Manchmal kann ich mich weder an sein Gesicht noch an seine Stimme erinnern. Ich frage mich, ob er wohl gewachsen ist, wie er jetzt aussieht. Ich habe es gemerkt, als ich neulich bei Apollonia vorbeigegangen bin und ihre Söhne gesehen habe. Es ist verrückt, wie groß sie in einem Jahr geworden sind. Ich hab an Paul gedacht und mir gesagt, dass er sich auch verändert haben muss. Eineinhalb Jahre ohne ihn. Zwei Weihnachten, einer seiner Geburtstage, ein Muttertag, zwei meiner Geburtstage. Dazu all die anderen Tage. Es ist Winter und seit dem Sommer, seit dem Beschluss, dass ich ihn nur in Anwesenheit von Pädagogen treffen darf, habe ich ihn überhaupt nicht mehr gesehen, nicht einmal ein Foto. Ich habe nicht mal den Klang seiner Stimme gehört, auch am Telefon nicht. Das ist mein zweiter Winter ohne ihn. Was ist das für eine verrückte Welt, in der ich lebe? Diese Welt, in der sich die Liebe in Schweigen verwandelt, ohne dass der Tod eintritt? Diese Welt, in der das, was ist, zu dem wird, was nicht mehr ist? Diese Welt, in der man mir sagt, dass ich verrückt sei, wenn ich ausspreche, dass die Umstände verrückt sind. Das Verfahren zieht sich hin. Der psychologische Gutachter hat seinen Bericht noch immer nicht abgegeben, der Verein hat noch immer keinen freien Termin, Laurent antwortet mir noch immer nicht, wenn ich ihn bitte, Paul eine Stunde lang in einem Café, im Kino oder bei Freunden zu treffen. Wenn ich wenigstens wüsste, woran ich bin. Das Nichtwissen ist das Unerträgliche, die Zeit ohne Perspektive, die Anwälte, Richter und Pädagogen, der Verein, der Überdruss und die Erschöpfung. Zuletzt weiß ich nicht einmal mehr, wovon ich rede, was ich empfinde oder denke, ich weiß nicht mehr, wer er ist, ob er noch existiert oder nur noch aus Phrasen in meinem Gehirn besteht, etwas von mir Erfundenes. So in etwa, sage ich mir, muss es sich anfühlen, verrückt zu sein.
Es war kalt in diesem Winter, ich hatte keine Kohle und schlief mit Frauen, die ich nicht mochte. Zu Beginn des Frühlings wollte ich einen Schritt weiter gehen. Ich habe meine beiden Jeans in eine Tasche gepackt, die Schlüssel für die Neun-Quadratmeter-Wohnung unten im Café abgegeben und eine E-Mail an den Vermieter geschickt. Im Grunde brauchte ich gar keine Wohnung.