferung frei Haus!“, rief ich und durchquerte den Tunnel, rüber zum Ausgang auf der Strandseite. Wie vermutet hämmerte ein Zombie gegen die dünne Holzbarriere. „Bleib, wo du bist“, sagte ich zu ihm und war erstaunt, wie anders sich dieser Moment anfühlte, verglichen mit dem ersten Mal, als ein Ghul davor gestanden hatte. „Fast so, als hätte ich Pizza bestellt.“

Die letzten Worte hätte ich mir besser gespart, denn sie erinnerten mich daran, wie echtes Essen schmeckte. Pizza … gebratene chinesische Nudeln … Hähnchen Tikka Masala … Ich war mir nicht sicher, was genau meine Vorlieben daheim waren, doch im Moment klang alles davon sehr verlockend.

Ich schwelgte noch sabbernd in kulinarischen Erinnerungen, als ich das übliche schrille Geheul des brennenden Zombies hörte. Der Morgen war herangebrochen, und der untote Angreifer war nur noch Sekunden von seinem endgültigen Ableben entfernt.

„Das nennt man wohl Ironie des Schicksals“, sagte ich zu dem vor sich hin schwelenden Nachtwandler. „Und dabei wolltest du doch mich auffressen.“ Wenig später würgte ich bereits mein zerfallendes Frühstück hinunter.

Sei dankbar für das, was du hast, rief ich mir ins Bewusstsein, während ich die gesegnete Milch hinterherkippte. Und ich konnte wirklich dankbar sein, denn nach dem letzten Schluck stellte ich fest, dass mein Körper vollständig geheilt war. Die blauen Flecken waren verschwunden, mein Kopfweh abgeklungen, und mein Fußknöchel konnte wieder mein volles Gewicht aushalten, ohne zu murren. Sogar mein Atem roch wieder normal. Was durchaus an Hohn grenzte, bedachte man die widerliche Fäulnis, die ich mir eben in den Mund gestopft hatte.

„Sei dankbar“, sagte ich zu mir, was jedoch nur der zum Scheitern verurteilte Versuch war, die Erinnerungen an die menschliche Küche zu vertreiben.

Enchiladas mit Käse, Pommes frites mit Ketchup, Pfannkuchen mit Blaubeeren und Ahornsirup, dazu noch ein paar Streifen Frühstücksspeck …

„Ich muss mir echte Nahrung besorgen“, sagte ich und spazierte rüber zu dem kleinen Garten. Dort hatte ich jedoch kein Glück. Die neuen Keimlinge waren kaum um einen winzigen Würfel höher gewachsen als noch am Vortag.

„Uff“, stöhnte ich und zuckte bei dem Gedanken an das gestrige Fiasko zusammen. Wie weit könnte ich damit jetzt wohl schon sein, hätte ich es nicht so dermaßen verbockt? Wäre mein Frühstück dann vielleicht eine Schüssel voller Getreideflocken anstelle ekliger Zombie-Häppchen gewesen?

„Denk nicht zu lange über deine Fehler nach“, sagte ich zu mir und zwang meine Gedanken in die Gegenwart zurück. „Lerne lieber daraus.“

Und ich lernte tatsächlich daraus. Während ich den Garten musterte, stellte ich nämlich fest, dass die Samen, die ich gleich neben dem Ufer eingepflanzt hatte, schneller wuchsen als die anderen.

Ich hatte recht! Meine Gedanken überschlugen sich. Ich hatte mit meiner Vermutung recht gehabt, was das Wasser betrifft, doch leider damals keine Ahnung, was ich damit anfangen sollte.

„Bloß kein Wasser auf die Samen kippen“, sagte ich und verspürte das Bedürfnis, meinen Kopf gegen eine Wand zu schlagen. „Lass es neben ihnen verlaufen!“ Die Lösung war so einfach. Wieso war mir das nicht früher eingefallen?

Ich holte meine Schaufel hervor und hob schwungvoll einen Graben neben den Samenflächen aus. Wasser strömte hinein, doch aufgrund der bizarren Naturgesetze dieser Welt floss es nicht weit genug, um den ganzen Graben auszufüllen. Ich nahm meinen Eimer, schöpfte einen Würfel Wasser aus dem Meer und kippte ihn am hinteren Ende in den Graben hinein … nur um schon wieder eine weitere sonderbare Regel dieser Welt kennenzulernen. Hat man zwei Würfel Wasser und platziert sie nur einen Block weit voneinander entfernt, entsteht im Zwischenraum ein neuer Wasserwürfel. Und das nicht nur vorübergehend. Man kann diesen neuen Würfel herausnehmen und den nachfolgenden genauso und auch den danach, bis man schließlich genügend davon hat, um einen ganzen Teich anzulegen. Man braucht also nur zwei Ausgangswürfel, um ein Meer zu erschaffen. Was ich damit sagen will: In dieser Welt erzeugt Wasser Wasser.

Warum ich auf diesem kleinen, seltsamen, langweiligen und nebensächlichen Detail so lange herumreite? Weil es mir im späteren Verlauf dieser Geschichte noch das Leben retten wird.

Doch kehren wir zurück zum Hier und Jetzt. Während ich dabei zusah, wie sich der Graben füllte, erinnerte ich mich an eine Fabel von einer ungeduldigen Kröte, die genau wie ihr Freund, der Frosch, ihr Glück bei der Gartenarbeit versuchen wollte. Und im Geiste dieser Fabel grölte ich: „Ihr Samen, so wachset!“

Ich grinste über meine eigene Pfiffigkeit. Wobei ich, um ehrlich zu sein, ja bloß die Geschichte von jemand anderem zitierte. Und ich wusste natürlich, dass ich noch ein Weilchen warten musste, bevor ich ausprobieren konnte, Weizen mit Weizen zu kombinieren.

Vorausgesetzt natürlich, dass es sich hierbei auch wirklich um Weizen handelte.

Besonnenheit, dachte ich und gab mir alle Mühe, nicht daran zu denken, wie viele Zombie-Reste ich noch verspeisen musste, bis es endlich so weit war. Besonnenheit.

Da hörte ich es plötzlich neben mir platschen. Ich sah auf und erblickte einen Tintenfisch.

„Weißt du“, rief ich dem achtarmigen Seeungeheuer zu, „es gibt da noch etwas auf dieser Insel – oder genauer gesagt im Wasser drum herum –, was ich noch nicht versucht habe zu essen!“

Mittlerweile war ich ziemlich selbstbewusst. Ich war wieder bei Kräften – und noch viel wichtiger, ich hatte meine Superheilung zurück. Ich war geradezu begierig auf neue Herausforderungen. Vor allem, wenn dabei als Belohnung ein halbwegs genießbares Mahl heraussprang.

Ich schnappte mir meine Axt, rief lautstark: „Calamari!“ und hüpfte ins Wasser. Der Tintenfisch ahnte wohl, was auf ihn zukam, und düste davon. „Ja, so ist es recht!“, rief ich ihm hinterher. „Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich noch Angst vor dir, weißt du noch?“

Meine achtarmige Beute hielt unmittelbar unter der Wasseroberfläche inne, was mir gestattete, nach ihr zu schlagen. Ich erhob meine Axt – worauf ich prompt unterzugehen begann. Mein Meeresfrüchte-Lunch lachte still in sich hinein – ja, ich war mir sicher, dass es lachte – und schwamm von dannen.

„Komm zurück!“, rief ich und schwamm hinterher. „Schwimm gefälligst in meinen Ofen!“

Ich verfolgte den Tintenfisch bis hinter das südliche Ufer der Insel und versuchte dabei, gleichzeitig zu schwimmen und nach ihm zu schlagen. Falls dir das bis jetzt noch nicht selbst klar geworden sein sollte: ein Ding der Unmöglichkeit.

Genauso wie diese Welt es nicht erlaubte, sich gleichzeitig mit einer Hand den Kopf zu kratzen und mit der anderen den Bauch zu reiben, so war es nicht gestattet, irgendetwas anderes zu tun außer zu schwimmen, während man schwamm. Es dauerte jedoch fünf geschlagene und tragikomische Minuten, bis ich endlich zu dieser Erkenntnis kam. Das Ende vom Lied war natürlich, dass der Tintenfisch in die Tiefen des Meeres davondüste.

„Behalt’s für dich“, sagte ich, als ich zurück an Land stolperte und in die vorwurfsvollen Augen von Muh blickte. „Mir ist schon klar, dass ich noch ein Boot herstellen muss.“ Das tat ich dann auch. Und ich setzte es sogleich dafür ein, einem ganzen Tintenfischschwarm nachzustellen. Wie wild hackte ich aufs Wasser ein. Was aber nur dazu führte, dass ich mich im Boot ständig im Kreis drehte. Diesmal konnte ich aber nicht den Gesetzen dieser Welt die Schuld geben. Im Prinzip hätte mir das gelingen müssen. Und ich vermute mal, du hattest auch Erfolg damit … Aber ich? Ich war einfach nur froh, dass niemand da war, der meine lächerliche Aufführung mit ansah. Na ja, fast niemand.

„Muh!“, rief mir meine kritische Kuh vom Strand aus zu.

„Ach ja? Dann komm du doch hier raus und versuch’s selber!“, rief ich zurück. Im nächsten Augenblick wurde mir klar, dass sie mich nur warnen wollte. Als ich hochblickte, erkannte ich, dass ich nicht nur immer weiter hinaussteuerte, sondern dass auch nur noch wenige Minuten bis zum Einbruch der Nacht blieben.

„Morgen“, versprach ich Muh, und das Boot glitt zurück an Land. „Dann versuche ich es noch einmal.“

Das quittierte sie nur mit einem Schnauben.

„Ganz im Ernst, das mach ich wirklich!“, behauptete ich, auch wenn ich wusste, dass sie recht hatte. Während ich zu meinem Beobachtungsraum zurückstapfte, musste ich mir eingestehen, dass meine Fischerei vom Boot aus gescheitert war. Etwas anderes musste her, entweder eine neue Methode oder ein völlig neues Werkzeug.

Die Sonne am Himmel wich Sternen, und ich grübelte weiter darüber nach, wie ich mir am besten einen Tintenfisch schnappen könnte. Doch gute Ideen waren in dieser Nacht Mangelware.

Immer wieder schweiften meine Gedanken ab, und ich hatte Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Erinnerungen an meine bisherige Zeit auf der Insel sowie Beobachtungen durch meine Fensterwand vermischten sich mit verschwommenen Bildern meiner vergangenen Welt. Nichts Spezielles, eher Sinneswahrnehmungen, wie zum Beispiel, dass meine Augen brannten, meine Finger sich verkrampften oder mein Hintern ganz taub vom vielen Sitzen wurde. Was hatte das alles zu bedeuten? Und wieso ausgerechnet jetzt? Mir kam es so vor, als hätte sich eine Nebelwand über mein Gehirn gelegt.

„Ich muss nachdenken“, sagte ich und wünschte, ich könnte mir die Schläfen massieren.

In dem Moment kam ein Skelett aus dem Wald geklappert. Sein Auftauchen verdeutlichte nur, warum mein Verstand eben auch mal eine Auszeit brauchte.

„Ein Bogen!“, rief ich und blickte auf den Pfeil in meinem Gürtel herab. „Warum ist mir das nicht schon viel früher wieder eingefallen?“

Dabei war ich doch so scharf darauf gewesen, einen zu bergen. Warum hatte ich das vergessen? Zum Glück hatte sich das Skelett erst wenige Augenblicke vor Morgengrauen gezeigt. Noch viel erfreulicher war, dass ich kurz darauf nicht nur seinen Bogen, sondern auch einen weiteren Pfeil bergen konnte.

„Jetzt wirst du ja sehen!“, prahlte ich vor Muh, die zusammen mit den zwei Schafen ihr Frühstück kaute. „Bääh“, rief das schwarze Schaf, das ich Feuerstein taufte.

„Genau, danke“, stimmte ich zu und nickte. „Jetzt muss ich erst mal den Umgang damit üben.“

Und das tat ich. Ausgiebig. Ich verbrachte den ganzen Morgen damit, endlose Male auf denselben Baum zu schießen. Was mich zu einem einigermaßen fähigen Bogenschützen machte. Ich lernte, wie hoch man zielen und wie stark man die Sehne spannen musste, um die richtige Distanz zu erreichen. Als es Mittag war, fühlte ich mich bereit, meine Fähigkeiten am lebenden Ziel auszuprobieren.

„Seid ihr bereit, Leute?“, fragte ich mein tierisches Publikum. „Dann seht jetzt dem Meister bei der Arbeit zu!“ Sie schienen meiner Ankündigung nicht viel Glauben zu schenken, denn sie wandten mir ihr Hinterteil zu und grasten unbeirrt weiter. „Wartet’s nur ab“, sagte ich und ging raus auf den Strand. „Einmal Calamari am Spieß, kommt sofort!“

Etwa ein Dutzend Blöcke weit draußen im Meer machte ich den nächsten Tintenfisch aus. Ich zog die Sehne nach hinten und nahm mir Zeit, genau zu zielen.

WUSCH!, pfiff der Pfeil, und seine Flugbahn beschrieb einen flachen Bogen.

„Ha!“, schrie ich, als das Geschoss sein Ziel traf. Ich sah, wie der Tintenfisch rot aufblitzte und in einer Rauchwolke verschwand. Er schrumpfte zu einem kleinen, schwarzen Ding, das sofort versank und aus meiner Sichtweite verschwand.

Ich werde dir nicht verraten, welches Wort ich daraufhin lauthals schrie. Ich bin nicht stolz darauf, aber ich sollte wohl einen Preis dafür gewinnen, dass ich ein Wort mit zwei Silben locker auf einen Schrei von zehn Sekunden ausdehnen konnte.

„Pfff“, schnaubte Muh hinter meinem Rücken, als wollte sie sagen: „Was hast du erwartet? Und warum hast du dir keinen Plan zur Bergung deiner Beute zurechtgelegt?“

„Keine Ahnung“, antwortete ich und erkannte erst jetzt die Lösung für das Problem. „Ich hätte etwas am Pfeil festbinden oder versuchen sollen, ein Netz herzustellen … Oder aber darauf warten, dass ein Tintenfisch näher ans Ufer schwimmt! Warum ist mir das bloß nicht vorher eingefallen?“

Ich begann, planlos hin und her zu laufen. „Du Idiot!“, schimpfte ich mit mir und wünschte, ich könnte mich in dieser Welt selbst schlagen. „Du dummer, dämlicher Idiot!“

„Muh!“, unterbrach mich meine strenge Freundin und zwang mich damit, sie anzublicken.

„Du hast recht“, sagte ich. „Wenn man Lösungen sucht, ist sich selbst fertigzumachen sicher keine.“

„Muh“, antwortete die Kuh, als wollte sie sagen: „Okay, schon besser.“

„Ich weiß ja, dass ich kein Idiot bin“, sagte ich und hob meine Hände. „Aber irgendetwas stimmt nicht mit mir. Es ist, als würde mein Gehirn nur die Hälfte der Zeit richtig funktionieren.“

Ich begann wieder, hektisch umherzulaufen. Diesmal aber nicht aus Ärger oder Frust, sondern um besser nachdenken zu können. „Das ist keine Panik oder Hunger. Es ist etwas Neues. Na ja, nicht wirklich neu. Ich habe dieses Gefühl schon eine ganze Weile. Aber jetzt, da ich wohlgenährt bin und gerade mal keine akute Todesangst ausstehen muss, wird mir langsam klar, was der Grund für meine Blockade ist.“ Ich spürte nämlich, wie sich ein stetes beklemmendes Angstgefühl in mir breitmachte, und das war das Allerletzte, was ich jetzt gebrauchen konnte.

„Irgendwelche Vorschläge?“, fragte ich die Tiere. „Habt ihr vielleicht eine Idee, was diese Beklommenheit auslöst?“ Muh, Feuerstein und Wolke, das weiße Schaf, gafften mich nur an.

„Ich auch nicht“, sagte ich und sah zur untergehenden Sonne hoch. „Und das bereitet mir die größten Sorgen.“

Ich trottete zu meinem Beobachtungsraum zurück und versuchte, mich wieder auf das Thema Fischen zu konzentrieren. Ich senkte meinen Blick auf das erbärmliche kurze Stück Spinnenseide in meinem Rucksack.

Einen Versuch an der Werkbank später wusste ich, dass man sie nicht an einem Pfeil festbinden konnte. Und mit nur einem einzigen Strang würde ich auch kein Netz herstellen können. Ich brauchte noch ein Stück Spinnenseide, oder aber …

Ich hob den Blick von meiner Werkbank und sah durch die große Fensterwand zu den Schafen rüber, die auf der mittlerweile dunklen Weide grasten.

Wolle!

„Dafür muss die Schere gut sein!“, rief ich ihnen zu. „Damit kann man Wolle einsammeln!“

Diese Theorie setzte völlig neue Energien frei, und ich begann, meinen Weg der vier Ps plus einem B zu besingen. Für eine Schere würde ich mehr Eisen brauchen, also musste ich wieder unter Tage, und dafür wiederum musste ich mehr Fackeln und eine Spitzhacke herstellen.

Ich hatte zwar zunehmend mit beunruhigenden Gedanken zu kämpfen, dennoch gelang es mir, einen kühlen Kopf zu bewahren. Ich plante, präparierte und priorisierte sinnvoll, sodass ich es hinunter in mein spiralartiges Treppenhaus schaffte, wo ich nach Eisen suchte.

Ich weiß nicht recht, wie lange es dauerte. Ich verlor jedes Gefühl für die Zeit. Als ich endlich genug Eisen beisammen hatte, um es zu einer Schere zu schmelzen und damit zu meinen blökenden Kameraden zu eilen, waren gut und gern eineinhalb Tage vergangen.

„Keine Angst“, sagte ich nervös und hielt das u-förmige Schneidewerkzeug nah an Feuerstein. „Das wird nicht wehtun.“

Bitte tu ihm nicht weh, betete ich.

SCHNIPP!, machten die glänzenden Metallklingen und schnitten drei Blöcke schwarzer Wolle ab. „Jawohl, der Herr, jawohl! Drei ganze Blöcke!“

„Bääh“, antwortete mein unverletzter, aber ziemlich nackter Freund.

„Keine Angst“, versicherte ich Feuerstein. „Das wächst wieder nach.“

Bitte wachse wieder nach, flehte ich und lief mit der Wolle zurück zu meinem Beobachtungsraum.

Wäre mein Verstand genauso scharf gewesen wie die Schere, hätte die Herstellung wohl nur wenige Minuten beansprucht. Aber mein immer trüber werdender Geist sorgte dafür, dass sich der Prozess bis in den frühen Abend zog. Wolle mit Spinnenseide, Wolle mit ein paar Stöcken, Wolle mit Wolle … Als ich endlich bei Wolle mit Holzbrettern angekommen war, war die Sonne längst untergegangen.

Doch das sollte sich als glücklicher Umstand erweisen. Denn als ich die drei Wollblöcke über drei Einheiten Holzbretter platzierte, ergab sich daraus die Rettung für mein verschleiertes Gehirn.

Nämlich ein Bett. Nichts Besonderes, ganz schlicht in seiner Form, aber dennoch ein erstaunlicher Anblick. Die Holzbretter hatten sich in ein Gestell mit vier Beinen verwandelt. Die schwarze Wolle war aus irgendeinem Grund zu einem weißen Laken, einer roten Decke und einem weichen, weißen Kissen geworden.

Ich platzierte das neue Möbelstück in meinem Bunker. Und dann tat ich etwas, das ich nicht mehr getan hatte, seit ich zum ersten Mal in dieser Welt aufgewacht war: Ich gähnte.

Ich muss mich ausruhen, dachte ich. Wieso hatte ich nicht schon früher daran gedacht?

Weil ich mich ausruhen musste, um wieder klar denken zu können. Logisch!

Ich fühlte mich nach wie vor nicht erschöpft im körperlichen Sinne. Was wohl auch der Grund war, warum ich keinen Gedanken ans Schlafen verschwendet hatte. Und ich war ja auch mehr als beschäftigt gewesen: mit Nahrungssuche, Wundheilung und dem nackten Überleben inmitten all der Monster. So hatte ich gar nicht bemerkt, wie sehr mein Geist Erholung nötig hatte.

Als ich jetzt in das kleine Bett kletterte, meinen Kopf auf das Kissen legte und die Decke bis zum Hals zog, entwich mir ein weiteres, längst überfälliges Gähnen.

Das wollten mir also diese Erinnerungen mitteilen, war mein letzter Gedanke. Verkrampfte Finger, brennende Augen, tauber Hintern, Erinnerungen an schlaflose, durchgemachte Nächte. Bloß wie sahen die aus? Hatte ich gearbeitet? Hausaufgaben gelöst? War ich einem Hobby nachgegangen? Was hatte mich die ganze Zeit wachgehalten?

„Morgen“, murmelte ich gähnend, während die Welt um mich herum schwarz wurde. „Darüber denke ich morgen nach, denn mit einer Mütze voll Schlaf bekommt man den Kopf am besten fr…“