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»Ich werde dem Strafverfolgungsdienst der Krone empfehlen, zwei weitere Jahre von Ihrer Haftstrafe abzuziehen«, sagte William, der Faulkner überrascht hatte, indem er schon so bald wieder bei ihm im Gefängnis erschien. Holbrooke hatte klargemacht, dass es keine Zeit zu verlieren galt.

Rebecca begann mitzuschreiben.

»Das bedeutet, dass ich Weihnachten hier rauskomme«, sagte Faulkner mit einem schiefen Lächeln.

»Ich weiß nicht, wie das funktionieren sollte«, sagte William, dem es nun seinerseits nicht gelang, seine Überraschung zu verbergen. »Keiner von uns kann mit Sicherheit sagen, wie viele Jahre der Richter zu Ihrer gegenwärtigen Haftstrafe hinzufügen wird, wenn Sie in ein paar Wochen vor ihm im Old Bailey erscheinen werden.«

»Offensichtlich sind Sie sich nicht der Abmachung bewusst, die ich mit Ihrem Vater getroffen habe. Er hat bereits zugestimmt, dass sich der Strafverfolgungsdienst für ein Aussetzen der Haft auf Bewährung einsetzen wird, wenn ich mich in den neuen Anklagepunkten für schuldig erkläre.«

William hätte am liebsten laut gelacht, doch er sah, dass Faulkner keine Scherze machte.

»Wenn Sie also zwei weitere Jahre von meiner Haftstrafe abziehen, bleiben mir insgesamt noch vier. Und wenn Sie zusätzlich die Zeit abziehen, die ich bereits in Haft bin, und der Rest aufgrund guter Führung halbiert wird, dann sollte ich, wie ich gesagt habe, an Weihnachten frei sein.«

William konnte nicht glauben, was er da hörte. »Wie kommen Sie auf die Idee, dass der Strafverfolgungsdienst bereit wäre, die Anklagen gegen Sie fallen zu lassen? Falls in diesem Land Präzedenzfälle irgendetwas zu bedeuten haben, dann führt die Flucht aus einem Gefängnis dazu, dass die Haftzeit verdoppelt wird. Sie können froh sein, wenn Sie vor dem Ende dieses Jahrhunderts freikommen.«

»Aber wie ich bereits sagte, habe ich mit dem Strafverfolgungsdienst eine Abmachung getroffen, der Sie sich nicht bewusst zu sein scheinen. Ich würde vorschlagen, Sie unterhalten sich mit Ihrem Vater.«

Nach wie vor schrieb Rebecca mit.

»Warum sollte mein Vater zustimmen, die Vorwürfe fallen zu lassen, wenn es sich um einen glasklaren Fall handelt?«

»Weil ich im Gegenzug nicht zur Sprache bringen werde, dass Sie und DI Hogan in mein Haus in Spanien eingebrochen sind, einen Frans Hals gestohlen und mich dann in meinem eigenen Flugzeug gegen meinen Willen zurück nach England gebracht haben.«

»Haben Sie irgendetwas Schriftliches, mit dem Sie beweisen können, dass eine solche Abmachung getroffen wurde?«, fragte William.

»Aber natürlich«, sagte Faulkner. Er ging durch die Bibliothek zum Tisch der Ausleihe, öffnete eine Schublade, sah einige Papiere durch und fand schließlich, was er gesucht hatte. Er reichte William das Dokument, der sich Zeit nahm, es in Ruhe zu lesen, bevor er es an Rebecca weitergab.

»Wie Sie sehen können, Mr. Faulkner, hat mein Vater diese Vereinbarung nicht unterschrieben.«

Faulkner fiel auf, dass William ihn zum ersten Mal seit seiner Zeit im Gefängnis mit »Mister« ansprach.

»Doch, das hat er. Das ist nur eine Kopie. Booth Watson hat mir das Original gezeigt, und ich versichere Ihnen, dass die Unterschrift auf der letzten Seite stand.«

William schwieg, aber ein Blick auf Faulkner genügte, um zu erkennen, dass er möglicherweise die Wahrheit sagte. »Ich werde einige Erkundigungen einholen und mich in dieser Sache wieder bei Ihnen melden«, sagte er schließlich.

»Und in der Zwischenzeit«, sagte Faulkner, »sitzt ein Irrer in meinem Trakt, der sich fragt, wie es möglich sein kann, dass die Leute bei ›Rule Britannia‹ bis zur zweiten Strophe gelangt sind.«

»Mansour Khalifah wurde heute Morgen in eine Einzelzelle verlegt«, versicherte ihm William. »Und seine kleine Gruppe von Anhängern wurde auf verschiedene Gefängnisse verteilt. Sie sind in keiner unmittelbaren Gefahr.«

»Und das ist der einzige Lohn, den ich dafür bekomme, dass ich«, Faulkner hielt kurz inne, »wie viele Leben gerettet habe?«

Ein gutes Argument, wollte William sagen, aber er begnügte sich mit: »Ich komme morgen wieder, Mr. Faulkner. Bis dahin werde ich mit meinem Vater und Commander Hawksby gesprochen haben.«

»Was ist mit BW ? Vergessen Sie nicht, er hat das Originaldokument, das von Ihrem Vater unterschrieben wurde.«

»Vorausgesetzt, dass Sie die Wahrheit sagen.«

»Habe ich die Wahrheit gesagt, als es darum ging, was Khalifah beim Abschlusskonzert in der Albert Hall veranstalten wollte? Denn wenn es sich nicht so verhält, warum hat man dann Tareq Omar heute Morgen am Gitter meiner Zelle erhängt aufgefunden?«

Es klingelte an der Tür, und Beth fragte sich, wer das um diese Zeit am Morgen sein konnte. Die Kinder waren in der Schule, es war Sarahs freier Tag, und sie erwartete niemanden.

Sie schloss ihren Cheffins-Katalog, ging durch den Flur und öffnete die Haustür. Mit gesenktem Kopf stand Christina auf der Schwelle.

»Was gibt es?«, fragte Beth. Sie wusste nur zu gut, worum es ging, und hatte sich bereits gefragt, wann Christina wohl auftauchen und alles beichten würde. Wortlos führte sie sie in ihr Arbeitszimmer. Sie bot ihr keinen Kaffee an.

Stumm blieb Christina einige Augenblicke lang stehen, sah zu dem Porträt über Beths Schreibtisch auf und brach schließlich in Tränen aus. »Wie bist du da rangekommen?«, brachte sie mühsam zwischen zwei Schluchzern hervor.

»Johnny van Haeften hat es für fünftausend Pfund an einen seiner Stammkunden verkauft, der darum gebeten hat, es an mich zu schicken. Es gibt keinen Preis, wenn man errät, wer dieser Kunde ist.«

»Ich hatte immer die Absicht, den Gewinn mit dir zu teilen«, sagte Christina und setzte die Miene einer treuherzigen Pfadfinderin auf.

»Wenn du eine Sache gewiss nicht vorhattest, dann die«, sagte Beth, die ihre Verärgerung nicht mehr verbergen konnte.

»Ich habe wegen meiner Dummheit jeden Penny verloren«, gestand Christina und sank auf den Stuhl neben sich. »Aber andererseits hätte mir klar sein müssen, dass Miles sein Wissen über die Kunstwelt nutzen würde, um mir eine Falle zu stellen.«

»Und sein Wissen über deinen unbezähmbaren Hunger nach Geld.«

Christina versuchte nicht, sich zu verteidigen.

»Du hast jedoch nicht jeden Penny verloren«, sagte Beth. »Denn van Haeften hat mich gebeten, dir die fünftausend Pfund zu geben. Wirklich schade, dass du kein Holländisch lesen kannst, was, wie ich vermute, ein Risiko darstellte, das Miles einzugehen bereit war.«

Christina wirkte, als versuche sie, allen Mut zusammenzunehmen, um etwas zu sagen. Schließlich platzte sie heraus: »Es tut mir so leid, Beth. Aber die fünftausend werden nicht ausreichen. Ich brauche die einhunderttausend wieder, die ich in dein Unternehmen investiert habe«, fügte sie hinzu. Es gelang ihr nicht, Beth in die Augen zu sehen.

Beth setzte sich an ihren Schreibtisch und schrieb einen Scheck über 127 000 Pfund aus.

»Warum so viel?«, fragte Christina, nachdem Beth ihn ihr gegeben hatte.

»Da ist der Gewinn dabei, den wir kürzlich durch den Verkauf eines Warhol in New York gemacht haben, als wir noch Geschäftspartnerinnen waren.«

»Aber würde das nicht bedeuten, dass du dein Unternehmen aufgeben musst?«

»Ich werde zurechtkommen«, sagte Beth. »Obwohl es ein oder zwei Gelegenheiten gibt, die ich bedauerlicherweise nicht mehr werde wahrnehmen können. Übrigens, Christina«, fuhr sie fort und nahm das Porträt Heinrichs des Achten von der Wand, »du solltest nicht ohne deinen neuesten Freund gehen.«

»Ich will diesen verdammten Mann nie wiedersehen«, erwiderte Christina, wobei sie die Worte geradezu ausspuckte. »Ich verdiene dasselbe Schicksal wie Anne Boleyn.«

»Ich glaube, das ist es, was Miles sich vorgestellt hat. Aber wenn du den König nicht möchtest, lasse ich ihn an der Wand hängen. Damit er mich daran erinnert, in Zukunft nur noch den Rat von Freunden anzunehmen, denen ich vertrauen kann.«

»Wirst du mir jemals verzeihen?«

Beth antwortete nicht und hängte das Bild wieder auf.

»Wer könnte es dir auch verdenken?«, sagte Christina schließlich.

»Ich werde nie vergessen, wie großzügig du warst, als ich deine Unterstützung am dringendsten gebraucht habe«, sagte Beth. »Aber das bedeutet nicht, dass ich dir jemals wieder vertrauen könnte.«

Beth wandte sich wieder Christina zu und sah überrascht, wie diese den Scheck zerriss und ihn ihr zurückgab.

»Wenn ich nicht deine Freundin sein kann, kann ich wenigstens deine Geschäftspartnerin sein.«

»Es würde vor Gericht nicht standhalten«, sagte Sir Julian, nachdem er die Vereinbarung mit dem Schuldeingeständnis zum zweiten Mal gelesen hatte.

»Warum nicht?«, fragte William.

»Das Dokument wurde nie unterzeichnet, weshalb Booth Watson einfach nur behaupten muss, es handele sich dabei um den ursprünglichen Vorschlag, auf dem sein Mandant bestanden habe, obwohl er ihm bereits zu jenem Zeitpunkt klargemacht hatte, dass kaum eine Aussicht auf Erfolg bestand – eine Einschätzung, die jeder Richter teilen dürfte. BW würde darüber hinaus behaupten, Faulkner habe später seinen Rat akzeptiert und die jüngste Vereinbarung in Gegenwart eines langjährigen Gefängnisbeamten unterschrieben – ebenjene Vereinbarung, die ihm eine Verminderung seiner Haftzeit um zwei Jahre zusichert, was auch dem üblichen Vorgehen des Strafverfolgungsdienstes in solchen Fällen entspricht. Ich kann geradezu hören, wie Booth Watson sagt, dass er seinen Mandanten schließlich davon überzeugt hat, dass eine Strafminderung um zwei Jahre das Beste sei, womit er unter den gegebenen Umständen rechnen könne.«

»In welchem Falle Faulkner nicht zögern würde, dem Gericht mitzuteilen, dass Booth Watson dies alles hinter seinem Rücken geplant hat.«

»Wem würde das Gericht wohl eher glauben?«, fragte Sir Julian. »Einem Mann, der gegenwärtig wegen Betrugs und Ausbruchs aus dem Gefängnis in Haft ist, oder einem der führenden Anwälte?«

»Aber wenn herauskäme, dass Booth Watson seinen Mandanten betrogen hat, hätte er viel zu verlieren.«

»Aber auch sehr viel zu gewinnen, wenn er mit der Sache durchkommt«, sagte Sir Julian. »Denk immer daran, mein Junge. Es dauert nicht mehr lange, bis BW in Pension geht, und er kennt mancherlei peinliche Geheimnisse – unter anderem jenes, wo eine der beeindruckendsten privaten Kunstsammlungen versteckt ist. Sollte Faulkner also die nächsten vierzehn Jahre im Gefängnis verbringen, könnte er während dieser Zeit ein Luxusleben führen. Es wäre gut möglich, dass BW nicht einmal mehr unter uns weilt, um für seine Taten Verantwortung zu übernehmen, wenn Faulkner schließlich freikommt. Man kann einen Toten nicht umbringen.«

William dachte länger über die Worte seines Vaters nach und sagte dann: »Könntest du einen Antrag stellen, den Richter in seinen Räumen aufzusuchen, um deine Bedenken zu erläutern?«

»Das könnte ich. Doch ich versichere dir, dass er seine Meinung über die Länge der Haft nicht ändern würde, sofern ich ihm keine neuen Beweise vorlegen kann.«

»Es gibt noch etwas, das du wissen solltest«, sagte William.

»Ist das Ihre Unterschrift?«, fragte William, indem er die letzte Seite der Vereinbarung aufschlug.

»Ja, das ist sie«, sagte Faulkner. »Und obwohl Sie keinen Grund haben, mir zu glauben, Superintendent, kann ich Ihnen versichern, dass ich dieses Dokument heute zum ersten Mal sehe.«

»Ich glaube Ihnen«, sagte William. Faulkner war verblüfft. »Und was vielleicht noch wichtiger ist: Mein Vater glaubt Ihnen ebenfalls.«

»Und was wird er in dieser Sache unternehmen?«

»Er hat bereits einen Termin mit dem Richter vereinbart, bei dem er wahrscheinlich der erste Anklagevertreter sein wird, der für den Beschuldigten um Milde bittet.«

»Vielleicht gelingt es ihm, dass noch ein wenig von meiner Strafe abgezogen wird, sodass ich am Ende nur sechs Jahre absitzen muss. Wie beeindruckend.«

»Mein Vater hat die Absicht, dem Richter gegenüber klarzustellen«, fuhr William fort, indem er den Einwurf ignorierte, »dass die Information, die Sie uns über das geplante Selbstmordattentat zur Verfügung gestellt haben, zweifellos zahlreiche Menschenleben gerettet hat.«

»Wenn das alles ist, was Sie anzubieten haben«, sagte Faulkner, »könnte ich genauso gut auf nicht schuldig plädieren und Sie mit in den Abgrund reißen.«

»Mein Vater wird dem Richter ebenso unmissverständlich die Konsequenzen darlegen, die es hat, wenn Sie sich für nicht schuldig erklären – und zwar nicht nur für DI Hogan und mich, sondern ebenso für das Ansehen des gesamten Metropolitan Police Service.«

»Das dürfte geeignet sein, mir noch zwei Jahre zu erlassen. Damit wäre ich wieder bei vier Jahren, während man Sie zweifellos zum Chief Superintendent befördern wird aufgrund des Beitrags, den Sie bei der Rettung jener zahlreichen Menschenleben geleistet haben.«

»Ich glaube, Sie könnten angenehm überrascht sein«, sagte William. »Aber Sie werden mir vertrauen und auf schuldig plädieren müssen, wenn wir BW eine Falle stellen wollen.«

»Wie könnte ich ein so verlockendes Angebot wohl ablehnen?«, sagte Faulkner. »Besonders, da ich noch immer hier feststecke mit nicht mehr als einer Fünfzig-zu-fünfzig-Chance, es auch nur lebend bis zur Verhandlung zu schaffen. Nicht einmal Sie können dafür sorgen, dass Mansour Khalifah ewig in Einzelhaft bleibt.«

»Als Beweis unseres guten Willens«, sagte William, »wird die Polizei keine Einwände dagegen erheben, sollten Sie einen Antrag auf Verlegung in ein Gefängnis mit geringerer Sicherheitsstufe stellen. Aber …«

»Bei Ihnen, Superintendent, gibt es immer ein Aber. Ich kann es gar nicht erwarten, wie es diesmal lautet.«

»Sollten Sie noch einmal einen Fluchtversuch unternehmen, werde ich sämtliche Ressourcen der Met einsetzen, um Sie zu finden. Und wenn DI Hogan und ich Sie schließlich aufgespürt haben – und glauben Sie mir, das werden wir –, werden wir uns nicht mit den Feinheiten eines möglichen Auslieferungsabkommens herumschlagen. Dann wird mein Vater auch keine zusätzlichen acht Jahre für Sie beantragen, sondern lebenslange Haft. Und ich habe das Gefühl, dass der Richter seinem Antrag stattgeben wird, gleichgültig welche mildernden Umstände Booth Watson anzuführen gedenkt.«

Faulkner schwieg lange. Schließlich sagte er: »Ich akzeptiere Ihr Angebot, Superintendent, wenn Sie mir versichern, dass Sie BW ebenfalls ins Visier nehmen. Immerhin wissen Sie jetzt, wie er sich verhalten hat.«

»Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er seine Anwaltslizenz verliert«, sagte William. Man konnte ihm seine große innere Beteiligung anhören. »Denn machen wir uns nichts vor, dieser Mann ist sein eigener größter Feind.«

»Das ist er nicht. Nicht, solange ich lebe«, sagte Faulkner.

Als Miles die Spitze der Schlange an der Essensausgabe erreichte, nahm er sich Zeit, um ein Glas Milch, zwei Spiegeleier, eine Portion gebackene Bohnen und eine Scheibe unverbrannten Toast auszuwählen. Langsam trug er das schwer beladene Tablett zu seinem Tisch. Doch gerade, als er sich setzen wollte, stolperte er und ließ das Tablett fallen. Der Teller zersprang in mehrere Teile, und sein Frühstück glitt über den Steinboden.

Ein Dutzend Häftlinge eilte ihm zu Hilfe.

»Nein, vielen Dank«, sagte Miles, als einer von ihnen anbot, ihm eine neue Portion zu holen. »Ich fühle mich nicht besonders wohl. Ich glaube, ich sollte die Krankenstation aufsuchen und mir etwas Paracetamol geben lassen.«

Er verließ die Kantine – zufrieden darüber, dass mehr als einhundert Häftlinge und mehrere Beamte Zeugen des Vorfalls geworden waren – und ging in Richtung Krankenstation, die in wenigen Minuten geöffnet würde. Auf dem Weg dorthin kam er an weiteren Insassen vorbei, die zur Kantine wollten. Die meisten traten einfach nur beiseite, um ihm Platz zu machen, aber einige schauten ihm aufmerksam hinterher.

Im Wartezimmer hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet. Die Häftlinge verstummten, als Miles ganz nach vorne ging und die Krankenschwester herzlich begrüßte.

»Guten Morgen, Miles«, antwortete sie. Sie war einer der wenigen Menschen im Gefängnis, die ihn mit seinem Vornamen ansprachen. »Wo liegt das Problem?«

»Ein Schwindelanfall, Schwester. Und leichte Kopfschmerzen. Ich hätte gerne einige Paracetamol, wenn es nicht zu viele Umstände macht.«

»Gewiss. Darüber hinaus würde ich vorschlagen, dass Sie sich ein paar Stunden hinlegen, bis Sie sich besser fühlen. Ich gebe Ihnen eine Notiz mit, dass Sie heute von Ihrer Arbeit befreit sind.«

»Vielen Dank, Schwester. Ich denke, ich werde Ihren Rat beherzigen.«

Sie gab ihm zwei Paracetamol, ein Glas Wasser und einen Zettel. Nachdem er die Tabletten geschluckt hatte, steckte er den Zettel ein und bedachte sie mit einem weiteren warmen Lächeln. Dann verließ er an der langen Schlange der Wartenden vorbei die Krankenstation, um sich dem zweiten Teil seines Plans zu widmen. Wenigstens weitere zwanzig Häftlinge hatten die Unterhaltung der beiden gehört, in welcher der kluge Rat der Krankenschwester ganz besonders wichtig war.

Vor der Krankenstation warf er einen Blick auf seine Uhr. Es würde noch eine halbe Stunde dauern, bevor er den nächsten Schritt machen konnte. Anstatt in die Bibliothek ging er zurück nach Block C – sein Stellvertreter wusste bereits, dass er an diesem Morgen nicht zur Arbeit erscheinen würde. Sollte sich jemand nach ihm erkundigen, würde der Stellvertreter sagen, dass Miles sich auf den Rat der Krankenschwester hin in seiner Zelle ausruhte.

Nachdem er seinen Zellentrakt erreicht hatte, erklärte er dem diensthabenden Wachbeamten, warum er nicht zur Arbeit gehen würde, und zeigte ihm die Notiz, die ihm die Krankenschwester gegeben hatte.

»Ich werde dafür sorgen, dass niemand Sie stört, Mr. Faulkner«, sagte der junge Beamte. »Ich hoffe, es geht Ihnen morgen besser.« Miles bemerkte erfreut, dass der Mann die Uhrzeit in sein Notizbuch eintrug.

Langsam stieg er hinauf in den zweiten Stock und ging dann in seine Zelle am Ende des Korridors, die die »Penthouse-Suite« genannt wurde. Er schloss die Zellentür und zog ohne Eile seine Sportsachen an. Dann streifte er seine Gefängnis-Jeans und einen dicken, grauen Pullover über. Er hielt inne, sah aus dem Fenster und dachte über die Ereignisse des zurückliegenden Monats nach. Warwick hatte Wort gehalten: Nur wenige Tage nach ihrem Gespräch war er in das Ford-Gefängnis überstellt worden, das eine deutlich geringere Sicherheitsstufe besaß. Dort sorgte er dafür, dass die beiden Wachbeamten und seine Mithäftlinge schon nach kurzer Zeit wussten, dass er der Mann war, der Angebot und Nachfrage organisierte, wenn jemand eine gewisse Summe für den einen oder anderen kleinen Luxus benötigte, der sich normalerweise nur schwierig beschaffen ließ.

Miles hatte die einzige Zelle in diesem Trakt, von der aus man die South Downs sehen konnte. Er hatte sie bekommen, nachdem der Häftling, der zuvor dort untergebracht war, fünfzig Pfund auf seinem Kantinen-Konto vorgefunden hatte. Weitere fünfzig Pfund sorgten dafür, dass der verantwortliche Bibliothekar bereitwillig zu seinem Stellvertreter wurde, der die meisten Routinearbeiten erledigte, während Miles die Morgenzeitungen las und gelegentlich jemanden anrief oder ein Telefongespräch entgegennahm – was ein weiteres Privileg darstellte, für das die kooperierenden Beamten entsprechend entlohnt wurden.

Bei einem Anruf von Lamont zu Anfang der Woche fand er heraus, dass Booth Watson im vergangenen Monat zwei Mal seine Bank aufgesucht hatte. Und was noch besorgniserregender war: Er hatte seine über alles geschätzte Kunstsammlung vom CFAS in Nine Elms in ein Lagerhaus in einem Gewerbegebiet in der Nähe des Flughafens Gatwick überführen lassen. Seit Miles mit Mai Ling gesprochen hatte, wusste er, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis …

Als Lamont das nächste Mal anrief, hatte Miles einen Plan ausgearbeitet und ihm in allen Einzelheiten die Rolle erklärt, die er dabei zu spielen hatte. Es würde noch ein paar Tage dauern, bis er sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte. Nach Warwicks Warnung war er sich unmissverständlich bewusst, welches Risiko er eingehen würde.

Miles starrte aufmerksam aus dem Fenster, beobachtete und wartete. Er wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bevor der örtliche Hare and Hounds Club zu seinem morgendlichen Querfeldeinlauf erscheinen würde. Die sogenannten »Hasen« liefen voraus, wobei ihre Verfolger, die »Jagdhunde«, sie einzuholen versuchten und einige schwächere Läufer die Nachhut bildeten.

Als der erste Läufer am Horizont erschien, schlich sich Miles aus seiner Zelle, sah sich auf dem Korridor um und verriegelte dann die Tür. Ein Mitglied der Putztruppe stand am oberen Ende der Treppe Wache und hob den Daumen. Miles eilte die Treppe hinab ins Erdgeschoss, drückte die Notausgangstür auf und joggte zu einer Baumgruppe, die sich unmittelbar jenseits des Gefängnisgrundstücks befand. Er zog Pullover und Jeans aus, versteckte sie unter einem Brombeerstrauch, den er schon Wochen zuvor ausgesucht hatte, und wartete darauf, dass die Nachzügler erschienen. Er wusste, dass er den Augenblick sorgfältig abpassen musste. Denn auf den siebzig Metern zwischen der Grenze des Gefängnisgrundstücks und dem Weg, den die Läufer nahmen, war die Wahrscheinlichkeit am größten, dass die Wachen ihn bemerken würden.

Als die nächste Gruppe der Läufer zu sehen war, joggte er durch das gefährliche Niemandsland und reihte sich hinter ihnen ein, unternahm aber keinen Versuch, sie einzuholen. Er hoffte, er wäre nicht mehr als ein weiterer Punkt in der Landschaft.

Die Gruppe wandte sich nach links, als sie die Hauptstraße erreichte, während Miles nach rechts abbog. Nach ein paar Hundert Metern sah er einen blauen Volvo, der mit laufendem Motor auf einem erweiterten Seitenstreifen parkte.

Er öffnete eine der hinteren Türen, glitt hinein und legte sich flach auf die Rückbank, während das Auto davonschoss. Er bewegte sich erst wieder, als das Gefängnis außer Sichtweite war.

»Guten Morgen, Sir«, sagte Lamont, ohne sich umzudrehen.

»Morgen, Bruce«, erwiderte Miles, setzte sich auf und zog ein frisch gebügeltes weißes Hemd über sein Sporttrikot. »Ist alles vorbereitet?«

»Alle warten auf Sie. Die Zeit ist unser einziges Problem«, fügte Lamont hinzu und trat das Gaspedal durch.

»Überschreiten Sie niemals das Tempolimit«, warnte Miles ihn, als er seine Shorts abstreifte und eine graue Flanellhose anzog. »Vergessen Sie nicht: Wenn wir von der Polizei angehalten werden, bin ich nicht der Einzige, der wieder ins Gefängnis geht.«