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»Theoretisch sollte das ein glasklarer Fall sein«, erklärte Sir Julian, während er auf und ab ging und mit beiden Händen die Aufschläge seines Jacketts umfasste, als wende er sich bei einer Gerichtsverhandlung an die Geschworenen. »In der Praxis jedoch«, er hielt kurz inne, bevor er fortfuhr, »gibt es dabei die eine oder andere Anomalie, welche die Krone nicht ignorieren kann.«

Weder Grace noch Clare unterbrachen den leitenden Anwalt, sondern machten sich vielmehr Notizen.

»Beginnen wir mit den Tatsachen in diesem Fall. Der Angeklagte Miles Faulkner ist aus dem Polizeigewahrsam geflohen, während er am Begräbnis seiner Mutter teilnahm, und hat einige Monate später seine eigene Beerdigung inszeniert, um die Polizei davon zu überzeugen, dass er tot sei.«

»Mrs. Faulkner hat sogar angeboten, die Asche des vermeintlich Verstorbenen zur Verfügung zu stellen«, sagte Clare. »Doch ich erklärte ihr, dass wir noch nicht in der Lage sind, die DNA eines Menschen anhand seiner Asche zu identifizieren.«

»Faulkner muss sich dessen bewusst gewesen sein, denn sonst hätte er die Asche nicht wie auf einem Silbertablett angeboten«, sagte Sir Julian. »Er konnte jedoch nicht voraussehen, dass es eine aufmerksame Polizistin gab …« Er hielt inne und warf einen Blick auf seine Notizen auf seinem Schreibtisch, um den korrekten Namen anzugeben. »Nämlich Detective Constable Rebecca Pankhurst«, fuhr er fort, »die Faulkners Anwalt Mr. Booth Watson in der Abfluglounge in Heathrow bemerkte, wo dieser auf einen Flug nach Barcelona wartete. DC Pankhurst unterbrach ihren eigenen Urlaub, damit sie ohne sein Wissen ebenfalls in das entsprechende Flugzeug steigen konnte. Dank der Kooperation der spanischen Polizei«, sagte Sir Julian nach wie vor auf und ab gehend, »war es Scotland Yard möglich, Faulkner aufzuspüren, der einige Meilen von der katalanischen Hauptstadt entfernt in einem großen, abgelegenen Landhaus lebte. Es ist jedoch gut möglich, dass er der Polizei wieder entkommen wäre, hätte es nicht einen gleichermaßen findigen Detective Inspector gegeben, der kurz darauf ironischerweise Faulkner das Leben retten sollte. Aber genau das ist der Punkt, an dem der Fall aufhört, glasklar zu sein. Ich überlasse es dir, Clare, uns auf den neuesten Stand zu bringen«, sagte er und wandte sich dann an seine Tochter, »während du, Grace, als meine beigeordnete Anwältin als advocatus diaboli auftreten und versuchen sollst, wie Booth Watson zu denken.«

»Vermutlich meinst du damit, dass ich amoralisch und verschlagen auftreten und öligen Charme ausstrahlen soll, wenn ich mich an die Geschworenen wende.«

»Ich hätte es selbst nicht besser sagen können«, erwiderte Sir Julian.

»Ich habe bereits mit DCI Warwick« – Clare vermied es, »mit deinem Sohn« zu sagen – »und DI Hogan gesprochen. Hogan behauptet, dass Faulkner sich bei seinem Fluchtversuch in einen mannsgroßen Safe eingeschlossen hat und erstickt wäre, wenn er ihn nicht gerettet hätte.«

»So viel nehme ich ihm ab«, sagte Sir Julian. »Ich fürchte jedoch, der Rest von Hogans Geschichte klingt weniger glaubwürdig. Aber fahr bitte fort.«

»DI Hogan hat weiter berichtet, dass Faulkner noch am Leben, aber bewusstlos war, als er ihn aus dem Safe zog. Mithilfe eines gewissen Leutnant Sanchez von der nationalen spanischen Polizei, der eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchführte, kam Faulkner wieder zu Bewusstsein und bat darum, nach London gebracht zu werden, damit er seinen eigenen Arzt aufsuchen könne. Danach wurde er ohnmächtig.«

»Das ist der Teil, den ich nicht ganz so überzeugend finde«, sagte Sir Julian. »Ich bin sicher, dass Booth Watson mehrere Löcher in Hogans Aussage entdecken wird, sobald er ihn im Zeugenstand vor sich hat. Und dass er sich die Dinge sehr genau ansehen wird, wenn es darum geht, wie Hogan Faulkners Privatjet anfordern und ihn damit ohne dessen ausdrückliche Genehmigung zurück nach London fliegen lassen konnte.«

»Aber Inspector Hogan hat uns den Namen von Faulkners Arzt in der Harley Street genannt«, sagte Grace.

»Ich vermute, dass Hogan gerne etwas riskiert. Er hat wohl einfach auf die Harley Street getippt und Glück gehabt.«

»Unglücklicherweise konnten weder Leutnant Sanchez noch DCI Warwick das Gespräch zwischen Faulkner und Hogan bestätigen«, fuhr Clare fort, »und glaubten zu jenem Zeitpunkt Hogan aufs Wort. Erst als sie Faulkner zurück nach England gebracht hatten und er wieder hinter Gittern saß, begann DCI Warwick über die Konsequenzen ihrer Handlungen nachzudenken.«

»Wir dürfen nicht vergessen«, sagte Grace, »dass Faulkner für den entsetzlichen Tod der Frau des Inspectors verantwortlich ist, weshalb Hogans Urteilsvermögen möglicherweise, um mich juristisch korrekt auszudrücken, vorübergehend eingeschränkt war.«

»Booth Watson wird sich mit vorübergehend nicht lange aufhalten, sobald er Hogan erst einmal im Zeugenstand hat«, sagte Sir Julian. »Er wird gleich zu Beginn von Entführung sprechen, was, wie leicht einzusehen ist, keiner Vorgehensweise entspricht, die im Handbuch der Metropolitan Police empfohlen wird.«

»Und das wird er tun, noch bevor er die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Diebstahl eines Selbstporträts von Frans Hals lenken dürfte, das mindestens eine Million wert ist«, fügte Grace hinzu. »Ein Bild, das die Öffentlichkeit bald in einer Ausstellung bewundern kann, die die Princess of Wales eröffnen wird.«

»Und zwar einer Ausstellung, die im Fitzmolean Museum stattfinden soll«, sagte Clare, »in dem zufälligerweise die Ehefrau von DCI Warwick Kuratorin der Gemäldesammlung ist.«

»Booth Watson wird das nicht für einen Zufall halten, und du kannst sicher sein, dass er die Bezeichnung ›Kuratorin der Gemäldesammlung‹ den Geschworenen gegenüber ad nauseam wiederholen wird«, sagte Sir Julian. »Gibt es auch irgendwelche guten Neuigkeiten?«

»Das Problem könnte sich von selbst erledigen, da der Prozess erst nach Beendigung der Ausstellung beginnen soll«, sagte Clare, »wenn das Bild bereits seinem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben wurde.«

»Wer immer das auch sein mag«, sagte Sir Julian. Die Falten auf seiner Stirn wurden immer tiefer. »Aber wie hilft uns das bei unserem Fall?«

»Mrs. Christina Faulkner hat eine eidesstattliche Erklärung unterzeichnet, die besagt, dass das Bild ihr gehört«, antwortete Clare. »Weshalb sie das Recht hat, es an jeden auszuleihen, dem sie es ausleihen möchte.«

»Unglücklicherweise werden wir erst dann herausfinden, auf wessen Seite die Dame steht«, sagte Grace, »wenn sie den Zeugenstand betritt. Und das ist ein Risiko, das ich nicht eingehen will, solange Booth Watson ihr mehr anbieten kann als wir. Außerdem könnte es bis dann ohnehin zu spät sein.«

»Ich fürchte, du hast recht«, sagte Sir Julian. »Wir bewegen uns bereits auf unsicherem Grund, wenn wir unsere Position verteidigen müssen. Worauf Booth Watson uns zweifellos hinweisen wird, wenn er uns«, er warf einen Blick auf seine Uhr, »in etwa zwanzig Minuten zu einer Vorbesprechung aufsuchen wird.«

»Ich habe so das Gefühl«, sagte Grace, »dass er nur allzu glücklich darüber sein wird, einen Deal auszuhandeln, durch den Faulkner vom Haken gelassen wird. Schließlich hatte er nach dessen Flucht aus dem Gefängnis ständig Kontakt zu ihm und hat sogar bei der vorgeblichen Beerdigung seines Mandanten den heimlichen Dirigenten gespielt.«

»Dann hoffen wir mal, dass du recht hast«, sagte Sir Julian. »Aber wird das genügen, um ihn daran zu hindern, dass er die Themen Entführung und Diebstahl zum Thema macht?«

Er hielt einen Augenblick lang inne und griff nach einem Blatt Papier auf seinem Schreibtisch. »Ich habe übrigens eine Liste mit Wünschen angelegt«, erklärte er, »die ich an Booth Watsons Stelle hätte.«

»Ich ebenfalls«, sagte Clare und zog ein Blatt liniertes gelbes Papier aus dem Bündel an Dokumenten, über die sie sich bereits einig waren.

»Gut, dann sollten wir unsere Notizen vergleichen«, sagte Grace.

»Erstens«, sagte Sir Julian, »wird Booth Watson verlangen, dass die Verhandlung öffentlich ist, damit die schweren Vorwürfe gegen DCI Warwick für jeden zugänglich sind. Und damit meine ich, dass sie auf allen Titelseiten der Sensationsblätter stehen werden. Denn wenn es eines gibt, was die Presse noch mehr liebt, als einen Kriminellen hinter Gitter zu bringen, dann ist es die Möglichkeit, der Polizei eins auszuwischen.«

»Richter lassen sich nicht von Schlagzeilen in roter Tinte beeinflussen«, sagte Grace.

»Aber Geschworene«, entgegnete Sir Julian. »Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass nicht viele von ihnen den Guardian lesen.«

»Allerdings …«, begann Grace.

»Deshalb«, fuhr er fort, bevor seine Tochter ihre Ansichten dazu äußern konnte, »sollten wir nicht überrascht sein, wenn Booth Watson Faulkner den Rat gibt, sich im Austausch gegen eine zur Bewährung ausgesetzte Strafe in einem minderschweren Anklagepunkt schuldig zu bekennen.«

»Das ist unwahrscheinlich«, sagte Grace. »Sollte das geschehen, würde die Presse fragen, warum er so leicht davongekommen ist.«

»Zweitens«, sagte Sir Julian. »Für seine Bereitschaft, das gestohlene Bild zu verschweigen, wird er verlangen, dass die Haftdauer seines Mandanten auf vier Jahre verkürzt wird, was bedeuten würde, dass Faulkner bei guter Führung in etwa einem Jahr mit seiner Entlassung rechnen kann.«

»Hogan hätte ihn im Safe lassen sollen«, murmelte Clare, bevor sie einen weiteren Haken auf ihrer Liste machte.

Sir Julian ignorierte den Kommentar und fasste das bisher Besprochene zusammen. »Unsere eigene Absicht ist es, dass wir als Vertreter der Krone den Richter bitten, Faulkners Strafe wegen Ausbruchs aus dem Gefängnis auf sechzehn Jahre zu verdoppeln, während die Verteidigung uns dazu drängen wird, die jüngsten Anklagepunkte fallen zu lassen im Austausch gegen die Zusicherung, Entführung und Diebstahl nicht zur Sprache zu bringen und darüber hinaus Faulkners gegenwärtige Strafe zu halbieren, wenn er bereit ist, sich für schuldig zu erklären, wodurch sichergestellt wäre, dass nichts über das Verhalten von DCI Warwick und DI Hogan in die Presse gelangt. Was also können wir ihm anbieten, wenn wir verhindern wollen, dass alles genau so abläuft, wie die Verteidigung sich das vorstellt? Mir fällt, ehrlich gesagt, nichts ein.«

»Wie ich schon erwähnt habe«, sagte Grace, »hat Booth Watson das eine oder andere eigene Problem, das er vor Gericht gewiss nicht diskutieren will.«

»Bring deine Argumente so vor, als würdest du dich an die Geschworenen richten«, forderte Sir Julian sie auf und umfasste die Aufschläge seines Jacketts, bevor er zu einer weiteren Runde ansetzte.

»Wenn Booth Watson an Faulkners inszenierter Beerdigung in Genf teilgenommen hat – was in der Tat der Fall war, wie DCI Warwick bestätigen kann – und später nach Barcelona geflogen ist – wie DC Pankhurst bezeugt hat –, muss er die ganze Zeit über gewusst haben, dass Faulkner noch am Leben ist. Was bedeutet, dass er laut dem Gesetz von 1967 einen flüchtigen Kriminellen begünstigt und aktiv unterstützt hat. Wenn wir das beweisen können, hat die Polizei keine andere Wahl, als eine Voruntersuchung zur Überprüfung seines anwaltlichen Verhaltens in die Wege zu leiten und die dabei gewonnenen Erkenntnisse dem Strafverfolgungsdienst der Krone und der Anwaltskammer zu übergeben. Dies könnte dazu führen, dass Booth Watson aus der Anwaltskammer ausgeschlossen und möglicherweise sogar wegen strafbarer Verabredung verhaftet wird, wodurch weder Faulkner noch sonst irgendjemand ihn als Anwalt beauftragen könnte.«

Sir Julian dachte eine Weile darüber nach und sagte schließlich: »Obwohl ich diesen Mann verabscheue, wollen wir hoffen, dass wir nicht so tief sinken müssen.«

»Doch selbst wenn es dazu käme«, sagte Clare, »bin ich mir sicher, dass Booth Watson noch tiefer sinken würde.«

Schweigend saß Ross vorn auf dem Beifahrersitz des Jaguars, während die Prinzessin und Lady Victoria Campbell angeregt auf der Rückbank plauderten. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie nervös er war, obwohl ihm stets bewusst blieb, dass er die Prinzessin heute zum ersten Mal außer Haus begleitete.

Früher an diesem Morgen hatte er bereits das Dorchester Hotel besucht und Kontakt zum verantwortlichen Beamten des Vorauskommandos aufgenommen. Zusammen waren sie die ganze Strecke abgegangen, sodass Ihre Königliche Hoheit keinen einzigen Schritt in welche Richtung auch immer tun konnte, den er nicht zuvor überprüft hatte, und danach hatten die Spürhunde das Gelände auf ihre eigene Art erkundet.

Der Beamte des Vorauskommandos informierte den Hotelmanager darüber, dass er mit einem VIP -Gast zu rechnen habe, ohne einen Namen zu nennen, und er warnte jeden davor, dass der Termin abgesagt und man kurzfristig einen anderen Veranstaltungsort aufsuchen würde, sollten irgendwelche Einzelheiten vorab an die Öffentlichkeit gelangen. Das sorgte üblicherweise dafür, dass alle Beteiligten den Mund hielten.

Ross hatte sich dem Vorauskommando angeschlossen, als die Beamten die Wege überprüften, auf denen Ihre Königliche Hoheit das Gebäude betreten und wieder verlassen würde, während er gleichzeitig nach möglichen Alternativen Ausschau hielt für den Fall, dass diese plötzlich gebraucht würden. Darüber hinaus hatte er um ein Privatzimmer mit einer Festnetztelefonverbindung gebeten, falls Ihre Königliche Hoheit einen privaten Anruf erledigen wollte, sowie einen eigenen Waschraum nur für ihren Gebrauch.

Nachdem alles zu seiner Zufriedenheit erledigt war, hatte er den Manager gefragt, ob kürzlich jemand entlassen worden war, der möglicherweise einen Groll hegte, dem er in aller Öffentlichkeit würde Luft machen wollen in der Hoffnung, den anderen den Tag zu verderben. Das Letzte, dessen Ross sich noch einmal versicherte, war die Tatsache, dass hinter dem Gebäude ein Wagen zum schnellen Verlassen des Geländes bereitstand, in dem sich ein Arzt befand und dessen Fahrer blitzschnell reagieren konnte, sollten sie überstürzt aufbrechen müssen.

Ein zweites Vorausteam würde noch einmal alles überprüfen, nachdem Ross das Gelände verlassen hatte, und war im Laufe des Morgens wahrscheinlich schon eingetroffen. Nicht dass die Beamten irgendjemandem aufgefallen wären, die mit scharfem Blick alles und jeden musterten, der wirkte, als gehöre er nicht hierher, obwohl ohnehin niemand durch die Hoteltür kam, wenn er keine Einladung und keinen Pass mit einem aktuellen Foto vorweisen konnte – was, wie man Ross glaubhaft versichert hatte, Billy Connolly bei einer früheren Gelegenheit daran gehindert hatte, an einem Lunch mit Ihrer Königlichen Hoheit teilzunehmen.

Doch trotz der gründlichen Vorbereitung wussten alle, dass sich immer etwas ereignen konnte, mit dem niemand gerechnet hatte, woraufhin man die Standardabläufe unverzüglich aufgeben musste. Sollte dies der Fall sein, würde Ross eine Entscheidung treffen müssen, die in Sicherheitskreisen einen ganz bestimmten Namen hatte: Dazu musste man, wie es genannt wurde, »im Laufen nachdenken«. Es war der schlimmste Albtraum eines Personenschützers, denn von dieser einen Entscheidung konnte eine ganze Karriere abhängen. Der Personenschützer von Prinzessin Anne hatte eine blitzschnelle Entscheidung getroffen, als ihr Fahrzeug von Terroristen angegriffen worden war, und zum Glück für ihn und für sie war es die richtige Entscheidung. Er erhielt das Georgskreuz, wurde befördert und schließlich Personenschützer der Queen. Trotzdem hoffte Ross, dass so etwas nie während seiner Dienstzeit geschehen würde.

Während sich der Jaguar dem Dorchester näherte, konnte Ross die große Menschenmenge sehen, die sich auf den Bürgersteigen versammelt hatte und ungeduldig auf das Eintreffen der Prinzessin wartete. Als sie vor dem Eingang zum Ballsaal hielten, sprang Ross aus dem Wagen und öffnete die hintere Tür für den Menschen, dessen Wohl ihm anvertraut war. Diana stieg aus, und Jubelrufe sowie ein Blitzlichtgewitter schlugen ihr entgegen.

Ross war von seinem Vorgänger gewarnt worden, dass die nächsten Minuten, in denen sie innehalten und einige Worte mit einzelnen Menschen wechseln würde, die anstrengendsten für jeden Personenschützer wären. Er musterte die Menge. Neunundneunzig Prozent der Leute vor Ort waren harmlos, und er interessierte sich nur für das restliche eine Prozent – für jemanden, der nicht winkte oder jubelte; jemanden, dessen Gesicht er aus der Verbrecherkartei in Scotland Yard kannte und das er sich unauslöschlich eingeprägt hatte; jemanden, der darauf hoffte, am folgenden Tag auf allen Titelseiten zu stehen. Jene Handvoll Personen, die als »Individuen mit einer Fixierung« galten – die Fanatiker, die Geisteskranken und sogar die leidenschaftlichen Republikaner, die ihre Einstellung vor einer gebannten Öffentlichkeit demonstrieren wollten.

Sir Magdi Yacoub, der hochangesehene Professor für Herzchirurgie am Imperial College, dessen Arbeit die Prinzessin schon seit vielen Jahren unterstützte, trat ihr auf dem Bürgersteig entgegen.

Nachdem Sir Magdi die Prinzessin begrüßt hatte, führte er sie ins Hotel, wo eine lange Reihe sorgfältig ausgewählter Förderer und ehrenamtlicher Mitarbeiter während der letzten halben Stunde geduldig gewartet hatte. Diana nahm sich Zeit, mit jedem von ihnen einige Worte zu wechseln, während sie langsam die Reihe entlangging, an deren Ende ihr schließlich von einer jungen Krankenschwester der obligatorische Blumenstrauß gereicht wurde. Sie nahm ihn mit einem liebenswürdigen Lächeln entgegen und reichte ihn dann an ihre Hofdame weiter. Die nächsten zwanzig Minuten widmete sie den Gästen, die nicht dafür ausgewählt wurden, mit den anderen in einer Reihe zu stehen.

Ross musterte weiterhin aufmerksam jeden, der ihr gegenübertrat oder ihre Hand ein wenig zu lange hielt. Obwohl er das Gebäude wenige Stunden zuvor erkundet hatte, war ihm bewusst, dass er sich keine Sekunde lang entspannen durfte.

Kurz vor eins erklang ein Gong. Der Zeremonienmeister trat nach vorn und bat die Gäste mit einer dröhnenden Stimme, die eines Feldwebels würdig gewesen wäre, sich in den Speisesaal zu begeben, da in Kürze mit dem Auftragen der Mahlzeiten begonnen würde.

Die Prinzessin blieb zurück, bis alle die Empfangshalle verlassen hatten – außer Sir Magdi, der auf eine weitere Ankündigung des Zeremonienmeisters wartete.

»Bitte erheben Sie sich für Ihre Königliche Hoheit, die Prinzessin von Wales, die von unserem Vorsitzenden, Sir Magdi Yacoub, begleitet wird.«

Vierhundert Gäste erhoben sich und applaudierten der Prinzessin, bis diese den Tisch an der Stirnseite des Saals erreicht hatte, und niemand nahm Platz, bevor sie sich gesetzt hatte. Nicht zum ersten Mal dachte Ross daran, wie schwierig es sein musste, sich eine solch rückhaltlose Verehrung nicht zu Kopf steigen zu lassen.

Ohne innezuhalten, streifte sein Blick durch den gut gefüllten Saal plaudernder Gäste, die ihre Aufregung darüber, heute hier zu sein, nicht verbergen konnten. Mehrere Male wurde er gefragt, ob er sich setzen und etwas essen wolle. Doch er lehnte höflich ab und zog es vor, nur wenige Schritte entfernt von dem Menschen, für den er verantwortlich war, in den Kulissen zu bleiben. Er hoffte, er würde nie zur Bühnenmitte gehen und eine Hauptrolle spielen müssen.

Während Diana ihren Räucherlachs genoss und mit ihren Tischnachbarn an der Stirnseite des Saals plauderte, hatte Ross ein wachsames Auge auf die Kellner. In Russland würde man sich darauf einstellen, dass die größte Bedrohung von ihnen ausging.

Nachdem der letzte Teller abgetragen und der Kaffee serviert worden war, begannen die Reden mit einer Ansprache des Vorsitzenden, der eine Einführung in die Arbeit seiner karitativen Organisation gab. Danach begrüßte er die Ehrengäste. Der Zeremonienmeister stellte ein kleines Pult vor die Prinzessin auf den Tisch, und ihre Hofdame reichte ihr die Rede, die sie an jenem Morgen zum ersten Mal gesehen hatte, wobei ihr gerade noch Zeit geblieben war, die eine oder andere persönliche Anmerkung hinzuzufügen.

Die Gäste lauschten Dianas Worten mit hingerissener Aufmerksamkeit und lachten über ihre Witze. Als sie wieder Platz nahm, erhoben sich alle gleichzeitig und applaudierten ihr in einem Ausmaß, wie nur wenige Politiker es jemals erlebten. Wie schon oft zuvor fragte sich Ross, ob sie jemals darüber nachdachte, wie anders ihr Leben verlaufen wäre, wenn sie nicht den Prince of Wales geheiratet hätte.

Schließlich war die Reihe am Auktionator der Wohltätigkeitsorganisation, bei den Gästen Geld einzusammeln. Er bot ihnen die verschiedensten Dinge an – von einer Loge in der Royal Albert Hall während des patriotischen Abschlusskonzerts der BBC -Proms bis hin zu mehreren Plätzen beim Halbfinale der Damen in Wimbledon. Nachdem das letzte Angebot unter den Hammer gekommen war, verkündete er, dass die Auktion 160 000 Pfund für karitative Zwecke erbracht hatte, woraufhin wiederum lauter Beifall erklang. Die Prinzessin beugte sich hinüber und flüsterte dem Auktionator etwas ins Ohr.

»Ladys und Gentlemen«, sagte er ans Mikrofon zurückkehrend. »Ihre Königliche Hoheit hat sich bereit erklärt, jedem, der eintausend Pfund spendet, das Tischtuch zu signieren.«

Sofort schossen mehrere Hände nach oben, und Ross begleitete die Prinzessin, während sie von Tisch zu Tisch ging und die weißen Leinentischtücher und eine gewisse Anzahl von Servietten – für jeweils fünfhundert Pfund pro Stück – mit einem schwarzen Filzstift signierte, den ihr ihre Hofdame reichte.

Als sie schließlich an den Tisch am Kopfende des Saals zurückkehrte, verkündete der Auktionator, dass weitere 42 000 Pfund zusammengekommen waren, woraus sich eine Gesamtsumme von 202 000 Pfund ergab, die benachteiligten Kindern, die eine Herzoperation brauchten, zugutekommen würde.

Wieder erhoben sich die Gäste, was das Zeichen dafür war, dass die Prinzessin nun aufbrechen musste. Ross ging ihr voraus, um den Weg frei zu machen und dafür zu sorgen, dass sie ungehindert zum Haupteingang gelangen konnte. Als sie am Auktionator vorbeikamen, flüsterte sie: »Danke, Jeffrey. Das funktioniert immer.« Der Auktionator verbeugte sich, äußerte sich jedoch nicht dazu. Während seiner Zeit bei der Met hatte Ross oftmals kleine Tricksereien miterlebt, aber nie auf einem solch königlichen Niveau. Als die Prinzessin das Gebäude verließ, leuchteten wiederum zahlreiche Blitzlichter auf, während Ross wie zuvor die Menge musterte. Einige Besucher hatten stundenlang ausgeharrt in der Hoffnung, einen zweiten Blick auf die Prinzessin zu erhaschen.

Dann wurde Ross Zeuge einer jener persönlichen Eigenheiten, welche Diana bei der Öffentlichkeit so beliebt gemacht hatten. Sie entdeckte jemanden, der schon bei ihrer Ankunft hier gewesen war, und blieb stehen, um ein paar Worte mit dem Betreffenden zu wechseln. Ross entspannte sich erst, als Diana schließlich wieder auf der Rückbank des Fahrzeugs Platz nahm, wo Victoria bereits auf sie wartete.

Langsam rollte der Jaguar davon, was Diana Gelegenheit gab, den Besuchern am Straßenrand weiter zuzuwinken, bis der letzte von ihnen außer Sichtweite war und sie einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausstoßen konnte.

»Zweihundertundzweitausend, Ma’am. Nicht schlecht«, sagte Victoria, als das Fahrzeug beschleunigte und die beiden begleitenden Polizisten auf ihren Motorrädern mit Blaulicht und dem schrillen Lärm ihrer Pfeifen beim Überqueren jeder Kreuzung für eine problemlose Rückkehr in den Kensington Palace sorgten.

»Was kommt als Nächstes?«, fragte Diana.

»Heute nichts mehr, Ma’am«, antwortete Victoria. »Sie können sich heute Abend entspannen und Blind Date mit Cilla Black genießen.«

»Vielleicht sollte ich mitmachen«, sagte sie wehmütig.

Ross hatte schnell begriffen, dass Diana sich überhaupt nicht entspannen wollte. Der Adrenalinschub, den sie bei diesen öffentlichen Auftritten erlebte, hielt sie aufrecht. Er hatte William bisher verschwiegen, dass er den Prince of Wales immer noch nicht kennengelernt hatte.

»Schön, dass Sie zu uns stoßen, BW «, sagte Sir Julian, nachdem Booth Watson einige Minuten zu spät zu ihrer Besprechung gekommen war, was die Wartenden nicht überraschte. »Ich glaube, Sie kennen meine Kollegin bereits. Sie hat mir assistiert, als Sie und ich in Faulkners erstem Prozess die Klingen gekreuzt haben.«

»Am besten rechnen Sie erst gar nicht damit, bei dieser neuen Gelegenheit dasselbe Ergebnis zu erzielen, junge Dame«, sagte Booth Watson mit einem herablassenden Lächeln zu Grace, worauf diese mit einer knappen Verbeugung reagierte.

»Die Aufgabe eines beratenden Solicitors«, fuhr Sir Julian fort, indem er die Stichelei ignorierte, »wird in diesem Fall Clare Sutton übernehmen.« Booth Watson nahm sie kaum zur Kenntnis, während er auf der anderen Seite des Tisches Platz nahm. »Es schien mir sinnvoll, ein Vorgespräch zu führen, nachdem das Datum für den Prozess inzwischen offiziell festgelegt wurde.«

»Ganz meine Meinung«, sagte Booth Watson, was eine Überraschung für die Vertreter der Krone war. »Vorausgesetzt, dass Sie etwas Gehaltvolles anzubieten haben, das ich meinem Mandanten zur Erwägung vorlegen kann.«

»Nichts Großes«, gestand Sir Julian, der sich nur ungern in die Karten schauen ließ. »Wir werden dem Richter empfehlen, dass er Faulkners Strafe auf sechzehn Jahre verdoppelt, womit Sie wahrscheinlich bereits gerechnet haben. Mr. Justice Cummings hat sich jedoch bereit erklärt«, fuhr er fort, bevor Booth Watson darauf eingehen konnte, »auf zwei Jahre der Strafe zu verzichten, sofern Ihr Mandant auf schuldig plädiert, was dem Gericht sehr viel Zeit und Kosten ersparen würde.«

Die drei warteten darauf, dass der Vulkan ausbrechen würde, doch es strömte keine Lava.

»Ich werde meinem Mandanten Ihr Angebot unterbreiten«, sagte Booth Watson, »und Sie über seine Antwort in Kenntnis setzen.«

»Gibt es irgendwelche mildernden Umstände, die wir Ihrer Meinung nach zu diesem Zeitpunkt berücksichtigen sollten?«, fragte Grace, die diesen Satz sorgfältig vorbereitet hatte.

»Nicht dass ich wüsste, Ms. Warwick«, lautete die unverzügliche Antwort. »Aber sollte sich als Folge meines Gesprächs mit Mr. Faulkner irgendetwas ergeben, werden Sie die Ersten sein, die es erfahren.«

Wieder war Sir Julian überrascht, und es dauerte einige Augenblicke, bis er reagierte. »Nun, wenn es nichts Weiteres zu besprechen gibt, BW , werden wir abwarten, bis wir zu gegebener Zeit wieder von Ihnen hören.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Julian«, sagte Booth Watson, indem er sich erhob. »Ich spreche mit meinem Mandanten gegen Ende der Woche und melde mich, sobald ich meine Anweisungen von ihm erhalten habe.«

Zögernd stand Sir Julian auf und gab seinem Rivalen die Hand, als seien sie alte Freunde. Er begleitete ihn zur Tür und sagte: »Ich freue mich darauf, von Ihnen zu hören, BW

Clare wartete, bis sich die Tür geschlossen hatte, und sagte dann: »Was hat er vor?«

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Sir Julian. »Entweder hält er sein Pulver trocken, bis er sich mit Faulkner beraten hat, was ich für die wahrscheinlichste Erklärung halte. Es sei denn …« Die beiden Frauen warteten darauf, dass er seinen Satz beenden würde. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich will einfach nicht glauben, dass BW so tief sinken würde.«