17

William gestattete sich dreißig Minuten, um die kurze Fahrt zu machen.

Es war keine Überraschung, dass er zu der Zeremonie im Palast gebeten wurde. Der Commander hatte ihn bereits ausführlich über die Rolle informiert, die er zu spielen hätte. Wenn es um eine Auszeichnung wegen Tapferkeit ging, so hatte er ihm erklärt, ließ Ihre Majestät es nicht zu, dass ein anderes Mitglied der königlichen Familie an ihrer Stelle die Verleihung übernahm. Schließlich trug der Orden ihren Namen.

Er verließ Scotland Yard und schlug den Weg in Richtung Whitehall ein. Am Trafalgar Square bog er links ab und fuhr unter dem Admiralty Arch hindurch auf die Mall. Als die Ampeln am Ende der Mall grün wurden, umrundete er die Statue von Queen Victoria und hielt schließlich vor dem North Centre Gate des Buckingham Palace.

Ein Wachsoldat überprüfte seinen Namen auf einem Klemmbrett und beschrieb ihm den Weg durch den linken Gebäudebogen auf einen großen viereckigen Innenhof. William folgte seinen Anweisungen und parkte den Mini neben dem Jaguar des Commanders. Wieder hatte Hawksby ihn bei einem kleinen Wettbewerb geschlagen.

Er stieg aus dem Auto und war unsicher, wohin er sich wenden sollte. Doch dann sah er, wie ihm der Commissioner der Metropolitan Police in Galauniform vorausging – ein Mann, der ganz offensichtlich wusste, wohin er sich zu begeben hatte.

Als William die gewaltigen Doppeltüren erreichte, die den Haupteingang zum Palast bildeten, wurde sein Name erneut überprüft, bevor ein Page in goldgeschmückter Uniform, der aus einem früheren Jahrhundert hätte stammen können, ihn schweigend über eine breite, mit einem roten Teppich bespannte Treppe ins erste Obergeschoss führte.

»Wenn Sie durch die Long Gallery gehen wollen, Sir«, sagte der Page. »Der Thronsaal liegt dann rechts.«

William warf einen Blick auf seine Uhr. Er hatte immer noch zwölf Minuten, bis die Zeremonie beginnen sollte, weshalb er sehr langsam die Long Gallery hinabschritt. Der Raum war so breit wie eine Landstraße, und die Wände, die weit über ihm aufragten, waren über und über mit Gemälden bedeckt. Er blieb stehen, um viele der Bilder zu bewundern, die er bisher nur in Die Bilder der Queen gesehen hatte, einem Buch, das ihm sein Vater gegeben hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Als er Anthonis van Dycks Charles I und Henrietta Maria erreicht hatte, musste er einen Schritt zurücktreten, um die großen Porträts wirklich genießen zu können, wobei er fast mit einem weiteren Gast zusammengestoßen wäre.

»Guten Morgen, Sir«, sagte Paul.

»Guten Morgen«, sagte William, ohne sich umzudrehen. »Beth wird so neidisch sein«, fügte er hinzu, wobei es ihm nicht gelang, ein schiefes Grinsen zu verbergen.

»Ich bezweifle, dass sie es auch nur bis in den Thronsaal geschafft hätte. Und uns wird es ebenso ergehen, wenn wir uns nicht auf den Weg machen.«

Widerwillig folgte William seinem Kollegen. Er versuchte, sich noch einen Canaletto und einen weiteren van Dyck einzuprägen, bevor er schließlich den Thronsaal betrat. Auch hier erschien die Wendung »raubte einem den Atem« unangemessen für das, was er vor sich sah. Einen Augenblick verharrte er reglos und bewunderte den gewaltigen Kristalllüster, der in der Mitte des Saals von der hohen Decke hing, aber dann wurde sein Blick von den beiden roten Thronen mit hohen Rückenlehnen angezogen, die am anderen Ende des Saals auf einem erhöhten Podium standen. Es gab nur zwei Menschen, die darauf sitzen durften. Durch den gewaltigen Saal zogen sich mehrere Reihen goldener Stühle, auf denen, so vermutete er, mehrere Hundert Gäste Platz gefunden hätten, doch bei dieser Gelegenheit würden nur diejenigen in der vordersten Reihe besetzt sein. Langsam schritt er über den mit rotem Teppichboden belegten Gang auf die beiden Throne zu. Nachdem er die erste Reihe erreicht hatte, sah er, dass der Commissioner und Commander Hawksby in ein Gespräch vertieft waren. Er setzte sich auf den ihm zugeteilten Stuhl am Rand der Reihe neben Rebecca. Ein weiteres »Guten Morgen, Sir« folgte, bevor er Ross zulächelte, der zu ihrer Rechten saß. William wollte ihm gerade eine Frage stellen, als alle verstummten und sich von ihren Plätzen erhoben. Er wandte sich nach links, um zuzusehen, wie seine oberste Chefin eintrat.

So winzig, dachte er, als die Queen an ihnen vorüberschritt. Er fragte sich, ob sie sich auf ihren Thron setzen würde, doch sie blieb auf der Stufe stehen, die zum Podium hinaufführte, und wandte sich ihren Gästen zu.

Ein Hofbeamter deutete mit einer leichten Handbewegung an, dass sie sich setzen sollten, während ein zweiter der Queen ihre Rede reichte. William blieb stehen.

»Zunächst möchte ich Sie willkommen heißen und meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass es Ihnen allen möglich war, zu diesem besonderen Anlass hier zu erscheinen.«

Unweigerlich musste William sich fragen, ob es jemanden gab, der einen dringenderen Termin hatte.

»Wir haben uns heute hier versammelt, um die Leistung eines bemerkenswerten Menschen zu würdigen, den man wahrhaftig nicht als eine gewöhnliche Frau bezeichnen kann.« Sie hielt kurz inne, um eine Seite ihrer Rede umzuschlagen. »Als sie aufgefordert war, ihre Pflicht zu tun, zögerte sie nicht, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Ihr außerordentlicher Mut hatte zur Folge, dass ein skrupelloser Terrorist der Gerechtigkeit zugeführt wurde.« Die Queen sah auf und lächelte. »Deshalb ist es mir eine besondere Freude, Detective Sergeant Jacqueline Michelle Roycroft die Queen’s Gallantry Medal zu verleihen, wodurch sie jener kleinen Gruppe von Polizeibeamten angehören wird, denen diese Ehre zuteilwurde, und dies darüber hinaus als erste Frau.«

Der Hofbeamte reichte Ihrer Majestät eine blaue Schachtel, welche sie öffnete, als William Jackies Rollstuhl nach vorn schob und vor der Queen stehen blieb.

Jackies Kollegen brachen in spontanen Beifall aus, als die Queen sich hinabbeugte und ihr den Orden an die Uniformbrust heftete. Bis zu diesem Augenblick war Jackie einigermaßen gefasst geblieben. Sie hatte die Armlehnen ihres Rollstuhls umklammert und war entschlossen, nicht zu zeigen, wie nervös sie war. Sich einem bewaffneten Terroristen gegenüberzusehen, war eine Sache; sich der Monarchin gegenüberzusehen, eine ganz andere. Die Tatsache, dass Jackie seit mehreren Wochen von der Auszeichnung wusste, war keine Hilfe.

Später wurde es zur Legende im Team, dass Hawksby eine Träne vergossen hatte, obwohl er das gegenüber jedem abstritt, nur gegenüber seiner Frau nicht.

Während des nachfolgenden Empfangs verbrachte die Queen einige Zeit damit, sich mit Jackie zu unterhalten – doch es war William, der ihr von der Kugel berichtete, die sich durch die Brust seiner Kollegin gebohrt und ihr Herz nur um Millimeter verfehlt hatte, als das Flugzeug mit quietschenden Reifen zum Stehen gekommen war.

Die letzten Worte Ihrer Majestät lauteten: »Wir können uns glücklich schätzen, dass Beamtinnen Ihres Kalibers Dienst bei der Polizei tun.«

Als Ihre Majestät sich anderen Mitgliedern des Teams zuwandte, um auch mit ihnen zu sprechen, nahm William Inspector Roach beiseite und dankte ihm für die Rolle, die seine Einheit bei der Festnahme dreier Terroristen gespielt hatte. »Obwohl ich gestehen muss«, fügte William hinzu, »dass Sie mich in die Irre geführt haben, als Sie sagten, Jackie wäre ein verdammt gutes Mitglied der Anti-Terroreinheit geworden, denn ich hatte angenommen …«

»Tut mir leid, alter Junge«, sagte Roach, dem das offensichtlich überhaupt nicht leidtat. »Ich wollte damit nur ausdrücken, dass wir keine Frauen in unserer Abteilung haben. Nach meiner Zusammenarbeit mit Jackie finde ich das noch bedauerlicher, und ich hätte gerne, dass sie zu uns wechselt.«

»Das können Sie vergessen«, sagte William. »Sobald Jackie wieder auf den Beinen ist, muss sie sich einer Aufgabe widmen, die eine genauso große Herausforderung darstellt. Und dass der Verdächtige dabei aus unseren eigenen Reihen kommt, macht die Sache nur noch schwieriger.«

»Kann ich irgendetwas tun, um Ihnen zu helfen?«

»Ich fürchte, nein. Wir werden ein wenig subtiler vorgehen müssen als Ihre Truppe, und ich kann Ihnen nur verraten, dass meine nächste Begegnung mit einem Mitglied der königlichen Familie möglicherweise nicht ganz so angenehm wird.«

»Möchtest du die gute oder die schlechte Nachricht zuerst hören?«, fragte Beth, als William an jenem Abend nach Hause kam.

»Fang doch einfach mit der schlechten Nachricht an«, sagte William und schloss die Tür hinter sich.

»Tim Knox verlässt das Fitzmolean. Man hat ihm die Stelle eines Gutachters der königlichen Gemäldesammlung angeboten.«

»Es tut mir leid, das zu hören. Es wird schwierig sein, ihn zu ersetzen. Was ist die gute Nachricht?«

»Er hat vorgeschlagen, dass ich mich um seine Position bewerbe«, sagte Beth, als sie in die Küche gingen, wo sich die Zwillinge und Jojo unter Sarahs wachsamem Auge über eine große Pizza hermachten.

»Hören sie jemals auf zu essen?«, fragte William und trat zu ihnen an den Tisch.

»Er glaubt, ich habe eine echte Chance, dass man mir die Stelle als Direktorin anbietet, denn mehrere Mitglieder des Verwaltungsrats haben deutlich gemacht, dass sie auf meiner Seite sind. Und er selbst wird mich ganz sicher unterstützen, wenn es zu einer Wahl kommt.«

»Sie können sich glücklich schätzen, wenn sie dich bekommen«, sagte William und spähte nach dem letzten Stück Pizza, doch er war nicht schnell genug.

»Der Vorstand muss die Stelle ausschreiben lassen, weshalb ich mich auf heftigen Widerstand einstellen sollte.«

»Möge Gott dem armen Mitbewerber gnädig sein, der es wagt, gegen dich anzutreten.«

»Schlimmer Daddy«, sagte Artemisia zwischen zwei Bissen Pizza. »Meine Lehrerin in der Sonntagsschule sagt, dass man den Namen des Herrn niemals leichtfertig in den Mund nehmen sollte.«

»Niemals«, sagte Peter.

»Niemals«, wiederholte Jojo.

»Vollkommen richtig. Was ich sagen wollte, war: Der Himmel möge dem Menschen helfen, der gegen eure Mutter antritt.«

»Zeit für das Bad, Kinder«, sagte Sarah energisch.

»Wirst du uns etwas vorlesen, bevor wir schlafen gehen, Daddy?«, fragte Peter, als er vom Tisch aufstand.

»Natürlich. Seid ihr immer noch bei Der Wind in den Weiden

»Nein, damit sind wir schon längst fertig. Jetzt lesen wir Alice im Wunderland .« William fühlte sich schuldig angesichts der vielen Abende, an denen er es nicht geschafft hatte, nach Hause zu kommen, bevor die Kinder schliefen. Sein Vater hatte ihn oft genug davor gewarnt, wie schnell diese Jahre vorbei sein würden.

»Vielleicht könnte ich einen kleinen Coup landen«, sagte Beth, als Sarah die Kinder bei der Hand nahm und ins Bad brachte, »der meine Chancen, die Stelle zu bekommen, keineswegs beeinträchtigen würde.«

»Du hast vor, die Auswahlkommission zu bestechen.«

»Dafür habe ich nicht genügend Geld«, sagte Beth. »Aber ich habe ein Bild von Jan Steen entdeckt, das bei einer Auktion in Pittsburgh angeboten werden soll und das ich uns vielleicht zu einem vernünftigen Preis sichern könnte. Wobei es natürlich möglich wäre, dass man uns überbietet. Immerhin ist das Bild auf der Titelseite des Katalogs.«

»Inwiefern könnte dir das helfen, die Stelle zu bekommen?«

»Überhaupt nicht. Aber im selben Katalog habe ich eine Bleistiftzeichnung von einem unbekannten Künstler entdeckt, die, davon bin ich überzeugt, eine vorläufige Skizze der Lampe in Die Nachtwache darstellt.«

»Wie hoch ist der Schätzpreis?«

»Zweihundert Dollar. Es könnte sich um eine Kopie handeln, die ein Zeitgenosse von Rembrandt angefertigt hat, doch bei diesem Preis wäre es das Risiko wert.«

»Und wenn die Skizze tatsächlich von Rembrandt stammt?«

»Dann könnte sie vierzigtausend Pfund wert sein.«

»Sodass der Verkauf eine willkommene Aufstockung der kargen Mittel des Museums wäre.«

»Kommt nicht infrage. Der Vorstand würde dem Verkauf einer Zeichnung von Rembrandt niemals zustimmen. Sie würden sie in die Dauerausstellung aufnehmen, obwohl die Summe dem Jahresgehalt des Direktors – oder der Direktorin – entspricht.«

»Und du hast dir natürlich schon eine subtile Möglichkeit ausgedacht, den Vorstand das wissen zu lassen.«

»Nur wenn ich recht habe.«

»Immerhin bist du die Einzige, die die Skizze entdeckt hat«, sagte William. Dann deutete er nach oben. »Aber nun zu höheren Dingen. Es wird Zeit, dass ich den verrückten Hutmacher aufsuche und herausfinde, warum er mit der Herzkönigin Tee trinkt.«

»Was möchtest du zum Abendessen?«, fragte Beth, als er vom Tisch aufstand.

»Habe ich eine Chance auf Pizza?«, sagte er und starrte auf den leeren Teller.

»Du hast Glück, Höhlenmensch. Ich habe schon vor einiger Zeit akzeptiert, dass es in dieser Familie vier Kinder gibt, und deshalb eine mehr bestellt. Wenn du wieder nach unten kommst, kannst du mir alles über deinen Tag erzählen.«

»Es war einfach ein weiterer Tag im Büro«, sagte William. »Obwohl ich eine interessante Unterhaltung mit der Queen hatte.«

Am folgenden Morgen kam William spät zur Arbeit in Buckingham Gate und war rechtzeitig wieder zu Hause, um das nächste Kapitel vorzulesen, bevor die Kinder einschliefen. Ende des Monats hatten sie Alice im Wunderland beendet und das fünfte Kapitel von Alice hinter den Spiegeln erreicht. Denn sein entspannter Umgang im Hinblick auf seine Arbeitszeit gehörte zu ihrem Plan, Milner davon zu überzeugen, dass sie nur allzu gerne bereit waren, sich ebenfalls ein besonders großes Stück vom Kuchen zu sichern.

Sechs Wochen lang hielten sie sich strikt an ihren Zeitplan. Sie kamen spät an jedem Morgen, gönnten sich lange Mittagspausen, wobei sie die Ausgaben als Spesen abrechneten, und gingen früh wieder nach Hause. All das war Teil einer sorgfältig abgestimmten Inszenierung, die von William geleitet wurde.

Als Milner anfing, ihn Bill zu nennen, wusste er, dass die Operation Abrechnungsschwindel perfekt funktionierte. Der Superintendent hätte sich besser daran erinnern sollen, dass Constable William Warwick nach seinem Einstieg bei der Polizei nicht umsonst den Spitznamen »Chorknabe« getragen hatte.

Die Besprechungen um acht Uhr im Yard wurden regelmäßiger, als sich für das Team die Möglichkeit des Handelns abzuzeichnen begann – nämlich während jener zehn Tage, an denen Prince Charles und Diana auf ihrer Überseetour waren. Superintendent Milner, DI Reynolds und Sergeant Jennings, der kürzlich über Constable Jenny Smart hinweg zum Personenschützer befördert worden war, sollten sie auf die andere Seite des Atlantiks begleiten, wo DI Ross Hogan alle genau im Auge behalten konnte.

»Wie hast du das bloß wieder geschafft?«, wollte Miles von Tulip wissen, als die beiden über den Gefängnishof schlenderten.

»Ich habe einen Judas gefunden, der für seinen Verrat nicht einmal dreißig Silberlinge möchte«, antwortete Tulip. »Er heißt Tareq Omar.«

»Und warum ist er bereit, ein so großes Risiko einzugehen?«

»Khalifah war verantwortlich für den Tod seines Bruders während des kürzlichen Staatsstreichs in Algerien, weshalb Rache Lohn genug für ihn ist.«

»Wie bringen wir die beiden zusammen?«

»Ich habe dafür gesorgt, dass Omar dem Reinigungstrupp in Khalifahs Flügel zugeteilt wird, weshalb sich ihre Wege regelmäßig kreuzen werden, wenn er als engagierter Kämpfer für die Sache auftreten wird. Ich fürchte nur, dass er ihn umbringen könnte.«

»Er muss am Leben bleiben, solange auch nur die geringste Chance besteht, dass Khalifah mir den Weg nach draußen bereitet.«

»Ich dachte, das wäre alles unter Kontrolle.«

»Das dachte ich auch«, sagte Miles. »Bis BW bei unserer wöchentlichen Besprechung aufgetaucht ist und mir gesagt hat, er habe Sir Julian Warwick getroffen, um unsere Vereinbarung zu bestätigen.«

»Warum glauben Sie, dass er das nicht getan hat?«, fragte Tulip.

»Lamont sagt, dass sie einander nicht mehr gesehen haben, seit Sir Julian kurz nach Booth Watsons Rückkehr aus Spanien in dessen Kanzlei war.«

»Wem von beiden glauben Sie?«

»Lamont. Denn wenn er ausschließlich für BW arbeiten würde, hätte er dessen Geschichte bestätigt. Deshalb könnte es sein, dass ich auf eine meiner Versicherungspolicen zurückgreifen muss, wenn überhaupt noch irgendeine Hoffnung bestehen soll, dass ich hier rauskomme.« Tulip wusste, wann es besser war, seinen Boss nicht zu unterbrechen. »Eines ist sicher«, fuhr Miles fort. »Ich kann es nicht riskieren, Omar selbst zu treffen. Wie also wird er dir irgendwelche wertvollen Informationen, an die er gelangt, zukommen lassen, ohne dass der gesamte Gefängnishof darüber tratscht?«

»Meine Zelle liegt auf derselben Ebene wie seine, weshalb er gelegentlich vorbeischauen kann, ohne dass irgendjemand misstrauisch werden muss. Trotzdem könnte es einige Zeit dauern, bevor Khalifah ihm so weit vertraut, dass er über wichtige Dinge mit ihm spricht.«

»Viel Zeit habe ich nicht mehr«, sagte Miles ohne eine weitere Erklärung. »Gib mir sofort Bescheid, falls Omar dir irgendetwas Wertvolles mitteilt, denn ich habe bereits einen Termin mit Commander Hawksby vereinbart.«

Tulip konnte nicht glauben, was er gerade gehört hatte.

William traf kurz vor acht am folgenden Morgen in Buckingham Gate ein, wo Rebecca ihn bereits an der Tür erwartete. Nachdem der Beamte, der die Nachtwache übernommen hatte, gegangen war, verriegelte William die Tür hinter sich. Sie konnten es sich nicht leisten, gestört zu werden, während Milner und sein Team im Ausland über ihre Klienten wachten.

Paul war kurz vor sieben zu Hause aufgebrochen und hatte auf seinem Weg nach Windsor nur einmal angehalten, um Jackie abzuholen. Ihr standen zwar sechs Monate Genesungsurlaub zu, doch schon bald kam es ihr nicht besonders aufregend vor, wenn Rebecca gelegentlich vorbeischaute, um sie auf den neuesten Stand zu bringen – und darüber hinaus langweilte sie das Nachmittagsprogramm im Fernsehen bereits.

Das entscheidende Stück des Puzzles hatte seinen perfekten Platz gefunden, als Constable Jenny Smart beschlossen hatte, die Einheit zu verlassen, und den Antrag stellte, in eine andere Abteilung versetzt zu werden, nachdem sie bei der Beförderung einmal zu viel übergangen worden war.

Paul und Jackie mussten nicht in den Verwaltungsblock einbrechen, denn Jenny hatte die Tür weit offen stehen lassen.

Eine Woche lang verbrachten sie Tag und Nacht damit, sich durch eine Akte nach der anderen zu graben. Das brachte ihnen mehr als genug Material ein, um Hawksby gegenüber nachzuweisen, welches Leben Milner und dessen Kumpane während der letzten Jahre auf Kosten des Steuerzahlers geführt hatten. Da sie am Freitagabend erst die Hälfte der belastenden Hinweise bearbeitet hatten, schliefen die beiden in Feldbetten vor Ort. Doch noch immer waren zwei Aktenschränke übrig, die sie durchsehen mussten, als Milner den Prinzen und die Prinzessin im Flugzeug zurück nach Heathrow begleitete.

In Buckingham Gate benutzte William einen Hauptschlüssel, um in Milners Büro zu gelangen, während Rebecca herausfand, dass DI Reynolds’ Tür überhaupt nicht abgeschlossen war. Offensichtlich war er davon überzeugt, dass niemand es wagen würde, seinen heiligen Bereich zu betreten, solange er nicht hier war. Sergeant Jennings’ Büro war verschlossen, die Beschäftigung damit würde warten müssen. Doch da er erst vor Kurzem befördert worden war, würden seine Vergehen wohl nicht ganz so groß sein.

Während der nächsten Tage arbeiteten die vier rund um die Uhr, und als das königliche Flugzeug wieder in England landete, hatten sie genügend Beweise gesammelt, die sicherstellten, dass Milner nicht in ein paar Jahren in Pension gehen und sich mit dem Titel eines Knight Commander of the Royal Victorian Order aufs Land zurückziehen würde, wie er es seiner Frau versprochen hatte, die nicht damit hinter dem Berg hielt, wie sehr sie sich darauf freute, in Zukunft Lady Milner zu sein. Stattdessen würde man ihn unverzüglich und ohne Pension aus dem Polizeidienst entlassen.

Milner erschien am folgenden Montag pünktlich zum Lunch in Buckingham Gate und zeigte sich unbesorgt, als er erfuhr, dass DCI Warwick seinen Jahresurlaub genommen hatte, DS Adaja einen Ausbildungskurs in Manchester besuchte, DC Pankhurst zum Begräbnis ihrer Mutter nach Cornwall gefahren war und man frühestens in einem Vierteljahr damit rechnen konnte, dass DS Roycroft sich wieder zum Dienst melden würde. Er war ebenso unbesorgt, als er Constable Smarts Kündigung auf seinem Schreibtisch vorfand.

Wäre Milner von seiner Unantastbarkeit nicht so überzeugt gewesen, hätte er herausfinden können, dass alle vier sich in Wahrheit in ihre Büros in Scotland Yard zurückgezogen hatten und letzte Hand an den Bericht legten, den sie Ende der Woche Commander Hawksby überreichen würden.