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»Ich habe keine Ahnung, welche Richtung wir einschlagen müssen«, gestand William dem Wachsoldaten, der ein unverzichtbar erscheinendes Klemmbrett in der Hand hielt.

»Dann muss das Ihr erster Besuch sein, Sir«, erwiderte der Wachsoldat, als er einen Blick auf Williams Dienstmarke warf und einen Haken neben dessen Namen machte.

William nickte, als er die Marke zurück in seine Tasche schob.

»Wenn Sie der Straße folgen, treffen Sie auf ein großes, weißes Gebäude zu Ihrer Rechten. Ich werde Bescheid geben, dass Sie auf dem Weg sind.«

»Vielen Dank«, sagte William, als sich der Schlagbaum hob und Danny langsam die breite Auffahrt entlangrollte, wobei er keinen Augenblick lang schneller als zehn Meilen pro Stunde fuhr – eine Geschwindigkeit, die er nicht gewohnt war.

Als die prächtige, von Sir Christopher Wren entworfene Villa in Sichtweite kam, fuhr Danny noch langsamer und umrundete einen großen Rosengarten, bevor er sein Fahrzeug schließlich zum Stehen brachte.

Wie durch Zauberei öffnete sich die Eingangstür genau in dem Augenblick, als William aus dem Fond des Autos stieg.

»Guten Morgen, Chief Inspector«, sagte ein Mann, der ein kurzes schwarzes Jackett, ein weißes Hemd, eine graue Krawatte sowie eine Nadelstreifenhose und schwarze Schuhe trug, die glänzten wie bei einem Mitglied der königlichen Wache. »Ihre Königliche Hoheit erwartet Sie.«

William und Ross folgten dem Butler in das Gebäude und eine breite, geschwungene Treppe hinauf in das erste Obergeschoss. William war so nervös, dass er für die Bilder, welche die Wände schmückten, keinen Blick hatte. Und dann sah er sie in der Tür zum Salon stehen.

»Wie schön, Sie wiederzusehen, William«, sagte sie, als William sich verbeugte. Er war überrascht, dass sie ihn beim Vornamen nannte, obwohl die Protokollbeamtin bei Scotland Yard ihm gesagt hatte, dass sie das oft tat, denn sie wollte, dass ihre Gäste sich wohlfühlten. Die Protokollbeamtin hatte ihn jedoch nachdrücklich ermahnt, niemals zu vertraulich zu werden und sie stets mit »Eure Königliche Hoheit« oder »Ma’am« anzusprechen.

»Gestatten Sie mir, Ihnen Inspector Hogan vorzustellen, Ma’am.«

»Wir sind uns in Scotland Yard begegnet, Inspector«, sagte Diana. »Aber nur kurz, als Sie meine Hofdame durch das Schwarze Museum geführt haben. Genau genommen war es Victoria, die meinte, Sie wären möglicherweise geeignet, zu gegebener Zeit die Stelle als mein Personenschützer zu übernehmen.«

Ross äußerte sich nicht dazu, denn der Butler erschien erneut. Jetzt trug er ein schwer beladenes Teetablett in den Händen, das er auf den Tisch vor ihnen stellte. William bewunderte das Herend-Porzellanservice, das mit Insekten und Blumen geschmückt war. Denn er wusste, Beth würde von ihm erwarten, dass er sich wie ein guter Detektiv an jede Einzelheit erinnerte.

»Nehmen Sie beide Platz«, sagte Diana. »Ich werde einschenken. Chinesisch oder indisch, Inspector?«

Die Protokollbeamtin hatte zwar erwähnt, wie man sich verbeugte – vom Hals aus, nicht aus der Hüfte heraus wie ein Schauspieler im Kabarett –, doch sie hatte weder etwas Chinesisches noch Indisches erwähnt.

»Indisch«, sagte William, während Ross einfach nur nickte.

»Ich habe Ihre Dienstakte beim Militär mit großem Interesse gelesen«, fuhr Diana fort, als sie Ross eine Tasse gab. »Zwei Queen’s Gallantry Medals und unzählige Belobigungen. Sie wirken wie eine Mischung aus Sydney Carton und Thomas Raffles. Überaus beeindruckend.«

»Eher wie Raffles, Ma’am«, sagte William. »Wir haben Ihnen die drei offiziellen Rügen erspart, ganz zu schweigen von einer vorübergehenden Suspendierung.« Diana lachte, während Ross nach wie vor schwieg. »DI Hogan ist einer der Menschen, die man ›stille Wasser‹ nennt«, fügte William hinzu, um ihm zu Hilfe zu kommen.

»Victoria hat mir etwas anderes gesagt«, erwiderte Diana und legte ein Stück Pflaumenkuchen auf den Teller vor Ross, der den Kuchen nicht anrührte. »Ich habe auch etwas über Sie und Ihren kometenhaften Aufstieg gelesen, William«, fügte sie hinzu, als William nach einer kleinen Silberzange griff und ein Stück Zucker in seinen Tee tat. »Aber nach meiner kurzen Begegnung mit Artemisia ist das kaum eine Überraschung.« Sie wandte sich wieder Ross zu. »Wie ich höre, haben Sie ebenfalls eine Tochter?«

Über die Jahre hatte William oftmals miterlebt, wie Ross mehrere Frauen angesprochen hatte, denen er nicht vorgestellt worden war. Doch diesmal saß er nur kerzengerade da, ohne seinen Kuchen anzurühren, während sein Tee kalt wurde.

»Welch ein wunderbarer Frith«, sagte William, indem er Ross ein weiteres Mal zur Seite sprang, und betrachtete ein Gemälde an der Wand über dem Kamin.

»Ja, das ist eines meiner Lieblingsbilder«, sagte Diana, ohne sich umzudrehen. »Lady’s Day in Ascot . Es ist kein Teil der königlichen Sammlung«, flüsterte sie, »sondern ein Geschenk meines verstorbenen Großvaters. Sagen Sie mir, William, wie geht es meiner neuen besten Freundin Artemisia?«

»Sie erzählt jedem davon, dass sie Sie getroffen hat, und die Geschichte wird jedes Mal länger. Ich soll Ihnen von ihr ausrichten, dass sie sich darauf freut, Sie wiederzutreffen, wenn Sie die Frans-Hals-Ausstellung im Fitzmolean eröffnen. Ich fürchte, sie wird Ihnen einen weiteren Blumenstrauß überreichen.«

»Was mich darauf bringt«, sagte Diana, »dass ich ein kleines Geschenk für sie habe.« Sie beugte sich vor und nahm eine kleine, mit einem Seidenband umwickelte Schachtel aus einem Fach unter dem Tisch und reichte sie William. »Und ich habe auch Jojo nicht vergessen«, fügte sie hinzu und griff nach einem zweiten Geschenk, das sie Ross gab.

»Vielen Dank, Ma’am«, stammelte Ross.

»Ah, Sie können sprechen!«, neckte ihn Diana.

Als William lachte, erschien eine leichte Röte auf Ross’ Gesicht, was William noch nie zuvor erlebt hatte.

»Zweifellos«, fuhr Diana fort, »hat man Sie bereits ausführlich darüber informiert, was die Arbeit als mein Personenschützer mit sich bringt. Aber ich wette, dass man Ihnen nur die halbe Geschichte erzählt hat. Und keineswegs die bessere Hälfte.«

William fragte sich, was er auf diese Bemerkung erwidern sollte.

»Es gibt niemals einen langweiligen Augenblick«, fuhr sie fort, »aber ich fürchte, die Dienststunden sind unvorhersehbar. Einmal habe ich Mutter Teresa zum Frühstück, Michail Gorbatschow zum Lunch und Mick Jagger zum Dinner getroffen – und das alles an ein und demselben Tag. Es gibt keinen Preis, wenn jemand errät, wen ich von den dreien am meisten genossen habe.«

»Mick Jagger?«, sagte Ross.

»Ich glaube, wir werden ganz gut miteinander auskommen.«

Ross antwortete nicht.

»Darf ich Ihnen eine neue Tasse Tee einschenken, Inspector?«, bot ihm die Prinzessin mit einem Blick auf seine unangerührte Tasse an.

»Nein, vielen Dank, Ma’am. Aber dürfte ich Sie fragen, ob Sie irgendwelche spezifischen Probleme haben, über die ich Ihrer Ansicht nach Bescheid wissen sollte?«

»Jetzt, da Sie es erwähnen – ich würde gelegentlich gerne ein Fitnessstudio besuchen, schwimmen oder einkaufen gehen, ohne von einem Dutzend Paparazzi verfolgt zu werden.«

»Das dürfte nicht immer leicht werden, Ma’am. Schließlich sind Sie der meistfotografierte Mensch der Welt«, erinnerte Ross die Prinzessin. »Aber ich werde mein Bestes tun, ohne sie gleich zu erschießen.«

Diana bedachte ihre beiden Besucher mit ihrem typischen Lächeln und fügte hinzu: »Darüber hinaus habe ich Freunde, die nicht gerade begeistert davon sind, wenn ihre Gesichter zusammen mit Artikeln über ihre Vergangenheit auf den Titelseiten aller landesweit verbreiteten Zeitungen erscheinen.«

Ross nickte, äußerte sich aber nicht dazu.

»Und es könnte sein, dass der eine oder andere von ihnen mich besuchen möchte … und zwar …«, sie hielt kurz inne, »… wie soll ich es sagen … außerhalb der offiziellen Dienstzeit.«

»Warum sollte das ein Problem sein, Ma’am?«, fragte William. »Solange Sie hier in Sicherheit sind? Niemand kann die Absperrung überwinden, es sei denn, Sie haben die ausdrückliche Genehmigung dazu erteilt. Wir selbst haben es vorhin erlebt.«

»Ich kann Ihnen versichern, William, dass mindestens ein halbes Dutzend Fotografen vierundzwanzig Stunden am Tag und sieben Tage die Woche vor dem Haupttor parken, die nicht einmal Mittagspause machen. Insbesondere zwei von ihnen scheint es gar nicht zu gefallen, dass ich ein Privatleben habe, das wann immer möglich auch privat bleiben soll.«

»Verstanden, Ma’am«, sagte Ross. »Sie können sicher sein, dass die einzige andere Frau in meinem Leben zwei Jahre alt ist und ich Ihre Geheimnisse gewiss nicht mit ihr teilen werde.«

»Ich kann es gar nicht erwarten, sie kennenzulernen«, sagte Diana.

»Wir wollen Sie nicht länger aufhalten, Ma’am«, sagte William, als die Uhr auf dem Kaminsims die halbe Stunde schlug. »Denn wir wissen, wie wichtig das Dinner ist, an dem Sie heute Abend teilnehmen.« Auch darüber hatte ihn die Protokollbeamtin informiert.

»Ein Staatsbankett zu Ehren des Königs von Saudi-Arabien«, sagte Diana. »Wie ich höre, spricht der König kaum Englisch, während Ihre Majestät kein Arabisch spricht. Es dürfte also eine vergnügliche Angelegenheit werden. Ich andererseits werde neben dem saudi-arabischen Botschafter sitzen, der, wie man mir gesagt hat, vier Ehefrauen hat. So dürften ihm die Themen für eine unverbindliche Plauderei nicht ausgehen.«

Beide lachten pflichtbewusst.

»Ich hoffe, Sie denken ernsthaft darüber nach, meinem Team beizutreten, Inspector«, sagte sie, indem sie sich wieder an Ross wandte. »Wir haben viel mehr Spaß als die ganze übrige königliche Familie …«, sie hielt einen kurzen Augenblick inne, »… zusammengenommen.«

Ross gelang es zu lächeln, als der Butler wieder erschien.

»Ihr nächster Termin ist eingetroffen, Ma’am.«

»Nein, das ist er nicht«, entgegnete Diana. Sie wandte sich an William und sagte: »Das ist der Code dafür, dass ich Sie beide loswerden soll, wo ich doch so viel lieber Tee mit Ihnen trinke als mit dem König vonSaudi-Arabien diniere. Allerdings …«

William stand unverzüglich auf. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir uns verabschieden, Ma’am. Vielen Dank, dass Sie uns empfangen haben.«

»Ich hoffe, ich werde Sie wiedersehen, Inspector«, sagte Diana, während sie die beiden die breite Treppe hinab in die Eingangshalle begleitete. William bemerkte erfreut, dass Ross mit der Prinzessin plauderte, während er ein wenig zurückblieb, um mehrere Bilder genauer zu betrachten, die er vielleicht nie wieder sehen würde, darunter auch ein Seegemälde des »anderen« Henry Moore. Wenn er nach Hause kam, würde Beth ihn sicher fragen, welches die Lieblingskünstler der Prinzessin waren. Es wäre eine interessante Herausforderung, wie viele er sich merken konnte, ohne sich Notizen zu machen.

Als sie die Eingangshalle durchquerten, blieb er stehen, um einen Turner, einen Millais und einen Burne-Jones zu bewundern. Er hätte gerne mehr Zeit gehabt, um sie genießen zu können. Die Prinzessin begleitete sie hinaus zu ihrem Fahrzeug, wo sie William ein weiteres Mal überraschte, indem sie eine Weile mit Danny plauderte, bevor sie wegfuhren. Die Prinzessin ging erst wieder ins Haus, nachdem das Auto außer Sichtweite war.

William wartete, bis sie in die Kensington High Street eingebogen waren, bevor er sagte: »Nun, was ist … willst du die Stelle, Plaudertasche?«

»Natürlich will ich sie«, sagte Ross, ohne zu zögern. »Aber es gibt da ein Problem.«

»Gibt es sonst noch etwas, Mr. Booth Watson?«, fragte seine Sekretärin, als sie ihren Stenoblock zuklappte.

Booth Watson lehnte sich zurück und dachte über die Frage nach, wie er mit dem doppelten Problem von Miles Faulkner und dessen Ex-Frau Christina umgehen sollte. Obwohl er beide erst kürzlich getroffen hatte, war er immer noch nicht sicher, ob Faulkner seine Erklärung der Ereignisse in Spanien geglaubt hatte, während Christina sich inzwischen gewiss bewusst war, was er ursprünglich geplant hatte. Er wusste, dass sie nicht zögern würde, bei Sir Julian Rat einzuholen, wenn es ihrer Sache dienen konnte. Doch er wusste ebenfalls, dass es einen Menschen gab, der sie beide im Auge behalten konnte und ausschließlich ihm Bericht erstatten würde: ein Mann, der auf beiden Seiten der Gitterstäbe über Kontakte in Belmarsh verfügte und es gleichzeitig verstand, Christina Faulkner fest im Blick zu behalten, weshalb er immer wissen würde, wen sie traf und was sie vorhatte. Obwohl Booth Watson den ehemaligen Superintendent, der die Met unter dubiosen Umständen verlassen hatte, durchaus verachtete, hielt er es mit Lyndon B. Johnson, der – nachdem er resignierend einsehen musste, wie schwierig es wäre, J. Edgar Hoover zu entlassen – einst bemerkt hatte: »Es ist wahrscheinlich besser, wenn er im Zelt bleibt und nach draußen pinkelt, als wenn er von draußen ins Zelt pinkelt.«

»Ja, Ms. Plumstead«, sagte er schließlich. »Ich möchte, dass Sie einen dringenden Termin mit Ex-Superintendent Lamont vereinbaren.«

»Gewiss, Sir. Aber dürfte ich Sie darauf hinweisen, dass Ihr Terminkalender im Augenblick zum Bersten gefüllt ist? Sie müssen diese Woche noch zwei Mal vor Gericht erscheinen und …«

»Innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden«, sagte Booth Watson, indem er sie unterbrach.