Ich fahre zwischen der Touraine und Paris hin und her. Ich will ihr nicht zu nah sein, will nichts überstürzen, nicht auf sie warten müssen, wenn sie nicht da ist. Gegen Mittag nehme ich das Fahrrad, fahre den Deich entlang, werde von Lastwagen überholt, radle zum Campingplatz. Da ist ein altes Schwimmbad, es hat von Juli bis September geöffnet. Die Umkleidekabinen sind gelb und blau, die Farben verblasst, sie erinnern an die Zeit des Front populaire und die Jahre des Wirtschaftswunders. In der Mittagspause bin ich die Einzige im Wasser. Ich unterhalte mich mit der Brünetten am Einlass, sie arbeitet den Rest des Jahres in einer Kantine, kommt aus der Bretagne und vermisst das Meer, hat sich aber damit abgefunden. Ich spreche auch mit der jungen Bademeisterin, sie ist süß, mit einer Tätowierung am Knöchel. Es macht ihr nichts aus, im Sommer zu arbeiten, auch wenn die Tage lang seien, ab Herbst trainiert sie Jugendliche in Loches. Sie zeigt mir einige Atemübungen und gibt mir Tipps, wie man beim Schwimmen am besten wendet. Sie sagt, Fortschritte mache man nur, wenn man vorher Fehler mache, das gehöre dazu, anders komme man nicht weiter.
Auch G. ist in diesem Sommer nach Montlouis gekommen. Sie war auf dem Rückweg aus Italien. Wir hatten abends über Facetime gesprochen. Sie meinte, das sei echter als sich zu schreiben, sie müsse mein Gesicht sehen. Als ich am nächsten Tag aufgewacht bin, hat sie mir gesagt, sie sei im TGV und in einer Stunde da. Ich habe meinem Vater Bescheid gegeben, er meinte: Ah, sehr gut. Ich hab sie mit dem Mietwagen vom Bahnhof abgeholt. Den Nachmittag haben wir zwischen meinem Zimmer und dem Garten verbracht, sind abends in die Weinberge und am nächsten Tag an die Loire gegangen. Wir waren baden, haben unter den Bäumen gevögelt, haben einen auf Queer Cruising gemacht, die Unbekannte am See, es war lustig und auch sexy. Sie scheint sich nicht an meinem Vagabundenleben zu stören, wundert sich nicht, es scheint ihr keine Angst zu bereiten. Angst habe sie vor der Liebe.
Später begleite ich sie zum Bahnhof. Dann sehe ich mir einen 1997er Golf in der Nähe vom Lidl an, gut erhalten, 2.000 Euro. Ich sage mir, dass ich öfter kommen könnte, wenn ich ein Auto hätte. Ich könnte jeden Tag schwimmen gehen, in Tours oder in Amboise, wenn das Schwimmbad am Campingplatz geschlossen hat. Schwimmen, um nicht verrückt zu werden, hier ist das noch wichtiger als anderswo. In Montlouis wird man komisch im Kopf. Da ist irgendwas in der Luft. Wie der Schirokko in Tod in Venedig. Hier ist nicht Venedig und hier ist auch kein Dirk Bogarde, hier ist diese elende Touraine, mit meinem Vater. Eine Art Antimaterie, mein Vater, eine negative Kraft, die alles aufsaugt, jegliche Lebensenergie, jedes Begehren, auch das negative, die ganze Freude und die ganze Wut. Seit dreißig Jahren wundern sich die Ärzte, dass er überhaupt noch am Leben ist mit all dem Gift in seinem Körper, all dem, was er sich eingeschmissen hat und mehr oder weniger weiter einschmeißt. Aber diese Drogengeschichte ist nur ein Detail, nur die Oberfläche, die Wahrheit dahinter ist die Starre, das Nichts, die Lustlosigkeit, das Nein, mit dem er auf alles antwortet. Wenn wir nicht miteinander reden, ich nichts zu ihm sage, dann weil es nichts zu sagen gibt. Vanitas vanitatum, sagt sein grauer Blick, sobald du einen Satz beginnst, eine Geste machst. Seit dreißig Jahren wundern sie sich, dass er nicht stirbt, eine statistische Anomalie. Als ob es ein Wettbewerb sei. Als ob es sonst nichts zu sagen gäbe. Tick-tack, tick-tack, tick-tack. Sie haben nichts begriffen. Er lebt genau davon, den Willen der anderen zu brechen. Jeder hat eine bestimmte Kraft, die er zum Leben braucht, und das ist seine. Stärker als ein Ninja, mein Papa. Dreißig Jahre, vierzig, wie lange noch? Wie lange will er alles abtöten und sich weigern, selbst zu sterben? Nicht, dass man ihn dafür hassen könnte, dazu ist er viel zu charmant, mein Vater. Der Inbegriff der Unschuld, der dreckigen Unschuld. Selbst vom anderen Ende des Hauses aus schafft er es, mich anzustecken. Bliebe ich auch nur eine Stunde zu lang, dann würde ich am Ende glauben, dass ich so bin wie er. Unfähig, mich von irgendwas loszureißen. Ich würde am Ende glauben, dass sich so was vererbt, wie durch ein Naturgesetz. Dass wir in meiner Familie alle gleich sind. Menschen, auf die man sich nicht verlassen kann. Das hat nichts mit Liebe zu tun. Es gibt viel Liebe. Aber eine Liebe mit schlaffen Armen. Eine trostlose Liebe. Alle stehen da und sehen sich gegenseitig zu, wie sie im Treibsand versinken. Unfähig, sich zu regen. Eine einfache Geste zu machen. Oder ist es nur er, der uns alle langsam umbringt? Zuerst meine Mutter, dann die anderen. Ich habe nie ein schlechtes Gewissen, dass ich mich nicht genug um ihn kümmere. Wir lieben uns aus der Ferne. Käme ich ihm zu nah, würde ich sterben. Vielleicht macht mein Sohn das Gleiche. Vielleicht rettet er auch nur seine Haut. Jedes Mal, wenn ich meinen Vater sehe, fange ich an, so was zu glauben. Gift, sage ich dir. Ich weiß, dass es meiner Schwester genauso Angst macht. Deswegen besucht sie mich nie, ruft mich nicht an, deswegen hat sie sich nicht gemeldet, seit ich diesen ganzen Scheiß am Hals habe. Eine Familie, in der keine Geste möglich ist.
Ich hab den Golf nicht gekauft. Ich mochte seinen Geruch nach alter Karre, aber mit den Gängen war etwas nicht in Ordnung, man kam nicht gut in den vierten. Ich bin zurück nach Paris. Ich habe meinen Sohn weder im August noch im September gesehen. Ich frage mich, wann mein Vater sterben wird. Ich werde ihn nicht mehr anrufen.