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Avenue Trudaine. An den Haltestellen Barbès oder Anvers. Ich richte mich zwischen Legosteinen und Pokémon-Karten ein. Es ist das Zimmer des Jüngsten, er schläft bei einem seiner Brüder. Ich kenne Apollonia seit zwanzig Jahren. Wir waren zusammen an der Uni. Sie macht Deals, sitzt in Besprechungen und schließt Geschäfte ab. Ihre Wohnung ist wie eine Zahnarztpraxis, in den Zimmern hallt es. Sie hat sich gerade von einem jüngeren, gutaussehenden Mann geschieden, hat drei Kinder mit ihm bekommen, und ihn dann verlassen. Es ist nicht einfach, aber so ist das Leben. Wenn ich mich verabrede, dann unten im Café, es hat bis spät abends geöffnet, sie verkaufen Zigaretten und es gibt eine Terrasse. Morgens hole ich frisches Brot, Croissants auf einer Straße, die bergab führt, ich sehe den Tour Montparnasse in der Ferne, ziemlich schön im Oktoberlicht. Es ist mild, die Leute sagen, das sei nicht normal, sie reden vom Klimawandel. Ich mag diese Wärme, dieses Gefühl von Endzeit, es ist mir egal, dass der Planet stirbt, ich sterbe auch, ich denke an den Tim-und-Struppi-Band Der geheimnisvolle Stern, an schmelzenden Teer, an den riesigen stürzenden Mond in Melancholia. Ich schwimme im Georges-Drigny-Hallenbad auf der Straße gegenüber. Für die Umkleide braucht man einen Euro, manchmal vergessen die Leute ihre Münze und ich sammle sie ein. Ich gehe meistens zur Mittagszeit, wenn die Kinder in der Schule sind und Apollonia im Büro. Wir haben oft bei ihnen Urlaub gemacht, Paul und ich, in ihrem Dorf in der Nähe von Ajaccio. Er hat mit den Jungen gespielt, die Eidechsen an den Mauern gejagt und die Frösche im Teich, er ist im Mittelmeer und in den Flüssen geschwommen, bis die Haut an seinen Fingern schrumpelig wurde. Wann sehen wir Paul wieder? fragen sie. Bald, antworte ich. Ich mag sie und ich glaube, sie mögen mich auch. Apollonia macht morgens Waffeln, abends Ossobuco, sie serviert mir Pontet-Canet, den ich am Kamin in einem grauen Samtsessel mit goldenen Füßen trinke, ich schlafe ein wenig besser, ich glaube, ich nehme zu. Der Älteste ist besorgt. War er immer schon. Schön und besorgt. Ich bin heute Morgen in sein Zimmer gegangen. Alle waren weg, Apollonia und die beiden Kleinen, sein Unterricht begann erst später, er ist in der fünften Klasse, geht auf das Gymnasium auf der anderen Straßenseite. Ich habe zu ihm gesagt: Weißt du, ich mag es, wenn du sagst, dass wir alle sterben werden und es alles nichts nützt. Er sieht mich an, lächelt nicht und sagt: Du hast Glück, dass du ein Mädchen bist. Es ist nicht leicht, ein Junge zu sein. Apollonia fährt für zwei Tage wegen ihrer Arbeit nach London. Ich habe ihr gesagt, dass sie die Babysitterin nicht anzurufen braucht, ich kann die Kinder von der Schule abholen und mich um die Hausaufgaben, das Baden und das Abendessen kümmern. So eine kleine Familie tut mir gut.

Ich bin immer öfter bei G. Crimée ist die Haltstelle, oder auch Riquet oder Laumière. Auch sie hat mir ihren Schlüssel gegeben. Ich hab schon einen ganzen Bund Schlüssel zu den vielen Wohnungen, in denen ich übernachte. Ich hänge ihren Schlüssel an den roten Karabinerhaken, den sie mir gegeben hat, sie sagt, das sei ein echtes Lesbending. Ich hänge den Karabiner an eine Schlaufe hinten an meiner Jeans, die Schlüssel stecken in der Arschtasche, ich betrachte mich im Spiegel, es sieht wirklich gut aus.

Unter der Woche arbeitet sie, aber wir sehen uns trotzdem recht oft, und am Wochenende bin ich sowieso immer bei ihr. Ihre Angstzustände sind vorbei. Sie gibt mir ihre Bücher zu lesen, ihre Filme zu sehen, ihre Musik zu hören, sie stellt mich ihren Freunden vor. Ich nenne sie Joli Coeur, sie sagt, ich sei ihre Verlobte. Natürlich haben wir viel Sex, die Monate vergehen und es ist immer noch gut, ich glaube sogar, dass es besser wird. Wenn wir zusammen auf der Straße gehen, sagt sie, sie habe das Gefühl, ihr könne nichts passieren, ich sei wie eine Wachhündin, die sie beschütze.

Dem Mitbewohner habe ich nicht gesagt, dass ich nicht mehr bei ihm wohne. Außerdem gehe ich immer noch zu ihm, wenn er nicht da ist. Er sagt mir Bescheid, wenn er verreist. So kann ich G. woanders als bei ihr zu Hause sehen und muss nicht die ganze Zeit in der Avenue Trudaine abhängen. Das ist meine Junggesellenwohnung im Marais. An einem Tag, an dem er nicht da ist, werde ich hingehen, meine Sachen einsammeln und die Schlüssel dort lassen.