Welches Verbrechen würdest du begehen? Eine Frage, die man sich gern stellt unter Anwälten. Welches Verbrechen würde etwas über uns aussagen, könnte Grundlage eines Urteils über uns sein? Bei diesem Spiel durfte man nur ein Verbrechen wählen. Marie entschied sich für den Mord mit einer kleinen Damenpistole, mir gefiel die Idee des Glücksspielbetrugs, der gezinkten Karten, aber nichts war meiner Meinung nach besser als ein waschechter Überfall: Hände hoch! Geld in die Taschen und ab.
An Inzest hatte ich nicht gedacht. Ein so reichhaltiges Verbrechen, das so viele Dinge begründet, in der Mythologie, der Psychoanalyse, der Literatur, die Grundlage der Grundlage, der Weltordnung, der Familien und der Zivilisation, das große Verbot. Inzest macht etwas her. Ein richtiges Männerverbrechen. Für eine Frau geradezu eine Auszeichnung. Ich wilder wohl im Revier der Männer. Es muss ihnen unangenehm sein, dass ausgerechnet ich einen Ständer bekomme. Zu viel der Ehre, mein Herr! Mich interessieren Frauen. Im Allgemeinen sind sie volljährig. Ich lege Wert auf Erfahrenheit.
Da war Sokrates, Jesus, Oscar Wilde, und nun ich. Es können nicht alle Teil dieses illustren Kreises sein. Und wo ich schon mal dabei bin, vergleiche ich mich auch gleich noch mit Spinoza: Verflucht sei er des Tages, verflucht des Nachts, verflucht im Schlaf und im Wachen, nimmermehr wolle der HERR ihm vergeben. Solche Sätze schreibt man am Pariser Gerichtshof heute nicht mehr. Keine gelungene Vita ist vollständig ohne einen Prozess, man muss ein wenig über die Stränge schlagen, kann nicht lebenslänglich ein braves Kind bleiben.
Ich habe den Beschluss selbst abgeholt. Das war am 4. August. Ein schlechtes Omen, hab ich mir gesagt, wie Malesherbes, der auf dem Weg zum Galgen stolpert. Mein Anwalt war auf Urlaub in Mexiko. Er hat mir Fotos von Inka-Tempeln geschickt. Es war sehr heiß. Ich bin auf meinem Roller über die Seine gefahren. Das Gerichtsgebäude war verlassen. Es war der alte Palais de la Justice, der bei Saint-Chapelle. Ich kannte ihn wie meine Westentasche: das Strafgericht, der Gang, auf dem es zum Untersuchungsrichter geht, die Antiterrorabteilung, der für sofortige Vorladungen reservierte Bereich, es war wie eine Heimkehr. Jahrelang hatte ich hier Vergewaltiger, Diebe, bewaffnete Räuber, Pädophile, Betrüger und Mörder verteidigt. Mit Familienrecht kannte ich mich allerdings nicht aus. Scheidungsfälle nahm ich nicht an, das war mir zu schäbig.
Die Gerichtsschreiberin wirft den Drucker an. Sie hält mir das Dokument hin. Ich lese es vor ihren Augen. Ich achte darauf, dass meine Gesichtszüge nicht entgleisen, meine Augen nicht nervös zucken. Ich falte die Blätter zweimal und stecke sie in meine Jackentasche. Vielen Dank, Frau Gerichtsschreiberin, auf Wiedersehen, Frau Gerichtsschreiberin. Ich setze meine Sonnenbrille wieder auf. Durchquere das Gerichtsgebäude in umgekehrter Richtung. Ich begegne keinen alten Kollegen, niemandem, den ich kenne, es sind Ferien. Ich achte auf meine Atmung, meine Gesten, bewege mich bewusst langsam. Ich steige wieder auf meinen Roller. Überquere erneut die Seine. Ich parke vor La Palette, klappe den Ständer aus, schalte den Motor ab und verstaue den Helm unterm Sitz. Ich gehe ein paar Schritte, setze mich auf den Gehsteig. Bleibe dort fünf Minuten, vielleicht auch zehn, ich weiß es nicht. Ich stehe wieder auf. Ich gehe bis zu mir, halte den Transponder an den Sensor, öffne die Tür mit der Schulter, steige in den fünften Stock, stecke den Schlüssel ins Schloss, betrete die Zweizimmerwohnung, in der ich seit drei Jahren wohne. Ich hab sie gemietet, als ich mich von Laurent getrennt hab. Es gibt ein Zimmer für Paul, ich schlafe auf dem Sofa im Wohnzimmer. Ich muss hier nicht mehr wohnen, ich brauche jetzt kein Bett mehr für ihn, brauche diese Sachen nicht mehr, seine und meine. Jedenfalls hab ich aufgehört, die Miete zu zahlen. Zeit, das alles aufzugeben und zu gehen. Was kann ich schon tun, außer diesen Weg weitergehen, ihn noch schneller gehen und leben wie ein Typ, ein Junggeselle oder solitary man, wie Johnny Cash singt. Von nun an bin ich ein einsamer Cowboy.