5

Von Nordwesten überzog eine Regenfront die Lofoten. Tief hingen die Wolken über dem Bergmassiv, verbargen die zackigen Spitzen und hüllten die Landschaft in ein graues, undurchdringliches Gespinst aus Kälte und Nässe.

Zwei Hausbesuche lagen hinter Andrea, und sie war froh, als ein Anruf vom alten Kjell kam, der ihr erklärte, dass es seiner Frau schon wieder besserginge und die Ärztin nicht noch zu ihnen auf den weit im Hinterland liegenden Berghof kommen müsse.

Streng genommen gehörte die Betreuung der beiden Alten nicht mehr zum Einzugsbereich von Andreas Praxis.

Aber Kjell und Johan Ecklund waren einst zusammen zur Schule gegangen, und Kjell würde nie im Leben einen anderen Arzt an sich herumdoktern lassen. Genau so hatte er sich ausgedrückt, als er sich vor ein paar Jahren beim Mähen mit der frisch geschärften Sense verletzt hatte. ­Johan hatte zu diesem Zeitpunkt aber mit einem Herz­infarkt in der Klinik gelegen, und so war Andrea hinausgefahren auf den einsamen Bauernhof. Sie hatte Kjells Handverletzung genäht, ihn verbunden – und sich in den letzten Jahren immer mehr das Vertrauen des Alten und seiner Frau Amalie erworben.

Da sie schon in Richtung Svolvær unterwegs war, beschloss sie, in die Stadt hineinzufahren und im Krankenhaus noch einmal nach der schwedischen Unfallpatientin zu sehen. Es war im Grunde genommen nicht notwendig, aber es drängte sie danach, die attraktive Schwarzhaarige noch einmal zu sprechen. Dass sie nur herausfinden wollte, was Agneta Langlo mit Kristian verband, gestand sie sich nicht ein.

Bei dieser Gelegenheit konnte sie zudem noch kurz mit dem Kollegen Jan-Frederik Draksen sprechen. Jan-Fre­derik war Chirurg und sollte in wenigen Tagen eine fünfzigjährige Patientin von Andrea operieren, die an einem Magengeschwür litt, das mit konservativen Mitteln nicht zu heilen war.

Schon in der Halle traf sie auf den Kollegen, der sie lachend musterte: »Du siehst aus wie eine gebadete Katze!« Spontan wollte er sie umarmen, wie er es immer tat, zuckte aber im letzten Moment zurück, denn von Andreas Regenjacke tropfte es schwer auf den hellen Marmorboden der Halle.

»Ich schnurre aber nicht!« Andrea lachte und ließ sich aus der Jacke helfen. Darunter trug sie Jeans, eine blauweiß karierte Bluse und eine hellblaue Strickjacke.

»Wer weiß das besser als ich!« Jan-Frederik, ein liebens­werter Möchtegern-Casanova, grinste jungenhaft. »Für jeden Korb von dir eine Krone … das würde mich reich machen!«

»Lass das nicht deine Freundin hören!«

Er verzog das Gesicht. »Es ist schon wieder aus. Sie wollte so schnell wie möglich heiraten, aber damit lass ich mir noch ein paar Jahre Zeit.« Er nahm ihren Arm. »Trinken wir einen Kaffee in meinem Büro?«

»Gern. Ich kann etwas Warmes gebrauchen. Außerdem wollte ich mit dir über eine Patientin sprechen.«

Etwa eine Viertelstunde blieb sie bei Jan-Frederik, dann ging sie hinüber zur chirurgischen Station, auf der es heute recht still war. Bei dem schlechten Wetter kamen nur wenige Besucher in die Klinik.

Nach kurzem Anklopfen betrat sie das Einzelzimmer am Ende des Flurs. Die Vorhänge waren halb geschlossen, und in dem großzügig geschnittenen Raum herrschte Dämmerlicht.

Agneta Langlo saß, gestützt von zwei Kissen, im Bett und hielt die Hand eines Mannes. Das lange schwarze Haar verdeckte zum größten Teil den Verband an der Schläfe.

»Hei, ich wollte nur noch mal kurz nach dir sehen. Als ich das erste Mal hier war, hast du geschlafen.« Andrea trat zum Bett – und zuckte zurück, als sie Kristian erkannte, der jetzt etwas brüsk seine Hand aus der Agnetas löste.

»Das ist nett, dass Sie nach mir sehen wollen.« Mit einer langsamen Geste schob die Patientin das Haar zurück und streckte der Ärztin dann die Hand entgegen. »Ich hab gehört, dass Sie mich als Erste versorgt haben. Danke.« Agneta siezte die Ärztin, was für den Norden ungewöhnlich war. Ganz offensichtlich wollte sie so Distanz schaffen.

»Nichts zu danken. Das ist mein Job.« Andrea streifte Kristian mit einem kurzen Blick. »Ich will nicht stören, ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht.«

»Danke. Ich fühle mich ganz gut.« Ein langer Blick ging zu Kristian. »Wenn er bei mir ist, geht es mir immer gut.«

»Und – was macht der Kopf? Wie ich hörte, haben Sie eine Gehirnerschütterung davongetragen.« Auch Andrea verfiel in die förmliche Anrede.

»Ach, das geht schon wieder. Auch die Kopfwunde ist nicht gravierend, sagt der Arzt.«

»Und die Fraktur?« Andrea wies auf das eingegipste linke Bein.

»Ich hab kaum noch Schmerzen. Übermorgen wird ein Gehgips angelegt, dann kann ich hier raus.« Sie klopfte kurz auf das linke Bein, das in einer Gipsschale lag, und lehnte sich dann wieder in den Kissen zurück. Andrea konnte sehen, dass Agneta Langlo ein schwarzes, spitzenbesetztes Nachthemd trug, dessen Dekolleté absolut unpassend war für den Klinikaufenthalt.

Sie war ja nicht darauf vorbereitet gewesen, hier liegen zu müssen, ging es Andrea durch den Kopf. Dieses Ne­gligé hatte sie sicher für einen anderen Zweck eingepackt! Sie will Kristian, das signalisiert sie ganz deutlich. Und er – will er sie auch? Natürlich, sagte eine kleine bissige Stimme in ihrem Hinterkopf. Warum sollte er sich nicht von einer so schönen Frau angezogen fühlen? Diese Agneta ist ausgesprochen attraktiv, sie weiß einen Mann zu fesseln. Zudem hat sie bestimmt Geld, das sieht man an all ihren Sachen.

Für einen flüchtigen Moment glitt ihr Blick zu Kristian, sie presste die Lippen zusammen und atmete zweimal tief durch. »Dann wünsche ich weiterhin gute Besserung.«

»Danke.« Agneta streckte die Hand bereits wieder nach ihrem Besucher aus, doch Kristian sprang auf und ging Andrea nach.

Draußen auf dem Flur hielt er sie am Arm fest. »Ich muss dir was erklären … Agneta und ich kennen uns aus Stockholm. Sie ist meine Verlegerin und wollte mich hier besuchen. Ich hatte keine Ahnung davon.«

Andrea sah ihn mit unbeteiligtem Gesicht an. »Warum erzählst du mir das? Du bist mir absolut keine Rechenschaft schuldig.« Sie entzog ihm ihren Arm. »Ich muss wieder los. Adjø.«

Mit zwei großen Schritten war sie im Lift, dessen Türen sich gerade öffneten.

»Verdammt, Boris, willst du es nicht verstehen, oder bist du einfach zu beschränkt?« Jacob brüllte wütend in den Hörer. »Ich darf nach meinem Herzinfarkt noch nicht fliegen, sonst käme ich bestimmt selbst nach Petersburg, das kannst du mir glauben!«

Boris antwortete mit einem Wortschwall, der mit zwei deftigen Flüchen endete.

Jacob war davon jedoch alles andere als beeindruckt. »Wir sehen uns nächsten Monat, wie vereinbart. Und denk dran: Keine Alleingänge, das käme dich teuer zu stehen.« Ohne Gruß legte er auf und trat an die offene Verandatür. »So ein Idiot«, murmelte er vor sich hin und trank einen Schluck Scotch. »Seine Extratouren werde ich ihm austreiben, darauf kann er Gift nehmen. Einfach so die Route zu ändern … Wahnsinn ist das.«

Eine Weile schaute er hinaus aufs Meer. Am Morgen noch hatte ein starker Sturm die arktische See aufgepeitscht, aber jetzt war es windstill. Die Sonne hatte sich durch die dunkelgraue Wolkendecke gekämpft, und die Wasseroberfläche wirkte wie mit Silber überzogen.

Von fern hörte Jacob das Tuten einiger Schiffssirenen, und drüben in der Guanofabrik fuhren ein paar Lastwagen vor. Jacob verzog leicht den Mund. Der strenge Geruch des Guanos war bisweilen grässlich und das Einzige, das ihm den Aufenthalt in Stamsund hin und wieder verleidete. Heute konnte er froh sein, dass der Wind günstig stand und er von dem Gestank nichts mitbekam. So lukra­tiv das Geschäft mit dem Dünger auch heutzutage noch war, so unangenehm waren die Nebenwirkungen.

Jacob drehte sich um und ging zu seinem Schreibtisch, wo er in einer schwarzen Kladde ein paar Eintragungen vornahm. Die Kladde verstaute er dann in dem Wand­tresor, der mit einer komplizierten Sicherheitstechnik vor dem Zugriff Unbefugter geschützt war.

Danach telefonierte er noch einmal. »Hast du die Opernkarten?«, fragte er. Als er eine zustimmende Antwort erhielt, hellte sich seine Miene auf. »Gut, schick sie mir in die Stadtwohnung. Ich bin in zehn Tagen wieder in Oslo.«

Nach einem knappen Gruß beendete er das Telefonat und verließ wenig später das Haus.

Den alten Samen, der ihm auf dem Weg in den Ort entgegenkam und der ihm aus zusammengekniffenen Augen nachsah, bemerkte er nicht.

Mit einem lauten Schrei schreckte Carina Nerhus aus dem Schlaf auf. Sie zitterte am ganzen Körper und sah sich voller Panik im dunklen Schlafzimmer um. Die Vorhänge waren einen Spaltbreit offen, und die erste Helligkeit des Tages drang herein.

»Schnuckel, was ist denn los?« Mit geschlossenen Augen tastete Knut zum Nebenbett.

»Ich … ich weiß nicht …« Carinas Stimme war kaum zu verstehen. »Ich hab geträumt. Irgendwas Aufregendes.«

»Ach so.« Knut legte sich auf die Seite und blinzelte zu ihr hoch. Sie saß, die Arme um die hochgezogenen Knie geschlungen, im Bett und starrte zum Fenster hinaus. Monoton rauschte der Regen draußen, und ein paar Windböen klatschten Kaskaden von dicken Wassertropfen gegen die Scheiben.

Denkbar schlecht war das Wetter, und das schon seit drei Tagen. Kalter Wind wehte von Osten, und auf den Bergen hatte es noch einmal geschneit.

Knuts Blick umfasste Carinas Gestalt, er sah die sanften Rundungen ihrer Brüste, den schlanken Hals, das helle Haar, das ihr ein wenig wirr ins Gesicht fiel und die linke Seite fast ganz verdeckte. Eine Welle der Zärtlichkeit und Leidenschaft durchflutete ihn.

»Und ich hatte gehofft, du würdest immer nur von mir träumen«, sagte er leise und versuchte, Carina am Arm an sich zu ziehen.

»Lass, bitte.« Sie zog ihren Arm weg und wandte ihm nur das Gesicht zu. Irritiert bemerkte er die Panik in ihren Augen.

»Was war denn los?« Er richtete sich nun auch auf und streichelte sacht ihren zuckenden Rücken. »Du hast gestern vielleicht zu viel Champagner getrunken, und jetzt spielt dein Kreislauf verrückt. Komm her, Spatz, bei mir bist du sicher.«

Sein Lachen mischte sich mit einem tiefen Seufzer, der sich Carinas Lippen entrang. Und während sie sich wieder in die Kissen zurückfallen ließen, glitt sein Blick zum Nachttisch hinüber, auf dem im Sektkübel eine Flasche Champagner stand, daneben zwei Gläser.

»Es war doch schön gestern Nacht, nicht wahr?« Er küsste Carinas Augenlider, ihre Nasenspitze, dann die Lippen, die sich jedoch nicht, so wie sonst, unter seinen Küssen öffneten.

»Hmm …« Carina legte den Kopf an seine Brust. Es war beruhigend, seinem gleichmäßigen Herzschlag zu lauschen. Langsam entspannte sie sich und genoss es, Knut so nah bei sich zu haben. Gestern hatten sie den sechsten Jahrestag ihres Kennenlernens gefeiert. Knut war damals noch Zweiter Offizier auf dem Hurtigrutenschiff Kong Olav gewesen, und sie selbst hatte gerade die Kommissa­riatslaufbahn begonnen und eine Stelle auf dem Polizeiposten in Tromsø angetreten.

In einer kleinen Bar am Hafen waren sie sich das erste Mal begegnet, und Carina hatte sofort gewusst, dass dieser große blonde Mann sie glücklich machen konnte. Den ganzen Abend bis spät in die Nacht hinein hatten sie zusammengesessen und geredet: über ihre Jobs, über Musik, über Reisen, die sie unternommen hatten – und über ihre Zukunft, von der sie sich schon nach kurzer Zeit sicher gewesen waren, dass sie sich auf eine gemeinsame freuen konnten.

Und mit Knut war sie unendlich glücklich geworden! Wunschlos glücklich, seit ihre kleine Tochter Ellen auf der Welt war.

Ellen … Mit einem Ruck sprang Carina auf und hastete ins Kinderzimmer. Die lichtblauen Vorhänge mit den hellen gelben Sternchen darauf waren noch zugezogen und schlossen Licht und Sturm aus. Ellen lag, zusammengerollt wie ein kleiner Hund, in ihrem Bett und schlief tief und fest. In ihrem linken Arm lag Nanni, das schwarze Schaf mit der roten Schleife, das ihr Andrea vor einem Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte. Ohne Nanni ging Ellen nie zu Bett.

Gleich neben der Tür stand Buffys Körbchen. Der braune Labrador hob nur kurz den Kopf, ließ ihn aber gleich wieder mit einem tiefen Seufzer auf die Pfoten sinken, als Carina »Pst, sei leise« murmelte.

Erleichtert sah Carina von Buffy wieder auf ihr Töchterchen. Sie atmete ein paarmal tief durch, dann zog sie die blaue Wolldecke ein wenig höher und ging dann auf Zehenspitzen zurück zu Knut.

»Alles in Ordnung«, murmelte sie und schlüpfte unter die Decke.

»Warum sollte etwas nicht in Ordnung sein?« Knut legte den Arm um ihre Schultern.

»Ich … ich hab schlecht geträumt. Jemand hat Ellen etwas antun wollen.« Sie biss sich auf die Lippen. »Und ich konnte ihr nicht helfen. Aber da war ein Rentier. Und eine rote Wolke, die auf den Verbrecher niedergeschwebt ist … Alles war ziemlich irre.«

»Frau Kommissar, deine Nerven haben dir einen Streich gespielt. Oder hast du gerade einen besonders verzwickten Fall, der dich so beschäftigt, dass du die Probleme mit in deine Träume nimmst?« Er küsste sie zärtlich auf die Stirn, knabberte dann spielerisch an ihrem Ohr. »Das treibe ich dir aus, sofort!«

»Nein. Nein, es ist nichts.« Carina hob den Kopf und küsste ihn. »Du hast recht – ich hab wohl gestern zu viel Champagner erwischt.«

»Und ich weiß, wovon ich zu wenig gehabt habe – von dir.« Knuts Küsse wurden leidenschaftlicher. Spielerisch glitten seine Hände über Carinas schlanke Gestalt. Er umfasste ihre Pobacken fester und presste sie an sich, so dass sie spüren konnte, wie erregt er war.

»Du …« Nur ein kleines Wort, doch es enthielt alles, was sie empfand in diesem Moment: Zärtlichkeit. Geborgenheit. Zufriedenheit. Grenzenlose Liebe.

Knut sah ihr lächelnd in die Augen, bevor er ihre Brüste ausgiebig küsste und sie dann immer stürmischer liebkoste.

Die Schatten, die Carina vor wenigen Minuten noch in ihrem Bann gehalten hatten, verschwanden in einem Meer von Glück und Leidenschaft.

Draußen wurde der Sturm stärker, der Regen prasselte gegen die Scheiben, und aus der Ferne hörte man das ­Tuten eines Nebelhorns.

Doch das kümmerte die beiden nicht. Sie waren in ihrer eigenen, wundervollen Welt.

»Wie lange fiebert sie schon?« Andrea Sandbergs Miene konnte man nicht entnehmen, wie besorgt die Ärztin war, nachdem sie Mia Gjerken untersucht hatte. Die vierzigjährige Bäuerin lag apathisch im Bett.

»Keine Ahnung. Gestern hat sie gesagt, sie kann einfach nicht mehr. Ihre Kopfschmerzen würden immer stärker.« Jesper, Mias Mann, zuckte hilflos mit den Schultern. Er war groß und breitschultrig, man sah ihm an, dass er die meiste Zeit des Tages draußen verbrachte. Zusammen mit Mia und seinem alten Vater Thore bewirtschaftete er einen Hof etwa zehn Kilometer von Stamsund entfernt. Einsam lag das Gehöft in einer Senke, umgeben von grünen Hügeln, auf denen Jespers große Schafherde weidete. Aber auch einige Ziegen und Kühe fanden genügend Futter.

»Pst, sprich leiser.« Andrea zog ihn ein paar Schritte vom Bett fort, nachdem sie gesehen hatte, dass die Kranke auf die laute Stimme ihres Mannes mit schmerzverzerrtem Gesicht reagierte. »Ich mache noch ein paar Tests, aber ich fürchte, dass ich Mia in die Klinik einweisen muss.«

»Nur das nicht!« In Jespers Augen glomm Panik auf. »Wie sollen wir denn ohne Mia zurechtkommen, Vater und ich?«

»Das werdet ihr wohl für eine Weile müssen.« Andrea beugte sich wieder über ihre Patientin und bat: »Streck mal die Beine aus, Mia.«

Mia bemühte sich sichtlich, doch es gelang ihr nicht.

»Komm, ich richte dich mal ein bisschen auf. Versuch jetzt, den Kopf nach vorn auf die Brust zu beugen.«

Die Kranke hielt die Augen geschlossen, während sie versuchte, den Anweisungen zu folgen.

Andrea presste kurz die Lippen zusammen, als sie feststellte, dass auch das Brudzinski-Zeichen vorhanden war: Beim Vorbeugen des Kopfes wurden unwillkürlich die Beine angezogen – ein weiteres Symptom für eine Hirnhautentzündung! Zusammen mit der Lichtempfindlichkeit, der Nackensteife und dem hohen Fieber war die Diagnose beinahe eindeutig.

Ohne sich länger aufzuhalten, rief Andrea einen Krankenwagen, der ihre Patientin so rasch als möglich in die Klinik bringen sollte.

»Und – was wird jetzt aus Vater und mir?«

Andrea sah ihn empört an. »Hast du sonst keine Sorgen? Weißt du nicht, wie gefährlich eine Hirnhautentzündung ist? Mia muss sofort behandelt werden, sonst …« Sie zögerte, doch dann sagte sie sich, dass es in diesem Fall besser war, schweres Geschütz aufzufahren, und so fuhr sie leiser fort: »Sie könnte sterben, wenn sie nicht intensiv versorgt wird.«

»Nein!« Der große Mann sackte sichtlich zusammen. »Das … das darf nicht sein! Doktor Andrea, du musst ihr helfen, ich flehe dich an!«

»Das tu ich ja. Aber sie braucht Infusionen, Medikamente, die das Fieber senken, und Antibiotika. Diese Mittel kann man ihr gezielt nur im Krankenhaus verabreichen und dann beobachten, wie sie anschlagen. Hier bei euch kann Mia nicht optimal versorgt werden, das musst du einsehen.«

Jesper nickte. »Ja, ja, tu, was notwendig ist.« Leise ging er zum Bett und beugte sich über Mia. Der große Mann, der sich oft so tapsig wie ein Bär verhielt, war plötzlich von einer Sanftheit, die Andrea berührte. »Ich liebe dich, Mia«, flüsterte er der Kranken zu. »Du musst bald wieder gesund werden.«

»Ja.« Mia öffnete nur kurz die Augen.

Es dauerte nicht lange, dann fuhr der Krankenwagen vor und transportierte Mia ab.

»Ich komme gleich nach und bringe Mia ein paar persönliche Sachen in die Klinik«, sagte Andrea zu dem äl­teren der beiden Sanitäter. Sie hatte bemerkt, dass Jesper gar nicht wusste, was seine Frau brauchen würde, und beschloss, alles selbst zusammenzusuchen. Während sie ein paar Nachthemden und Waschzeug einpackte, ging ihr durch den Kopf, welch einsame Verantwortung auf ihr lastete, seit sie die Praxis des alten Johan Ecklund übernommen hatte. Als Landärztin, deren Patienten weit verstreut wohnten, musste sie die Diagnose allein stellen – und allein entscheiden, wie der Behandlungsverlauf aussehen sollte. Damals in Deutschland, als sie in einer großen Klinik gearbeitet hatte, war das anders gewesen. Ein Team von Ärzten und umfangreiche diagnostische Hilfsmittel hatten zur Verfügung gestanden und eine optimale Versorgung der Patienten garantiert. Und doch – sie wollte nicht zurück. Sie wollte das Leben, das sie jetzt führte, auf keinen Fall mehr gegen ein Leben in der Großstadt eintauschen!

Eine gute Viertelstunde später machte sie sich auf den Weg nach Svolvær. Die Nachmittagssonne, die jetzt, Anfang Mai, schon recht kräftig war, lockte viele Menschen hinaus auf die Straße. Die Cafés waren ebenso gut besucht wie die kleinen Geschäfte und Shops am Hafen.

Andrea sah eines der Hurtigrutenschiffe, das sich anschickte, in den Hafen einzulaufen. In einer halben Stunde würden dann noch mehr Touristen die Straßen bevölkern und sich an der idyllischen Lage dieses größten Städtchens auf den Lofoten erfreuen.

Vorbei am modernen gläsernen Einkaufszentrum des Ortes, wo man alles bekam, was man zum Leben benötigte, fuhr sie zum Krankenhaus und parkte gleich neben dem Eingang zur Ambulanz.

Noch stand der gelbe Krankenwagen in der Auffahrt, und einer der Sanitäter, der danebenstand und rauchte, hob kurz die Hand. »Deine Patientin ist schon im Untersu­chungsraum«, berichtete er. »Doktor Draksen und Doktor Mörle haben Dienst.«

»Danke.« Andrea betrat das Klinikgebäude, dessen Geruch so unverwechselbar war wie überall auf der Welt. Es roch nach Medikamenten, nach Desinfektionsmitteln – und ein wenig auch nach Angst. Zumindest empfand Andrea es immer so.

»Hei, Andrea.« Dr. Daniel Mörle, Internist und lei­tender Chefarzt, kam aus dem Untersuchungszimmer, gerade als Andrea die Hand nach der Türklinke ausstrecken wollte. »Du hast uns die neue Patientin geschickt, hörte ich.«

»Ja. Mia Gjerken. Verdacht auf Meningitis.«

»Deiner Diagnose kann ich mich nur anschließen. Alle Symptome sprechen dafür. Sie ist kaum noch ansprechbar, ich hab veranlasst, dass sie gleich auf die Intensivstation kommt.«

»Danke. Hier hab ich ihre Sachen.«

»Gib her, Schwester Britta kann sie ihr bringen.« Er lächelte Andrea an. »Und – Lust auf einen Kaffee?«

»Gern. Ich will vorher nur noch kurz auf der Chirurgie nach zwei Patienten sehen. Du bist dann in deinem Büro?«

»Ja. Bis gleich.«

Andrea lächelte ihm zu und durchquerte die helle Eingangshalle. Kurz bevor sie den Lift erreichte, kam ihr Kristian Hallström entgegen. Sein Anblick versetzte ihr einen Stich: Kristian hatte sich den etwas verwilderten Bart abrasiert. Jetzt ähnelte er Magnus so stark, dass Andrea ihn wie hypnotisiert anstarrte.

»Hei. Was ist denn? Geht’s dir nicht gut?« Mit zwei langen Schritten war er neben ihr und umfasste ihre Schultern. Sie sah aus, als würde sie im nächsten Moment ohnmächtig werden.

»Nicht. Lass mich.« Andrea zitterte am ganzen Körper.

»Was ist denn los? Andrea! Sag doch was!«

Ein paarmal kniff sie die Augen zusammen, atmete tief durch, schüttelte vorsichtig den Kopf und versuchte sich dann aus seinem Griff zu befreien. »Entschuldige, es ist nichts. Alles in Ordnung.«

»Den Eindruck hatte ich aber nicht gerade.« Mit leicht schräg gelegtem Kopf sah er sie an.

Andrea hatte Mühe, die Beherrschung zu wahren. Dieser Blick … liebevoll besorgt, fast ein wenig zärtlich … so hatte Magnus sie oft angeschaut, wenn sie müde und erschöpft von einem Hausbesuch heimgekehrt war.

Nein, lass mich los! Lass mich sofort los!, hätte sie am liebsten geschrien, doch kein Laut kam über ihre Lippen, als Kristian sie noch fester an sich zog und ihren Kopf an seine Schulter bettete. Dieses vertraute, lang entbehrte Gefühl von Geborgenheit … Sie atmete ganz flach, so, als könnte sogar ihr heftiges Luftholen den Zauber des Augenblicks zerstören.

Es ist, als hielte mich Magnus in seinen Armen, dachte sie, und am liebsten wäre sie so stehen geblieben, in der Hoffnung, dass die Erinnerung an eine glückliche Vergangenheit Wirklichkeit werden möge.

»Geht es wieder?« Die dunkle Männerstimme riss sie aus ihren Tagträumen.

Mit einem Ruck befreite sie sich aus Kristians Armen. »Ja. Ja natürlich.« Sie sah ihn nicht an. Sie wollte ihm nicht in die Augen sehen, die doch Magnus’ Augen waren. Sie wollte ihn nur riechen, diesen unverkennbaren Geruch nach Meer, nach dem Aftershave mit der herben Sandelholz-Note, nach Kaffee und den Lakritzdrops, die Ma­gnus so geliebt hatte.

Es konnte einfach nicht sein, dass Kristian genauso roch wie Magnus! Es war Einbildung, nichts anderes!

»Sorry, ich muss gehen.« Sie drehte sich um und stürmte aus der Halle, rannte zum Parkplatz und schloss mit zitternden Fingern ihren Wagen auf.

Dann brach sie weinend über dem Lenkrad zusammen.

»Hei, Berit, wo kommst du her?« Der alte Same saß vor seinem Holzhaus am Ortsrand von Ramberg und schnitzte an einer Pfeife. Vor etlichen Jahren war Ole hier endgültig sesshaft geworden, das Herumziehen mit den Rentier­herden wurde ihm zu beschwerlich. Zudem war er hier näher an der großen Klinik gewesen und hatte Kim, seine kranke Enkelin, dort behandeln lassen können.

Aber jetzt war Kim bei den Ahnen. So wie ihre Eltern, die auch viel zu früh dorthin hatten gehen müssen, von wo kein Sterblicher je zurückkehrt.

Der alte Mann blickte hinaus aufs Meer, sah die endlose, silbrig glitzernde Wasserfläche und seufzte auf. Das Meer war unendlich, aber ihm fehlte auch nach Jahren noch oft die Weite der Tundra, der enge Bezug zu den Tieren, die zu einem Samen gehören wie die Wolken zum Himmel und die Lachse in die nordische See.

»Von daheim. Woher sonst.« Berit ließ sich neben ihm nieder. Wie immer trug sie die alte Tracht ihres Volkes. Da es kühl war, hatte sie über den blau-roten Kittel eine dunkelbraune Jacke aus Rentierfell gezogen. Die rote Kappe, üppig bestickt mit weißen, gelben und blauen Glasperlen, verdeckte zum größten Teil ihr dunkles Haar, das nur an den Schläfen ein paar weiße Strähnen zeigte.

»Du kommst direkt von Hinnøy?«

Berit nickte. »Erst hat mich Hendrik Mattis ein Stück weit in seinem Wagen mitgenommen, dann bin ich in den Bus gestiegen.« Ein kleines Lächeln glitt über ihren fal­tigen Mund. »Glaubst du vielleicht, ich lebe noch im vorvorigen Jahrhundert?«

»Aber nein!« Ole stand auf. »Ich bin nur verwundert.« Er streckte die Hand nach ihr aus. »Kommst du mit ins Haus? Ich koche uns Kaffee. Frischer Kuchen und Kekse sind auch da, eine Nachbarin hat sie mir herübergebracht.«

»Kaffee ist gut. Aber erst mal mag ich nichts essen.« Berit nestelte an den Verschlüssen ihrer Jacke, zog sie aus und legte sie über ihre alte Tasche aus Rentierleder. »Es ist wärmer hier als bei uns.«

»Heute ist ein besonders schöner Tag.« Ole ging ins Haus und setzte Kaffeewasser auf. Als er zurückkam, stellte er einen Teller mit Gebäck vor Berit auf den grob­gezimmerten Holztisch. »Schmeckt gut, probier mal.«

»Ja. Danke.« Berit sah sich um. »Wo sind deine Tiere?«

»Hinter dem Haus. Da haben sie ein ganzes Stück Weide. Willst du sie sehen?« Er nahm Berits rechte Hand, die abgearbeitet und voller Schwielen war, in seine.

»Ja.« Die alte Frau stand ein wenig schwerfällig auf und folgte ihm durch das kleine Tor aus schlichten Birkenstämmen hinüber zum Pferch für die drei Hausrentiere.

»Es lebt immer noch!« Berit wies auf ein weißes, ziemlich kleinwüchsiges Rentier, das ein Stück abseits von den beiden anderen stand. »Kims Ren!«

Als hätte es Berits Stimme erkannt, kam das Albino-Ren auf die alte Frau zu und schmiegte seine weiche Schnauze in Berits Hand. Gedankenverloren streichelte Berit das Tier, dann wandte sie sich Ole zu, der sich an den Zaun lehnte und mit tränenfeuchten Augen auf die Szene sah. »Ich hatte einen Traum.«

Ole zuckte zusammen. Die alte Schamanin besaß übersinnliche Kräfte, das wusste er seit vielen Jahren. »Und – was hast du geträumt?« Seine Stimme klang brüchig.

»Lass uns Kaffee trinken.« Berit ging zu der schmalen Bank vor dem roten Holzhaus zurück und setzte sich. Die sich immer stärker gen Westen neigende Sonne warf einen goldenen Schein über das Meer. Ein paar kleine Fischerboote zogen ihre Bahn, verfolgt von Papageientauchern und einem Schwarm laut kreischender Möwen.

»Schön hast du es hier. Aber vermisst du nicht unsere Zelte, die Gemeinschaft, die Rituale unseres Stammes?« Berit tauchte einen der Kekse in den Kaffee und steckte sich das Gebäck erst dann in den Mund.

»Nur ganz selten.« Ole trank seinen Kaffee in kleinen Schlucken. »Meine Nachbarn sind sehr nett, zwei Häuser weiter lebt Mats mit seiner Familie, und mein Neffe Kjell wohnt am anderen Ortsende. Nein, nein, es ist schon gut, dass ich hierhergekommen bin.« Er biss sich auf die Lippen. »Seit Kims Tod zieht mich nichts mehr zu euch in die Tundra.« Tränen liefen ihm über die wettergegerbten Wangen. Er räusperte sich und sagte dann leise: »Seit die Kleine gestorben ist, ist auch ein Stück von mir gestorben.«

»Ich weiß.« Berit legte ihre Hand auf seine zuckenden Finger. »Aber wir werden noch gebraucht, du und ich.«

»Wozu?« Mit müdem Blick sah er sie an.

»Die Menschen hier brauchen uns.« Berit zog etwas unter ihrem bunten Kittel hervor. »Die deutsche Ärztin ist in Gefahr. Du musst zu ihr.« Von einer Sekunde zur anderen hatte ihre Stimme einen anderen Klang bekommen. Sie sprach leise, unmelodiös, in abgehackten Wörtern, von denen man glauben konnte, sie suche sie mühevoll zusammen. »Da ist ein Mann. Ein Fremder. Er ist nicht gut. Nicht gut für Doktor Andrea.«

Mit einem Satz sprang das weiße Rentier über den Zaun, legte sich vor Berit hin, bettete den Kopf auf ihre hohen Lederschuhe und sah zu der Alten auf, deren Blick sich in der Weite des Horizonts verlor. Von Norden her zog eine Quellwolkengruppe immer näher. Eine kleine, tellerrunde Wolke löste sich daraus, und es schien, als schwebe sie direkt auf die beiden Alten zu. Sie blickten fasziniert zum Himmel auf und sahen zu, wie die unter­gehende Sonne der Wolke einen rotgoldenen Mantel umhängte.

Leise begann die alte Schamanin zu singen, den uralten Joik-Gesang der Samen. Dann beugte sie sich vor, holte aus ihrer Tasche eine kleine Trommel und schlug sie im Takt des Gesangs.

Ole saß ganz still. Seit jeher besaßen die Schamanen seines Volkes übersinnliche Fähigkeiten. Und Berit war damit besonders reich gesegnet. Wenn sie die Trolltrommel schlug und sich so in Trance versetzte, kam es vor, dass sie Kontakt zu den toten Ahnen bekam. Oder dass sie Dinge sah, die noch in ferner Zukunft lagen.

Eine Viertelstunde etwa saßen sie so. Berit sang leise vor sich hin, schlug ihre Trommel und sah zu der kleinen Wolke hoch, die genau über ihnen zum Stehen gekommen war.

Das weiße Rentier erhob sich mit einem Ruck, stieß ­einen Schrei aus – und sackte tot in sich zusammen.

»Andrea … Doktor Andrea … hilf ihr … der Fremde …« Berit schwankte, ihre Stimme versagte. Sie legte die Trommel auf dem Schoß ab und blickte auf das weiße Rentier, das direkt vor ihren Füßen lag.

»So plötzlich ist es dahin.« Ole schüttelte den Kopf. »Warum?«

»Das wissen nur die Götter.« Berit nestelte eine lange und eine kurze Kette aus roten Glasperlen aus ihrer Tasche. An beiden hingen ein paar kleine Haizähne und Knochen. Die Alte bückte sich und zog dem toten Ren ein paar Haare aus dem Nackenfell. Geschickt flocht sie auch diese noch in die lange Kette ein.

»Was machst du?«

Berit antwortete erst nach einer Weile. Sie hob die Ketten hoch und ließ sie ein paarmal über ihrem Kopf kreisen. Dann legte sie die lange Kette dem toten Rentier kurz zwischen die gebrochenen Augen, ehe sie das seltsame Schmuckstück Ole reichte.

»Bring die Kette Doktor Andrea. Sie soll sie immer bei sich tragen. Was du mit der anderen tun musst, weißt du.«

»Er ist schon wieder da, Doktor Andrea!« Liv Björnsdotters Augen glänzten, und sie strich sich aufgeregt über den weißen Kittel.

»Wer ist da?« Andrea sah nur kurz von ihrem Krankenbericht auf.

»Jacob Stevensen. Und er hat Blumen dabei. Rosen.«

Andrea runzelte die Stirn. »Sitzt er im Wartezimmer?«

Liv nickte. Die Zwanzigjährige, die Medizin im zweiten Semester studierte, half während der Semesterferien gern in der Praxis aus. So hatte Birgit mehr Zeit für ihren Haushalt, und Liv konnte einiges an praktischer Erfahrung sammeln.

Jetzt war Liv für ein paar Wochen zu Hause, und gleich hatte sie angefragt, ob sie wieder im Doktorhaus ­arbeiten könne.

»Bring ihn noch für ein paar Minuten ins Labor, ich komme, sobald der nächste Patient behandelt ist.« Andrea täuschte Gelassenheit vor, doch ihr Herzschlag beschleunigte sich. Jacob war ein zwar unaufdringlicher, aber hart­näckiger Verehrer. Sie hatten sich schon öfter getroffen, und er hatte bereits mehrmals Blumen geschickt.

Sie musste sich bemühen, Siv Drahlen mit der gebotenen Konzentration und Freundlichkeit zu behandeln. Die junge Frau erwartete ihr drittes Kind und strahlte vor Glück.

»Jetzt wird es endlich ein Junge, das spüre ich genau«, sagte sie und blickte Andrea erwartungsvoll an. »Kannst du mir schon was sagen?«

Andrea wies zur Untersuchungsliege und nahm eine Ultraschalluntersuchung vor. »Das sieht ganz so aus, als würde diesmal dein Wunsch erfüllt.« Sie zwinkerte Siv zu. »Der Erbe ist unterwegs!«

»Doktor Andrea, das ist wunderbar!« Die junge Frau strahlte. Ihrer Familie gehörte eine große Fischfabrik, und alle warteten sehnsüchtig auf den Erben, der einmal die Tradition des Fischhandels fortführen würde. »Mein Yannik wird ausflippen!«

»Grüß ihn von mir. Und du – schone dich ein bisschen.«

»Das mach ich bestimmt!«

»Gut. Dann sehen wir uns in vier Wochen wieder.«

Ein kleines Lächeln lag noch auf Andreas Lippen, als sie die Labortür öffnete und Jacob begrüßte.

Siv war eine von ihren treuesten Patientinnen. Gleich nachdem die deutsche Ärztin die Praxis von Johan Ecklund übernommen gehabt hatte, war Siv mit ihren beiden Kindern zu ihr gekommen. Und schon bald sagte sie »Doktor Andrea« zu der Ärztin – eine vertrauliche Anrede, die die meisten Patienten inzwischen übernommen hatten.

Jacob Stevensen saß auf einem kleinen Hocker, den Arm auf einen halbhohen Medikamentenschrank gestützt, auf dem ein herrlicher Strauß gelber Rosen lag. Jacob trug einen hellgrauen Blazer zur schwarzen Hose, dazu ein fliederfarbenes Hemd, das am Hals offen stand. In diesem Outfit unterschied er sich von den meisten anderen Männern aus Stamsund. Die trugen entweder Jeans oder warme Cordhosen, dazu Arbeitshemden und höchstens mal ein helles Polohemd unter einem warmen Pull­over.

»Ich weiß, ich komme mal wieder ungelegen.« Er zog Andreas Hand an die Lippen. »Aber ich gestehe, dass ich einfach nicht mehr bis zum späten Nachmittag warten wollte. Ich möchte deine Antwort sofort.« Bei diesen Worten legte er ihr die Rosen in den Arm.

Andrea biss die Lippen zusammen. Was wollte er damit sagen? Worauf sollte sie ihm antworten? Leise Panik breitete sich in ihr aus, mischte sich aber mit einem leisen Glücksgefühl, als sie in Jacobs lächelndes Gesicht sah.

Der Widerstreit der Gefühle, der in ihr tobte, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Jacob konnte darin lesen wie in einem offenen Buch. Er lachte leise, dieses dunkle, samtweiche Lachen, das Andrea sehr mochte.

»Du siehst aus wie ein Kind, wenn’s donnert. Ich wollte dich nicht erschrecken. Hier, das ist es, was ich dir zeigen – und worauf ich eine Antwort haben möchte.« Er griff in seine Jacketttasche und holte zwei Tickets hervor. »Opernkarten. In Oslo wird nächste Woche La Bohème gespielt. Mit der Netrebko als Mimi.« Erwartungsvoll sah er Andrea an. »Na, was sagst du?«

»Die Bohème …« Andrea seufzte sehnsüchtig auf. »Weißt du, wann ich das letzte Mal in der Oper war? Oder in einem Konzert?«

»In der Oper warst du in New York und hast dort Rigo­letto gesehen.«

»Stimmt!« Andrea griff nach den Karten. »Das hast du behalten.«

Er strich ihr kurz über die Wange. »Ich kann mich an alles erinnern, worüber wir gesprochen haben.«

Eine kleine Weile blieb es still zwischen ihnen. Draußen fuhr ein Wagen vor, man hörte das Weinen eines Kindes und die aufgeregte Stimme einer Frau.

»Ich muss wieder in die Praxis.« Andrea legte die Blumen zurück, dazu die Karte. »Danke für die Rosen. Sie sind wunderschön.«

»Und – wie ist deine Antwort?« Jacobs Stimme klang nun drängend.

Andrea sah ihn an. »Ich komme gern mit, Jacob. Es ist eine wundervolle Idee, und ich freue mich auf den Trip. Aber wie kommen wir …«

»Pst. Kein Wort mehr.« Er legte ihr den Finger auf den Mund. »Darum kümmere ich mich. Du musst nur mitkommen, alles andere überlass mir.«

»Ja dann …« Andrea öffnete die Tür. »Ich muss wieder an die Arbeit.«

Jacob nickte und folgte ihr. »Wir telefonieren heute Abend noch mal«, sagte er.

»Einverstanden.«

Mit einem Ruck zog Jacob die Eingangstür hinter sich zu.

Ein siegessicheres Lächeln umspielte seine Lippen, als er hinüber zu seinem Wagen ging, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkt war. Eine kleine Schnur mit roten Perlen hing an der Fahrertür, daran baumelten Fischzähne und bereits faulendes Rentierfleisch.

»Schweinerei«, schimpfte Jacob und riss die Schnur ab. In weitem Bogen warf er sie ins Geröll gleich neben der Straße.

Andrea hörte das Jauchzen ihres kleinen Sohnes schon von weitem. Sie ging schneller, öffnete mit der Linken die Haustür und nahm sich gerade noch die Zeit, die Rosen in der Küche in die Spüle zu legen, dann eilte sie nach draußen.

»Mama! Mama! Guck mal!« Mit leuchtenden Augen hielt ihr Lars ein geschnitztes Rentier entgegen. »Und das da!« Aus der Hosentasche zog er ein Lederband mit einem runden Medaillon, das kunstvoll aus einem Stück Walfischzahn geschnitzt worden war.

»Wie schön! Wer hat dir das denn geschenkt?« Sie beugte sich vor und gab Lars einen Kuss.

»Da!« Lars tapste zur Bank an der rückseitigen Hauswand. Birgit saß dort, und neben ihr …

»Ole!« Verblüfft sah Andrea auf den alten Samen, der sich langsam erhob und auf sie zukam. »Wir haben uns lange nicht gesehen!« Sie reichte ihm beide Hände.

»Andrea.« Mit leicht schräg gelegtem Kopf musterte er sie. »Gut siehst du aus. Ist alles in Ordnung?«

»Aber ja!« Sie hakte sich bei ihm ein. »Und bei dir? Geht es dir gut, oder brauchst du einen Arzt?«

»Nein, nein. Mir geht es gut. Es ist nur …« Ole zögerte. Sein Blick ging von Andrea zu Lars, dann zu Birgit, die gerade einen Schluck Kaffee trank.

Bedächtig stellte Birgit die Tasse vor sich ab. »Sag es geradeheraus, Ole. Das ist am besten.« Dann stand sie auf. »Komm mit, Lars, wir holen noch ein paar Kekse für die Mama aus der Küche.«

»Und Tuchen.«

»Ja, Kuchen auch.« Birgit nahm ihn an die Hand. »Jetzt könnt ihr ungestört reden«, sagte sie und nickte Ole auffordernd zu.

Der alte Mann streckte die Hand aus. »Komm, setz dich zu mir. Und dann sag mir ehrlich, ob du dich wirklich gut fühlst. Gibt es … gibt es einen neuen Mann in deinem Leben?«

Wenn Andrea irritiert war, ließ sie es sich nicht an­merken. Sie wusste inzwischen genug über Ole und seine Landsleute, um zu erkennen, dass er diese Frage nicht aus Neugier stellte.

»Es geht mir wirklich gut«, antwortete sie. »Und … ja, es gibt wirklich einen Mann, der …«

»Ja?« Fragend sah er sie an.

Andrea zuckte mit den Schultern. »Wie soll ich es dir erklären? Er heißt Kristian und ist mit Magnus verwandt. Vor einigen Tagen tauchte er hier auf. Und er ist … er hat mich …« Sie biss sich auf die Lippen. »Er sieht Magnus so unheimlich ähnlich«, gestand sie dann leise. »Mir ist oft so, als sähe Magnus mich an. Mit demselben Blick. So zärtlich, so vertraut …«

Während sie sprach, verlor sich ihr Blick in der Ferne. Ihr Gesicht bekam einen weichen, beinahe verträumten Ausdruck, der viel mehr von ihren Gefühlen verriet, als ihr bewusst war.

»Und sonst? Gibt es sonst noch jemanden?« Oles Stimme klang ungewöhnlich drängend, was Andrea irritierte.

Sie zögerte ein paar Herzschläge lang, dann nickte sie. »Ich hab einen Patienten, der mir sehr sympathisch ist.«

»Woher kommt er?« Ole beugte sich ein wenig vor und sah die junge Ärztin eindringlich an.

»Er besitzt hier ein Ferienhaus. Aber er lebt wohl hauptsächlich in Oslo.«

Wenn jemand den beiden zugehört hätte, wäre er verwundert gewesen über die Offenheit, mit der Andrea antwortete. Doch sie kannte Ole seit ihrer Ankunft in Norwegen. Damals war sie unendlich traurig gewesen, da sie der Mann, wegen dem sie die Heimat verlassen hatte, um mit ihm in Bergen zu leben, schamlos betrogen hatte. In ihrer Verzweiflung war sie auf eines der vielen Hurtig­rutenschiffe gestiegen und einfach losgefahren, die ganze wildromantische Küste Norwegens entlang. Während der Fahrt hatte sie Ole und seine todkranke Enkelin Kim kennengelernt. Kim, das Samenmädchen mit dem roten Käppchen über der Perücke, das so tapfer sein Schicksal ertragen hatte und dem der beste Arzt der Welt nicht hätte helfen können. Der Tumor in Kims kleinem Kopf war inoperabel gewesen; es galt nur noch, ihr die letzten Tage so schön wie möglich zu machen.

Seit dieser Reise gehörte Ole zu Andreas Leben. Sie trafen sich nur selten, doch wenn sie sich sahen, war eine Vertrautheit zwischen ihnen, die außergewöhnlich war und keinerlei Worte bedurfte.

»Ein Fremder.« Oles Stimme war kaum zu verstehen. Er nestelte an seiner Jacke, griff dann in den alten Rucksack aus Rentierleder und zog ein Päckchen heraus. »Hier, für dich.«

»Ole, du sollst mir nichts schenken! Du hast Lars schon so viel mitgebracht!«

»Es ist kein Geschenk.« Der alte Mann nahm Andreas Hände und legte sie dann um das in graues Packpapier eingeschlagene Paket. »Berit war bei mir. Deinetwegen. Sie sagt, du musst diese Kette tragen. Zumindest behalte sie immer am Körper.«

»Berit.« Andrea biss sich kurz auf die Lippen. »Was … was hat sie denn noch gesagt?«

»Nimm die Kette und trag sie bei dir.« Ole griff nach seiner Kaffeetasse und leerte sie in kleinen Schlucken. »Berit hatte einen Traum. Sie hat von dir und einem Fremden geträumt. Deshalb schickt sie dir die Kette.«

Andrea fröstelte. Der Tag, der eben noch so heiter gewesen war, hatte plötzlich seinen frühlingshaften Glanz verloren. Sie wusste um die Fähigkeiten der Schamanin, die oft das Zweite Gesicht hatte und Dinge sah, die den meisten Menschen verborgen blieben.

»Was hat Berit gesehen? Bitte, Ole, du musste es mir sagen!« Fest umklammerte sie den Arm des Alten.

Ole schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Nur eins ist sicher: Trag die Kette immer bei dir!«

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