Über den Sommer habe ich es verlernt, meinen Mitbewohner zu ertragen. Ich halte es nicht mehr aus, dass er sich in seiner eigenen Wohnung aufhält, seine Anwesenheit stört mich. Im September fange ich an, mich nach was anderem umzusehen.
Studios, Zimmer, Wohnungen, Sofas, Betten, am rechten und am linken Ufer. Vor allem am rechten. Das Dritte, das Vierte, das Neunte, das Elfte, das Achtzehnte, das Neunzehnte. Früher kannte ich nur das linke Ufer, jetzt hab ich den Radius erweitert, hab das Gebiet besser im Griff. Ich gehe nicht mehr ins Sechste, geschweige denn ins Fünfte, undenkbar. Ich bleibe zwei, drei Tage, dann ziehe ich weiter. Meine Schwimmsachen, mein Computer, eine Jeans, zwei T-Shirts, ich reise mit leichtem Gepäck. Ich bediene mich aus den Kühlschränken, nehme mir das Abendessen, das für die Kinder gedacht war, bringe Croissants mit, esse immer im Stehen. Ich bin Nomadin geworden, ohne den Périphérique zu übertreten. Ein Leben auf der Flucht.
Manchmal denke ich, ich könnte auch einfach abhauen, Paris hinter mir lassen. Mich hält ja nichts. Keine Familie, kein Job. Ich könnte mit noch leichterem Gepäck reisen. Wirklich woanders hingehen. In eine andere Stadt. Eine andere Klimazone. Ans Meer. Oder einfach auf Achse bleiben. Das wahre Nirgendwo. Hit the road, Jack. Wenn ich ein Auto hätte. Aber vielleicht ist es besser so, vielleicht würde ich irgendwann im Auto schlafen, mit niemandem mehr reden, überhaupt nichts mehr brauchen.
Eine Einraumwohnung. Zwischengeschoss. An der Haltestelle Abbesses. Ein bisschen dunkel. Jedenfalls ist das Wetter schlecht. Er hat saubere Laken auf das Bett gelegt, zwei Handtücher, wie im Hotel, und einen Joint. Er ist der Ex einer Freundin. Das hier ist seine Wohnung, wenn er nicht auf die Kinder aufpasst. Ich profitiere von der Scheidung anderer.
G. trifft mich in einer Bar in Pigalle, wir trinken etwas, gehen essen, streiten ein wenig. Sie sagt, das Restaurant sei schlecht, die Nudelsoße sei aus dem Gefrierfach und nicht richtig aufgetaut, noch kalt, sie sagt, ich solle die Soße mit dem Finger berühren. Sie bleibt über Nacht. Am nächsten Tag stehe ich früh auf, drehe eine Runde, kaufe Frühstück ein und dann Zeitungen gegenüber beim Karussell. Ich gehe wieder in die Wohnung, wir hängen rum, sie ist schlecht gelaunt, ich auch. Sie geht, ich sehe fern wie im Hotel, schlafe ein, als ich aufwache, ist es dunkel, ich hab Hunger, in der Küchenecke steht Proteinpulver in eimerartigen Behältern, er hat wohl mit Krafttraining angefangen, ich probiere Vanille-Whey, es schmeckt gut, ich denke, ich könnte vielleicht das Essen abschaffen und nur noch Milchshakes trinken, nie wieder einkaufen gehen. Ich google, lese in Foren für Fastenjunkies, sie sagen das sei nicht gesund, man solle lieber ein normales Leben führen.
Ich nehme die 12 bis Sèvres-Bab und treffe mich mit Marie im Flore. Ich grüße die Kellnerin und den Inhaber, sie sagen, sie hätten Paul mit seinem Vater gesehen. Zur Kinderfrage sagt Marie, sie hätte gerne eins, um dann später eine Frau wie ich zu werden, oder wie Françoise Sagan, wie sie sagt, aber wir wissen beide nicht, ob Sagan Kinder hatte. Sie hat vier Autos, drei Pferde, zwei Wohnungen, ihr Geld verdient sie und gibt es aus, wie man es uns in unseren Freak-Familien beigebracht hat, als sei es nichts wert, als müssten wir morgen schon sterben, ohne Angst oder jedenfalls ohne sie zuzugeben. Mit der Liebe dasselbe. Glaubst du, dass wir es schaffen?, fragt sie. Ich sage Ja, um ihr eine Freude zu machen. Die Dinge passieren so oder so, auch wenn es anstrengend ist, immer wieder von vorn anzufangen. Sie sagt zu mir: Meinst du, es liegt daran, dass deine Mutter gestorben ist, oder mein Vater? Für sie ist es noch nicht so lange her, für mich zählt es schon lange nicht mehr. Wie auch immer, wir wissen nicht einmal, ob wir sie vermissen, ob wir traurig sind oder es jemals waren. Der Tod beeindruckt mich nicht, auch wenn es einen ein bisschen verrückt macht, an all die Sachen zu denken, die man überlebt hat. Sie sagt, was mit Paul passiere, sei keine Probe, sondern eine Art, sich auf die Zukunft vorzubereiten, wegen meiner Mutter, die in meinem Alter gestorben ist. Sie fährt mich im Auto nach Hause, ihr alter Range Rover riecht nach Benzin, nach Gaul und ausgedrückten Kippen in leeren Coladosen.
Gegen eins bin ich wieder in der Wohnung. Ich hab mich ausgesperrt. Ich schiebe die Plastikkarte vom Schwimmbad ins Schloss, das habe ich schon zwanzigmal gemacht, meistens klappt es, diesmal nicht. Ich klettere in den ersten Stock, über den Balkon, stoße das Fenster mit der Schulter auf, ohne es zu zerbrechen. Glück gehabt. Am nächsten Tag gebe ich die Schlüssel ab, bedanke mich für das Gras, ich sage nicht, dass ich es nie geraucht habe.