19
Das war ein riesiger Schlag gegen das organisierte Verbrechen. Wir haben in sieben Bordellen in Norwegen, aber auch in Schweden blutjunge Mädchen ausfindig gemacht, die illegal über die russische Grenze hergebracht und auf brutalste Weise zur Prostitution gezwungen wurden.«
Carina hielt kurz inne, als sie sich an einige der Szenen erinnerte, die sie bei der Durchsuchung von zwei Bordellen in Bodø und Tromsø erlebt hatte. »Etliche der Mädchen waren sogar unter sechzehn Jahre alt.« Sie rang sichtlich um Fassung. »Diese Kinder … sie werden die seelischen Schäden ein Leben lang mit sich herumtragen.«
»Und was kannst du uns über den Drogenhandel sagen?« Ein älterer Beamter, seit drei Jahren im Innendienst, da er beinamputiert war, sah Carina gespannt an. Er hatte mehr als zwanzig Jahre als Drogenfahnder gearbeitet und in dieser Zeit die schrecklichsten Dinge gesehen. Kaum jemand in seiner Dienststelle wusste, dass sogar seine Tochter vor mehr als zehn Jahren an einer Überdosis Heroin gestorben war. Er gab sich stets kühl und sachlich, doch er war in höchstem Maß involviert.
»Auch in dieses miese Geschäft war Jacob Stevensen verwickelt, und zwar über unsere Grenzen hinweg. Leider sind unsere Ermittlungen in diesem Bereich noch nicht abgeschlossen, wir arbeiten eng mit den Kollegen in Schweden, Dänemark und Russland zusammen.«
»Stimmt es, dass keiner von den Leuten, die für ihn die Drecksarbeit gemacht haben, sein Gesicht kannte?«
Carina nickte. »Ja, er hat sich perfekt getarnt, zum Teil sogar sein Aussehen verändert. Wir haben in seinem Haus Perücken, falsche Bärte und andere Utensilien gefunden, mit denen er sich ganz offensichtlich immer wieder verkleidet hat.«
»Raffiniert.«
»Ja. Aber es wird ihm nichts nützen. Die Beweise gegen ihn sind erdrückend.«
»Man hätte den Scheißkerl verrecken lassen sollen«, murmelte einer der Männer. »Kriegt einen Infarkt, das Sensibelchen, und wird dann in der Klinik aufgepäppelt.«
»Das will ich nicht gehört haben, Arne.« Carina sah den Mann mit dem Kinnbart und den halblangen Haaren ernst an. »Was immer Stevensen getan hat – wir werden uns nicht mit ihm auf eine Stufe stellen, sondern ihn nach dem Gesetz verurteilen.«
»Ja, ja, schon gut.«
Carina sah auf die Uhr. »So, das war’s für heute. Ich hoffe, dass wir in den nächsten Tagen von den schwedischen und russischen Kollegen mehr erfahren. Jedenfalls laufen die Ermittlungen allgemein auf Hochtouren. Mich müsst ihr entschuldigen, ich muss los. Ich will noch in die Klinik fahren.«
Wenig später betrat sie die chirurgische Station der Klinik – und zuckte zusammen, als sie Kristian kreidebleich auf einem Stuhl im kleinen Wartebereich sitzen sah. Auf dem Tisch neben ihm lagen Zeitschriften, eine Vase mit künstlichen Rosen war umgefallen. All das übersah Carina mit einem Blick.
»Was ist passiert?« Sie setzte sich dicht neben Kristian.
»Andrea … eine Embolie. Sie ist wieder im OP.« Seine Stimme war kaum zu vernehmen.
»Nein. Das nicht auch noch.« Carina gelang es nicht, die Tränen zurückzuhalten. Fest drückte sie Kristians Hände, die er zu Fäusten geballt im Schoß hielt.
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, bei jedem Geräusch zuckte Kristian zusammen. Jede Schwester, die vorüberging, sah er fragend an, bekam jedoch stets ein Schulterzucken zur Antwort.
Und dann, nach knapp zehn Minuten, die den beiden Wartenden wie eine Ewigkeit erschienen, kam Jan-Frederik zu ihnen.
»Alles okay«, erklärte er. »Sie ist wieder stabil. Wir konnten den Thrombus entfernen.«
»Kann ich zu ihr?« Kristian war aufgesprungen und machte drei Schritte auf die hohen OP-Türen zu.
Der Arzt hielt ihn am Arm zurück. »In einer halben Stunde. Noch ist sie im Aufwachraum. Ich lass dir Bescheid sagen, sobald sie wieder in ihrem Zimmer ist.«
Das Warten begann erneut, doch diesmal verging die Zeit nicht so quälend langsam. Carina berichtete von den Ermittlungen gegen Jacob, und Kristian erzählte von dem neuen Verlag, den er gefunden hatte.
»Die Zusammenarbeit mit Agneta ging einfach nicht mehr«, sagte er. »Sie wollte nicht akzeptieren, dass unsere Affäre zu Ende ist – und dass ich Andrea liebe.«
»Sie war wohl einmal eine vom Leben zu sehr verwöhnte Frau«, meinte Carina.
»Ja, das stimmt. Alle haben sie verehrt und bewundert. Sie ist ja auch sehr klug, schön und geistreich … Ich hoffe nur, irgendwann kommt sie zur Besinnung.«
Er schüttelte ratlos den Kopf. »Seit wir nicht mehr zusammen sind, hat sie sich in diverse Affären gestürzt. Und ihr letzter Freund scheint sie mit den Drogen versorgt zu haben, die ihr immer mehr zum Verhängnis geworden sind.«
»Dieses Teufelszeug«, murmelte Carina. Sie dachte daran, dass Jacob Stevensen den Handel mit den verschiedensten Drogen in Skandinavien dominiert hatte. Noch konnten sie ihm nicht alles nachweisen, noch war das Netz, das er so geschickt gesponnen hatte, nicht ganz aufgerissen, doch das war nur eine Frage der Zeit.
Eine Schwester kam auf sie zu. »Frau Doktor Sandberg liegt jetzt wieder in ihrem Zimmer. Ihr könnt zu ihr.«
Kristian sprang auf, langsamer folgte ihm Carina.
»Grüß Andrea von mir, wenn sie wach wird«, sagte sie und drückte Kristians Arm. »Ich komme sie später besuchen.«
»Aber du wolltest doch …«
Carina lächelte. »Ich denke, die nächsten Stunden gehören allein euch.« Sie umarmte ihn. »Gib Andrea einen Kuss von mir.«
»Mach ich.«
Und wieder saß er an ihrem Bett und wartete. So wie vor vier Tagen, als man ihr die Kugel aus der Brust herausoperiert hatte. Er hörte noch die Worte des jungen Chirurgen: »Es ist wie ein Wunder, dass keine inneren Organe verletzt worden sind. Die Kugel ist an einer Rippe abgeprallt und dann knapp neben dem Herzen steckengeblieben. Nur drei Millimeter weiter, und die Aorta wäre zerfetzt worden.«
Auch wenn Kristian kein Mediziner war – er konnte sich in etwa vorstellen, was geschehen wäre, wenn das Geschoss die Hauptschlagader verletzt hätte: Andrea wäre wohl verblutet, noch ehe man sie in die Klinik hätte bringen können.
Wie blass sie war! Von der zarten Sommerbräune war nichts mehr zu sehen. Schatten lagen unter den Augen, und sie atmete flach.
Sacht griff Kristian nach ihrer rechten Hand und zog sie an die Lippen. Im linken Handrücken steckte noch eine Infusionsnadel, und stetig tropfte die glasklare Flüssigkeit von der Flasche, die an einem Ständer hing, in Andreas Vene.
Sekunden wurden zu Minuten. Minuten dehnten sich zu einer kleinen Ewigkeit.
Kristian wartete. Immer wieder flüsterte er zärtlich Andreas Namen, küsste jeden einzelnen Finger oder die blassen Lippen. Irgendwann fiel sein Blick auf das Nachttischchen. Neben dem kleinen Strauß roter Rosen, den er mitgebracht hatte, lag die rote Perlenkette mit den Fischzähnen und Muscheln. Sie war zerrissen, und einer der Zähne war in kleine Splitter zerborsten. Eine Pflegerin, deren Großeltern Samen waren und die ahnte, dass die Kette nicht nur ein simpler Halsschmuck war, hatte die Perlen zusammengesucht und sie gestern provisorisch wieder aufgefädelt.
Kristian schüttelte den Kopf. Es konnte nicht sein, dass diese Kette Andrea vor Schlimmerem bewahrt hatte. Es war Zufall, nichts als Zufall. Und doch … immer wieder musste er erkennen, dass es hier oben im hohen Norden Dinge gab, die er mit nüchternem Verstand nicht begreifen konnte. Inzwischen hatte er sich intensiver mit der Kultur der Samen beschäftigt und musste einsehen, dass die Schamanen dieses Volkes übersinnliche Fähigkeiten besaßen.
»Du bist da …« Andrea schlug die Augen auf, und ein leises Lächeln glitt über ihren Mund.
»Liebling!« Unendlich sanft beugte er sich vor und küsste sie. »Wie geht es dir? Hast du Schmerzen?«
»Nein.« Sie runzelte die Stirn. »Was ist passiert?«
»Du hattest eine Embolie, musstest noch einmal operiert werden. Aber der Arzt sagt, jetzt ist alles in Ordnung.«
»Gut.« Sie schloss wieder die Augen und schlief übergangslos ein.
Kristian blieb neben dem Bett sitzen, Andreas Hand in seiner. Behutsam, so als hätte er Angst, ihren Schlaf zu stören, streichelte er mit dem Zeigefinger über ihren Handrücken. Er brauchte einfach das Gefühl, ihr nahe zu sein, und er hoffte, dass sie die kleine Zärtlichkeit auch im Schlaf spürte. »Ich liebe dich«, flüsterte er, als er sah, dass ihre Augenlider flatterten und sie erneut wach wurde.
»Ich dich auch.« Langsam, noch ein wenig mühsam, hob sie den Blick und sah ihn an. »Alles wird wieder gut, ja?«
Er nickte. »Aber natürlich. Alles wird gut. Du wirst bald wieder gesund sein, dann wird noch vor dem Herbst geheiratet.«
»Aber …«
»Keine Widerrede. Ich will nicht einen Tag mehr ohne dich sein.«
»Und keine Nacht.« Ihre Augen leuchteten.
»Hey du, du bist ja wirklich auf dem Weg der Besserung, wenn du schon wieder an Sex denken kannst.«
»Erstens weißt du gar nicht, ob ich an Sex gedacht habe, und falls doch … was heißt denn ›wieder‹?« Ein verschmitztes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Er kam nicht dazu, Antwort zu geben, denn eine Schwester kam herein, überprüfte die Infusion und maß den Puls. »Alles wieder in Ordnung«, verkündete sie. »Ich sag gleich dem Doc Bescheid.«
Andrea nickte nur, dann sah sie Kristian an. »Ich hab so große Sehnsucht nach Lars. Holst du ihn her?«
»Gleich morgen. Jetzt musst du dich ausruhen.«
»Hmm …« Ihr Blick irrte ab und blieb an den roten Perlen hängen. »Berit hatte recht«, murmelte sie, dann schlief sie übergangslos ein.
Wie weiße Federn sahen die unzähligen kleinen Segelboote aus, die über das Wasser glitten und auf den dunklen Wellen einen übermütigen Tanz aufführten. Das Wetter war perfekt, und jeder, der Zeit hatte, wollte den Spätsommertag auf dem Wasser genießen.
»Eine gute Idee von dir, heute noch mal raus nach Sandhamn zu fahren.« Lässig lehnte sich Agneta Langlo im Boot zurück. »Das ist einer meiner Lieblingsorte hier im Schärengarten.«
Roger, der an der Ruderpinne stand, grinste. »Willst du mir weismachen, dass du nur mitgekommen bist, weil du dem Charme dieses Städtchens verfallen bist?«
»Oder deinem.« Agneta stand auf und trat dicht hinter ihn. Sie legte ihm die Arme um die Hüften und küsste ihn auf den Nacken. »Ich bin froh, dass du dich wieder gemeldet hast.«
Roger grinste. Er wusste genau, dass Agneta nicht nur den Sex mit ihm vermisst hatte, sondern es fehlten ihr auch die Drogen, die sie durch ihn regelmäßig bekommen konnte. Wenn du wüsstest, warum ich mich wieder bei dir gemeldet hab, mein Goldfisch, dachte er und drehte den Kopf, um Agneta flüchtig zu küssen.
Roger war seit Wochen pleite. Seine Geldquellen waren nach und nach versiegt, da er seine Abnehmer nicht mehr ausreichend beliefern konnte. Der norwegische Dealer, von dem er regelmäßig größere Lieferungen bekommen hatte, meldete sich nicht mehr. Die Handyverbindung war tot, und auch unter der Telefonnummer, unter der Roger nur im Notfall hatte anrufen sollen, meldete sich niemand mehr.
In der verfahrenen Situation gab es nur einen Ausweg: Agneta.
Sie war reich, sie war scharf auf den Sex mit ihm – und bot ihm den idealen Unterschlupf.
Um sie bei Laune zu halten, hatte er noch ein paar Tütchen in Reserve. Er selbst war vorsichtig mit dem Konsum von Yava, wie die Methamphetaminpillen hießen, und nahm stets nur eine davon. Doch bevor sie am Morgen losgesegelt waren, hatte er Agneta ein Tütchen Crystal in den Champagner geschüttet, und die Wirkung setzte rasch ein. Agneta sprühte vor Elan, und ihre Lust auf Sex ließ sich kaum noch zügeln.
»Gibt’s hier denn gar keine kleine verschwiegene Bucht?« Agnetas Hände mit den tiefrot lackierten Nägeln glitten tiefer, und sie begann, ihn an seiner empfindlichsten Stelle zu streicheln. »Ich will nicht länger warten.«
Roger atmete heftiger. »Lass das jetzt, Agneta. Ich muss mich aufs Segeln konzentrieren, sonst kentern wir noch.«
»Mistkerl!« Sie lachte und kniete sich vor ihn hin. »Glaub mir, du findest bald eine Bucht, in der wir ungestört sind.«
Roger biss sich auf die Lippen, dann griff er in ihr langes schwarzes Haar und bog ihren Kopf zurück. »Hexe. Warte noch ein paar Minuten. Dort hinten kann ich anlegen.«
»Küss mich.«
Rasch kam er ihrer Aufforderung nach. Agneta war immer noch schön, auch wenn sich die Fältchen um ihre Augen in den letzten Monaten vermehrt hatten. Noch hatte die Droge keine Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, ihre Haut war glatt und weich. Auch die Figur war immer noch tadellos, und es fiel ihm nicht schwer, mit ihr zu schlafen.
Bevor er mit ihr unter Deck ging, nahm auch er eine kleine Prise, was ihn gewiss stimulieren und enthemmen würde. Er wusste, was Agneta von ihm erwartete.
Sie trug nur einen knappen schwarzen Bikini, und als er ihr das Höschen abstreifte, entdeckte er die zusammengerollten Flugtickets zwischen ihren Schamlippen.
»Was soll das?«
»Hol sie dir.« Sie lachte kehlig. »Aber nicht mit den Händen!«
Grinsend kam er ihrer Aufforderung nach, küsste Agneta und liebkoste sie. Sie stöhnte leise und murmelte: »Komm endlich!«
»Erst will ich sehen, wohin du fliegen willst.« Er zog sich von ihr zurück.
»Wir fliegen.« Agneta atmete schwer. »In die Karibik. Schon nächste Woche, wenn du willst. Aber jetzt komm endlich, ich halt’s nicht mehr aus!«
Roger gab nach. Er wusste, dass sie nichts sagen würde, ehe er ihr nicht die Befriedigung verschafft hatte, nach der sie gierte.
Als sie endlich ermattet nebeneinanderlagen, fragte er: »Und? Was ist mit der Karibik?«
»Ich brauch erst mal was zu trinken.« Sie schob sich das wirre schwarze Haar aus der Stirn.
Seufzend stand er auf und holte eine neue Flasche Champagner. Gierig trank Agneta das erste Glas leer.
»Also, was ist mit der Karibik?«
»Wir machen da Urlaub. Einen langen, herrlichen Urlaub.«
»Aber dein Verlag … was ist mit dem?«
Agneta kicherte und goss sich selbst das nächste Glas voll. »Es gibt keinen Verlag mehr. Ich hab verkauft. Alles verkauft.« Sie streckte die Hand nach Roger aus. »Ab jetzt wird nicht mehr gearbeitet. Die können mich alle mal, diese miesen Autoren.« Innerhalb von Sekunden kippte ihre Stimmung. Mit weinerlicher Stimme zählte sie drei bekannte Schriftsteller auf, die in ihrem Verlag veröffentlicht hatten. »Weg sind sie. Einfach weg.«
»Wieso weg?«
»Weg eben. Fremdgegangen. Zu anderen Verlagen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Egal. Mir doch ganz egal! Sollen sie sehen, wie sie ohne mich zurechtkommen! Kristian, dieser Scheißkerl, kann von mir aus auf den Lofoten versauern und mit den Trollen alt werden. Oder Märchen für den Sohn dieser langweiligen Ärztin schreiben, mit der er es jetzt treibt. Ist mir vollkommen egal, ich denke gar nicht mehr an ihn. Ich denke nur noch an dich, Roger-Darling. Wir zwei fliegen in die Sonne!«
Hinter Rogers Stirn überschlugen sich die Gedanken, während er Agneta, die sich wieder an ihn schmiegte, mechanisch streichelte. Sie war verrückt, diese Frau in seinen Armen! Verrückt – aber reich! Er wagte gar nicht, sich auszurechnen, was sie wohl für den Verkauf ihres Verlags bekommen haben mochte. Aber es war sicher eine so große Summe, dass sie jahrelang davon leben konnte.
Er beugte sich vor und küsste sie leidenschaftlich. Nichts tat er lieber, als mit ihr diese nächsten Jahre zu verbringen. Solange Agneta Geld besaß, war er an ihrer Seite! Spielerisch ließ er seine Finger über ihre Schulter, ihren Busen gleiten.
Die Zukunft, vor etlichen Tagen noch trist und grau, lag in strahlendem Sonnenlicht vor ihm!