KAPITEL 2
PANIK MACHT OHNMÄCHTIG
Ich setzte meine neue „Kraft“ dazu ein, die Laubblöcke an den restlichen Bäumen wegzuschlagen. Dafür wurde ich nicht nur mit zwei weiteren Äpfeln belohnt, sondern ich fand auch noch etwas sehr Wichtiges über meinen Gürtel und meinen Rucksack heraus.
Es geschah gleich nach dem ersten Apfel, während ich noch auf das Laub einschlug. Anstelle einer Frucht erhielt ich einen kleinen Setzling. „Streikst du schon wieder?“, fragte ich meine vorm Mund erstarrte Hand und ließ den Mini-Baum in meinen Gürtel fallen. Als ich Sekunden später noch einen weiteren erhielt, steckte ich ihn gedankenverloren in dieselbe Tasche.
Da wurde mir klar, dass sie nicht nur schrumpften, sondern auch ganz flach wurden und sich wie Spielkarten stapelten. „Sieh mal einer an“, sagte ich grinsend. „Das könnte ganz praktisch sein!“
Diese Feststellung sollte sich schon bald als maßlose Untertreibung herausstellen. Als ich alle drei Bäume von ihren Laubkronen befreit hatte, befanden sich zwölf zu einem Stapel zusammengepresste Setzlinge in nur einer Tasche. Noch dazu wog das Ganze nahezu nichts!
Ich sah mir die anderen Fächer in meinem Rucksack an, und sofort schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Darin kann ich ein ganzes Warenhaus voller Gegenstände herumtragen! Und das bedeutet …
„Das bedeutet …“, wiederholte ich laut und blickte böse auf den Gürtel hinab. Meine Stimmung war am Boden, und ich fühlte mich wie einer der zusammengepressten Setzlinge. „Bevor ich nicht etwas finde, was sich mitzunehmen lohnt, bist du genauso nützlich wie ein windbetriebener Ventilator.“
Es muss doch noch mehr Apfelbäume geben, dachte ich und blickte die felsige Wand hoch. In meiner anfänglichen Panik hatte sie wie eine unüberwindbare Barriere gewirkt. Doch jetzt, da ich ruhiger, selbstsicherer und satt war, erkannte ich, dass sie eher einem steilen Abhang als einer kerzengeraden Wand glich.
Wer weiß, was dahinter auf mich wartet, dachte ich und kletterte über die quadratischen Erdblöcke nach oben. Hätte ich vorhin erst mal nachgedacht, hätte ich sicher nicht dieses abgelegene Ende der Insel angesteuert, an dem ich jetzt festsaß.
Vielleicht war es ja gar keine Insel. Vielleicht war dieser Strand der Anfang eines ganzen Kontinents! Versteh mich nicht falsch, ich dachte noch immer, das sei alles nur ein Traum. Dennoch konnte ich es kaum abwarten, über den Hügel zu klettern, um dahinter eine Jägerhütte, eine Stadt oder eine riesige Metropole zu entdecken – oder was immer dort wartete …
Oder auch nicht.
Ich stand auf dem abgeflachten grünen Gipfel und starrte enttäuscht auf den Rest der offenbar unbewohnten Insel.
Vor mir erstreckte sich Land wie die Scheren einer Krabbe. Zwei bewaldete Hälften umschlossen fast vollständig eine runde, seichte Lagune. Ich konnte nicht einschätzen, wie groß die Insel war. Zu diesem Zeitpunkt war ich nicht sonderlich geübt darin, Entfernungen in Blockgrößen abzuschätzen. Allzu ausgedehnt konnte sie allerdings nicht sein, denn im Licht der Nachmittagssonne erkannte ich ihre Grenzen. Und so wie das orangefarbene Viereck hinter dem Horizont versank, so schwand auch jegliche Hoffnung in mir.
Wie schon vorher im Meer beherrschte mich plötzlich wieder der Gedanke, dass ich allein war.
Und genau wie da sollte ich mich irren.
„Muh.“ Das Geräusch ließ mich aufschrecken.
„Was zum …?“, sagte ich und blickte mich nervös um. „Wer … Wer ist da?“
„Muh“, machte es erneut, worauf ich meinen Blick auf den Fuß des Hügels richtete. Da stand ein Tier, schwarz und weiß – mit einem Körper, der genauso viereckig wie alles andere in dieser Umgebung war.
Für den Abstieg wählte ich die westliche Seite des Hügels, die einfacher und weniger steil war als die schreckliche Ostseite. Unten angekommen ging ich ganz nah an die furchtlose Kreatur heran. Bei genauerer Betrachtung erkannte ich, dass sie nicht nur schwarz und weiß war. Graue Hörner, pink im Inneren der Ohren und ein rosafarbener, flacher Sack unter dem Magen …
„Du musst eine Kuh sein“, sagte ich, und das darauffolgende „Muh“ war das schönste Geräusch, das ich heute gehört hatte. „Du weißt ja gar nicht, wie ich mich freue, dich zu sehen“, seufzte ich. „Also, ich weiß ja, das ist alles nur ein Traum, aber es fühlt sich verdammt gut an, nicht …“ – das Wort blieb mir im Halse stecken, ich hatte auf einmal so ein beißendes Gefühl in der Nase und den Augen – „… allein zu sein.“
„Bääh“, antwortete die Kuh.
„Warte, was?“, fragte ich und ging einen Schritt näher heran. „Bist du irgendwie zweisprachig unterwegs oder so?“
„Bääh“, machte das Tier, jedoch nicht das vor mir. Ich sah hoch, über die Kuh hinweg, wo sich der wahre Erzeuger dieses Geräuschs befand. Er war viereckig – welch Überraschung –, aber ein wenig kleiner und fast komplett schwarz. Im dämmrigen Abendlicht hatte ich ihn übersehen. Als ich mich jetzt dem dunklen Waldstück näherte, trat ein weiteres Tier, so weiß wie die Wolken am Himmel, aus dem Schatten seines schwarzen Zwillings hervor. Trotz der flachen, geraden Umrisse konnte ich vage Details ihres Wollkleids ausmachen.
„Ihr seid Schafe“, sagte ich grinsend und streckte meine Hand aus, um eines zu streicheln. Ich hatte nicht nachgedacht. Ich wollte es nicht schlagen.
Das Tier schrie auf, leuchtete rosarot und zischte ab in den Wald. „Tut mir leid!“, rief ich ihm noch nach. „Tut mir echt leid, kleines Schaf!“ Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, dass ich mich seinem gefasst wirkenden Freund zuwandte und drauflosplapperte. „Das war wirklich keine Absicht. Ich kann mit diesem Körper immer noch nicht richtig umgehen, verstehst du?“
„Gack, gack, gack“, ertönte eine Antwort zu meiner Linken. Zwei kleine Vögel, jeder etwa einen Block hoch, pickten in meiner Nähe auf dem Boden herum. Sie hatten kurze Beine, plumpe eckige Körper in einem weißen Federkleid und kleine Köpfe, die in flachen, orangefarbenen Schnäbeln mündeten.
„Ich bin mir nicht sicher, ob ihr Hühner seid“, sagte ich zu ihnen. „Ihr habt irgendwie auch was von Enten.“
Sie sahen für eine Sekunde zu mir auf und gluckten. „Aber ihr klingt wie Hühner“, fuhr ich fort. „Also ist es wohl besser, euch Hühner zu nennen statt … Hühnenten.“
Der Witz brachte mich zum Kichern, das bald zu schallendem Gelächter anschwoll. Es tat gut, zu lachen. Dabei fielen der ganze Wahnsinn und die Anspannung des Tages von mir ab.
In dem Moment hörte ich ein neues Geräusch.
„Gnaaah.“
Es war ein heiseres, sabberndes Gurgeln, das mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Ich blickte umher, um die Quelle zu bestimmen. Auf dieser Insel schienen die Geräusche aus allen Richtungen zu kommen. Ich stand da und lauschte, während ich mir wünschte, die Hühner würden Ruhe geben.
Dann roch ich es. Schimmel und Verwesung. Wie eine tote Ratte in einer alten Sportsocke. Ich sah die Gestalt erst, als sie sich etwa auf ein Dutzend Schritt genähert hatte. Zuerst dachte ich, es sei ein anderer Mensch, denn die Gestalt war angezogen wie ich, sodass ich automatisch einen Schritt auf sie zumachte.
Doch genauso instinktiv stoppte ich wieder und bewegte mich zügig rückwärts. Die Klamotten zerrissen und schmutzig, das Fleisch grün und fleckig. Ihre Augen – wenn man sie als solche bezeichnen wollte – nur leblose schwarze Punkte in einem flachen, starren Gesicht.
Erinnerungen schossen mir durch den Kopf, Bilder von Kreaturen, die ich zwar aus Geschichten kannte, aber noch nie in der Realität gesehen hatte. Doch hier war so eine, und sie kam mit ausgestreckten Armen auf mich zu.
Ein Zombie!
Ich wollte flüchten, doch dabei knallte ich gegen einen Baum. Der Zombie war fast da. Ich duckte mich. Verrottete Fäuste hämmerten auf mich ein, und ich wurde zurückgeschleudert. Schmerz schoss durch meinen Körper. Ich rang nach Luft. Er stürzte sich auf mich, ich stürzte davon.
Von Angst getrieben sprintete ich den Hügel hinauf. Meine Gedanken waren leer, ich hatte keinen Plan. Grauen bestimmte jetzt jeden meiner Schritte. Irgendetwas „klapperte“ in der Dunkelheit hinter mir, worauf ein leises Pfeifen die Luft durchschnitt. Etwas schlug im Baum vor mir ein. Ein zitternder Stock mit einer Feder am hinteren Ende. Ein Pfeil! War der Zombie bewaffnet? Mir war nichts aufgefallen. Ich rannte weiter.
Zu meiner Rechten blitzte etwas rot auf: eine Traube aus Augenpaaren, dazu ein kurzes Fauchen. Ich stürmte den Hügel hinauf und blickte mich erst wieder um, als ich auf dem Gipfel angekommen war. Im schalen Licht des aufgehenden quadratischen Monds sah ich, dass der Zombie mir noch immer folgte. Er war bereits unten am Hang angekommen und stieg mir jetzt nach.
Meine Kehle war vor Angst wie zugeschnürt, als ich die Ostseite des Hügels hinabschoss. Ich rutschte aus, stürzte und vernahm einen beunruhigenden Knacks.
„Argh“, zischte ich, als der Schmerz durch meinen Knöchel fuhr.
Wohin jetzt? Was tun? Sollte ich zurück ins Wasser springen und versuchen, davonzuschwimmen? Doch am Ufer der dunklen See erstarrte ich. Was, wenn der Tintenfisch noch da draußen war und jetzt Hunger hatte?
Ein weiteres Stöhnen hallte durch die sternenklare Nacht. Ich drehte mich um – der Kopf des Zombies tauchte am Gipfel des Hügels auf.
Panisch suchte ich nach einem Ausweg, einem Versteck.
Verzweifelt schoss mein Blick hin und her, bis er auf den Erdblock fiel, den ich heute ausgegraben hatte. Er brachte mich auf eine völlig verrückte Idee. Graben!
Als der Zombie sich daranmachte, den Hügel hinabzusteigen, rannte ich zum Kliff und hämmerte wild auf die Erde dort ein. Eins, zwei, drei, vier Schläge später, und der erste Block war aus dem Weg geräumt. Eins, zwei, drei, vier, und der Block dahinter war freigelegt.
Ich hörte den Zombie näher kommen, sein Stöhnen wurde immer lauter. Eins, zwei, drei, vier. Eins, zwei, drei, vier. Ich beseitigte vier Erdblöcke unmittelbar vor mir, zwei auf Augenhöhe und zwei darunter. Genug Platz, um mich gerade so hineinzuzwängen.
Tiefer, schrie ich in Gedanken. Tiefer rein!
Wenn das Schicksal reden könnte, hätte es jetzt hämisch gegrinst und gesagt: „Du gehst nirgends hin.“
Meine Fäuste prallten von etwas Kaltem und Hartem ab. Ich war auf Fels gestoßen. Einige sinnlose Schläge später wusste ich, dass ich in der Falle saß. Und das Monster war nur noch Sekunden entfernt.
Ich drehte mich um, sah den Zombie und platzierte panisch einen Erdblock zwischen uns. Der Zombie reichte darüber hinweg. Er verpasste mir einen Schlag gegen die Brust. Ich prallte gegen die steinerne Felswand. Meine Brust schmerzte, ich röchelte nach Luft. Aber ich schaffte es, noch einen zweiten Erdblock auf den ersten zu setzen.
Es wurde dunkel. Ich hatte mich lebendig eingegraben.
Mein Grab ließ zwar kein Licht hindurch, Geräusche aber konnte ich noch hören. Das Stöhnen des Zombies klang nach wie vor in meinen Ohren. Was, wenn er graben konnte? Was, wenn ich meinen Tod nur Sekunden hinausgezögert hatte?
„Geh weg!“, schrie ich hilflos. „Lass mich bitte einfach in Ruhe!“
Nur Würge- und Grunzlaute.
„Bitte!“ Ich flehte um mein Leben.
Emotionsloses, unaufhaltsames Stöhnen war die Antwort.
„Wach auf“, flüsterte ich. „Ich muss aufwachen, aufwachen, AUFWACHEN!“
Aus lauter Verzweiflung begann ich, auf und ab zu springen, wobei ich mit dem Kopf gegen die Decke stieß. So hoffte ich, wach zu werden.
„WACHAUFWACHAUFWACHAUF!“
Ich stolperte rückwärts und knallte wieder gegen die Steinwand. Mein Kopf pochte, meine Augen brannten, und meine Brust hob und senkte sich im Takt mit meinem Schluchzen und Keuchen.
„Warum?“, wimmerte ich. „Warum kann ich nicht endlich aufwachen?“
Genau in dem Moment stieß der Zombie ein tiefes, grausames Grunzen aus. „Weil es kein Traum ist.“
Nein, die Kreatur sprach nicht zu mir. Ich legte ihr die Worte in den verrotteten Mund, Worte, von denen ich wusste, dass ich sie einfach hören musste.
„Das ist kein Traum“, meinte ich die wandelnde Leiche sagen zu hören. „Es liegt auch an keiner Verletzung und ist keine Halluzination. Dieser Ort ist real, diese Welt ist real. Das wirst du akzeptieren müssen, wenn du hier überleben willst.“
„Du hast recht“, sagte ich zu dem Ghul. Ich wusste, dass ich nur mit mir selbst sprach, doch mit dem toten Typen zu reden kam mir irgendwie weniger irre vor. „Das passiert nicht nur in meinem Kopf. Das passiert wirklich.“
Der Fetzen eines Lieds, an das ich mich nur teilweise erinnern konnte, schwebte durch den Nebel meiner Amnesie. Es ging darum, sich an einem fremden Ort wiederzufinden. Ich konnte mich nicht an den ganzen Text erinnern, aber eine Zeile war hängen geblieben:
You may ask yourself, well, how did I get here?
„Ich weiß es nicht“, gab ich zu. „Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin, geschweige denn, wo ‚hier‘ überhaupt ist. Ein anderer Planet? Oder eine andere Dimension? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass es keinen Sinn hat, es noch länger zu leugnen.“
In dem Augenblick, in dem ich mich mit der Situation abfand, erfasste mich eine Welle der Erleichterung. Und mit der Ruhe kam mir ein neues Mantra in den Sinn.
„Panik macht ohnmächtig“, sagte ich zu dem Zombie. „Also ist es an der Zeit, keine Panik mehr zu schieben und lieber herauszufinden, wie man hier überlebt.“