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Wassertürme, Regionalbahnhöfe, verlassene Fußballplätze, Lidl-Parkplätze, zerfallender Beton, zertrampeltes Gras, das stinkende Loire-Ufer, und über allem ein silbriges Licht. Das Taxi hat mich in Saint-Pierre-des-Corps abgeholt, wir haben das Camélinat-Stadion hinter uns gelassen, das Bahnarbeiter-Wohnheim, die Avenue Lénine, die La-Loco-Bar, wir sind den Deich entlanggefahren, die Loire entlang, niedriger Wasserstand, ein grauer Tag. Wir sind am Leclerc vorbei, dort gibt es jetzt einen McDrive, sind durchs Dorf gefahren, dann bergauf, der Fahrer hat mich bis vors Haus gebracht. Mein Vater vorm Fernseher, der Kamin voll rauchender Kohlen, die Krankenpflegerin kommt vorbei, um ihm sein Buprenorphin zu verabreichen und was er sonst noch so nimmt, die kleinen Label-5-Flaschen, die er vor meinem Besuch tief im Mülleimer zu verstecken versucht hat, die Heizkörper, die nicht richtig funktionieren, der kalte Fliesenboden, das zerfallende Badezimmer, überall Staub. Manchmal liebe ich Montlouis für seine Hässlichkeit, und manchmal hasse ich es einfach.

Als ich klein war, war Montlouis das Haus gegenüber, wo meine Großeltern wohnten. Das große Haus, wie wir damals sagten. Dort gab es einen Tennisplatz, ein Schwimmbad, Himbeer- und Johannisbeersträucher, Jagdhütten, einen Holzschuppen für die Fahrräder, den Renault 4 und den Renault 16, Mittag- und Abendessen, das kleine und das große Esszimmer, Großvaters Büro, die nach Farben benannten Schlafzimmer, den Spülstein, die Waschküche, den riesigen Schrank unter der Treppe zum Wohnzimmer, darin die hölzernen Tennisschläger, manche in ihren Taschen, andere ganz alt und verzogen, die Schallplatten, das alte Spielzeug, die Jules-Verne-Ausgabe in der Bibliothek oben, Madame D., die Hausangestellte, die mit Belforter Akzent sprach, die morgens putzte und dann am Tisch bediente und die hinkte, weil sie einmal die Kinderlähmung gehabt hatte. Meine Großeltern leben nicht mehr, das Haus ist verkauft und mein Vater hat keinen Cent, seit fünfzehn Jahren lebt er allein in dem Bau, in dem früher die Köchin schlief, er bereut nichts. Früher hat er ferngesehen und geraucht. Jetzt hängt er an der Sauerstoffflasche und hat das Qualmen aufgegeben.

In Montlouis kann ich alles hinter mir lassen. Mein Vater hat einen Teil des Hauses für sich, ich den anderen. Wir reden kaum, essen nicht zusammen, wir begegnen uns in der Küche, wenn wir uns jeweils unsere Brote oder unsere Fertigsuppen zubereiten, eine Scheibe Schinken auf Weißbrot, das ich mir zusammenklappe, ordentlich Tabasco in seiner chinesischen Nudelsuppe. Ich komme natürlich auch wegen ihm, auch wenn ich das nicht sage, auch wenn wir nie miteinander reden. Zwei Katzen, die so tun, als seien sie allein, sich aber sehr wohl erkennen können im Dunkeln. Man muss sie beherrschen, diese besondere Sprache, und wenn ich eine Frau mitbringe, kann ich sie vorwarnen, soviel ich will, sie ist immer ein wenig schockiert, hält uns für verrückt, oft verlässt sie mich anschließend. Ich finde aber, dass sich alle so lieben sollten. Hier sind immer noch eine Menge Sachen von Paul, sein Fahrrad, sein Zimmer, seine Verkleidungen, sein Spielzeug. Anfangs waren sie für mich wie die Gegenstände eines Toten, aber jetzt geht es, ich habe mich daran gewöhnt.

Ich hab die große schwarze Ledermappe, das Lookbook aus der Modelzeit meiner Mutter hervorgeholt. Lange fand ich sie zu stark geschminkt, zu sexuell, auf diesen Fotos, bevor sie meine Mutter war, das hat mich ein bisschen gestört. Jetzt blättere ich durch die Mappe und ihre Schönheit springt mir sofort ins Auge, ihre Kraft. Es muss einen gewissen Mut erfordert haben, sich mit ihr einzulassen, den mein Vater vielleicht nicht immer hatte. Ich hole ein Foto hervor, zeige es ihm und sage: Sieh mal, Papa, wie du heute lebst, naja, aber sie, da hast du schon was erreicht im Leben. Ja, sagt er. Dann schicke ich hinterher, warum, weiß ich auch nicht, dass es nicht leicht gewesen sein kann, sie zu lieben. Ich spüre seinen Blick auf mir, streng. Nein, sagt er. Er liest weiter sein Buch, ich ordne die Fotos. Das Gute an Opiaten, am Heroin, ist, wenn man sich ernsthaft darauf einlässt, dass man keine Lust mehr aufs Vögeln hat, man kriegt nicht mal mehr einen hoch, es ist einem komplett egal. Warum hat er sich so abgeschossen? hat mich G. später gefragt. Weil er sich eben abgeschossen hat.

Vielleicht ist er der Einzige, der meinen Kummer genau versteht, weil wir Kinder auf die gleiche Weise lieben. Aber wenn wir über Paul sprechen, gibt es immer einen Moment, in dem er seinen Kopf in die Hände nimmt, mich komisch ansieht und sagt, dass es für Laurent sicher nicht einfach sei. Es gibt diesen Moment, in dem er Laurent bemitleidet. In dem er ihn versteht, in dem er zu Laurent wird und mit ihm leidet. Es macht etwas mit ihren Körpern, wenn ich mit Frauen schlafe. Ich sehe es an meinem Vater. Sein Körper wird wie der von Laurent. Es ist die gleiche Panik, die sie empfinden. Und plötzlich kommen mir wieder all die Bilder von meinem Vater, die ich vergessen hatte, weil sie so anders sind als alles, was er doch eigentlich ist. Plötzlich erinnere ich mich, dass dieser sanfte Mann, den ich doch nie wütend oder eifersüchtig erlebt habe, meine Mutter manchmal geschlagen hat, meine Mutter, die stark war, während er Schwäche zeigte. Das passierte nicht jeden Tag, aber es kam vor. Ich erinnere mich daran. Manchmal frage ich mich, ob es für meinen Sohn genauso schwierig sein wird, ein Mann zu sein, wie für seinen Vater oder meinen.

Die Pflegerin klopft an die Tür, stellt ihm seine Abenddosis und seine Schlaftabletten in ein Schälchen und geht wieder. Er schluckt die Tabletten und geht ins Bett. Gute Nacht, mein Schatz. Gute Nacht, Papa. Ich sehe ihm nach, wie er weitergeht, den Flur entlang, langsam merkt man, dass er bald sterben wird, ich frage mich, wann und ob es besser wäre, mit ihm darüber zu reden. Oder ob es besser wäre, wenn ich weiter so tue, als sei er schon gestorben.