Das erste Mal geschah es, als ich noch klein war. Zwölf
Jahre. Wir hatten ein Küchenmädchen, das hieß Julie. Julie Horky. Da aber die Köchin auch Julie hieß, wurde sie Horky gerufen. Einfach Horky.
Es war Sommer und dunstig und staubig und wir sollten aufs Land fahren. In irgend ein großes Hotel im Hochgebirge, wo es sicher regnete. Die Horky stand abschiedsbereit im Hausflur, hatte eine frische, papiersteife weiße Bluse an. Ihre Haut glänzte, als hätte sie sie eben mit flüssigem Kerzenwachs eingerieben, und die strohigen Haare hatte sie straff nach hinten gespannt. Die Horky war gut, viereckig und fest wie eine Kiste. Und da stand sie nun und wartete, dass ich ihr einen Kuss geben sollte.
Ich gab ihr nämlich alle Tage einen Kuss im Hausflur, wenn ich in die Schule ging. Sie steckte mir dabei das Frühstücksbrot zu. Dieser Kuss schmeckte nach Schmierseife und grobem Mehl. Ich glaube, ich küsste sie eigentlich gern.
Aber heute standen zwei riesige Lederkoffer zwischen mir und ihr und Mama gab noch Aufträge und Papa hielt seine Brieftasche in der Hand und meine Schwester Bea winkte schon aus dem Auto, das vor dem Tor stand. Vor allem aber sah Onkel Max auf mich herab, dunkel und furchtbar groß, mit dem gewissen Lächeln um die Lippen, und da konnte ich die Horky doch nicht küssen, wenn es auch für zwei Monate fort ging, ich konnte nicht, sondern sprang an ihr vorbei auf die Straße hinaus.
Ich sah dann noch, als wir um die nächste Ecke bogen, wie sie vor dem Haus stand und winkte. Ihr Arm war rund und ungeformt wie ein dicker Ast. Ich wusste, dass ihre fahlen Augen rot in Tränen schwammen. Ich wusste es, obwohl ich es nicht sehen konnte.
Damals geschah es zum ersten Mal.
Es war ein lauer Sommertag, der Himmel hing herab in erstickten Wolken und unser Zug lief zwischen farblosen Feldern. Meine Schwester Bea aß ein Brot mit gelbem Käse. Ich fühlte mit den Fingerspitzen den Samt der Sitze und hatte einen seltsamen Klotz im Magen, eine Faust, die sich zusammenkrampft. Die Horky — ach die Horky war jetzt sicher traurig, furchtbar traurig, weil ich sie verraten hatte. Sie sah herab auf ihre papiersteife Bluse und ich sah herab auf plötzlich angeschwollene schwere Brüste, roch das Abwaschwasser, spürte das grobe ausgeflickte Hemd — eine Katze saß auf der Ofenbank, eine alte Frau stöhnte in einem Bauernbett, rohe Männerstimmen, endloser Regen über gelbem Getreide, eine riesige Kuh, und meine Brüste zogen mich herab, immer tiefer herab in ein schwüles Dunkel bis der Zug mit einem grässlichen Ruck halt machte.
Ein wilder roter Schnitt, tropfendes Blut, und ich stand auf und wunderte mich, dass ich so mager war. Mein Blick fiel in den kleinen Spiegel des Abteils dicht neben dem blonden Kopf meiner Schwester Bea, jemand rief zum Fenster herein: — Bier bitte! Und ich sah ein fremdes blasses Gesicht mit tiefen Augen, zusammengewachsenen Brauen, Kinderwangen und einem entsetzlich alten Mund. Ich wandte mich um. Nein, hinter mir stand niemand. Plötzlich streckte ich die Zunge heraus. Die andere, die im Spiegel streckte auch die Zunge heraus. Und Julie Horky packte jetzt eben ihre mehl- und seifenduftenden groben Hemden in ein Holzköfferchen, um in ihr tschechisches Heimatsdorf zu reisen.
Ich aber fuhr mit Mama und Papa und Bea in ein Hotel im Hochgebirge, wo es sicher regnete. Warum? Wieso? Warum nicht an ein südliches kochend blaues Meer? Oder in ein Dorf mit rotem Kirchturm?
Das war das erste Mal.
Am Abend erkannte ich in dem Spiegel des Speisesaals meine dürftige Schulmädchengestalt zwischen vielen bunten Menschen. Mama sagte: — Halt’ dich gerade. Und erst viel, viel später erfuhr ich, dass die Horky damals ungefähr im dritten Monat einer Schwangerschaft gewesen sein musste.
Ich wusste natürlich gar nicht, was geschehen war, ahnte es nicht einmal. Ich spielte den Sommer lang mit russischen und französischen Kindern, las im Geheimen einen Roman, den Bea für gewöhnlich in ihrer Handtasche versperrt hielt und in dem sehr viel von der Liebe stand. An die Horky dachte ich gar nicht mehr, denn ich bin nicht gut und edel, ganz gewiss nicht, auch nicht schlecht —
Eigentlich gar nichts. Und das ist es eben. Eben deshalb schreibe ich diese Notizen, vielleicht wird es auch ein Buch, ein Bekenntnis, weiß Gott was. Das ist übrigens gleichgültig.
Tatsache ist, dass ich hier etwas niederschreibe, ich, nicht wahr, ich, daran kann doch kein Zweifel sein, und wenn ich es lese, und ich werde es oft lesen, vielleicht sogar jeden Abend, wie ein Gebetbuch, eine Bibel — denn warum zum Teufel soll man immer nur von anderen lesen? Die Horky kann sich ihr Leben ja schließlich selber aufschreiben, wenn sie will, aber die denkt nicht daran, sitzt bei sich zuhause in einem Fabriksnest, rote Ziegelbaracken und Ruß, sechs Kinder hat sie oder sieben, die Haut unter ihren Nägeln ist ganz zerrissen, das Älteste hat einen Wasserkopf, und sie hat eine graue Bluse, vergilbtes Haar, riecht nach Schnaps aus dem Mund —
Aber Herrgott, was geht mich die Horky an!
Ich muss mich zusammennehmen, muss von mir schreiben, von mir allein. So eine Art Lebensgeschichte. Das wird zwar nicht sehr interessant. Braucht es auch nicht zu sein. Und gar nicht bunt. Wenn ich von Grete schreiben könnte, das wäre so weich, so süß, so hell. Schaukelnde Abende unter verhängten Lampen. Oder von Anette. Donnerwetter, wäre das lustig, spitz und zackig und etwas schmerzhaft und nicht immer appetitlich, mit Geldfetzen dazwischen. Gar nicht zu reden von Ulla, die wie ein Salzfelsen ist, kristallklar und beißend gescheit. Aber was soll das alles. Ich will das doch gar nicht. Ich will von mir schreiben. Von mir allein.
Denn es muss etwas geschehen. Besonders seit der Sache von gestern. Das war ja ein Verbrechen, eine Sünde. Aber war ich denn schuld daran? Stand denn, als ich nachhause kam, nicht die Andere im Spiegel, die Fremde, die Gehasste? Und war ich denn, als ich in seinen Armen lag — nein, still, nicht daran denken!
Aber es muss etwas geschehen. Denn wenn es einmal so weit geht, dass ich nicht nur denke und fühle wie die anderen, sondern auch handle — das wird entsetzlich, das wird gefährlich.
Wenn die Spiegel versagen, die Schaufenster und die Glaskugeln, die geschliffenen Tintengläser und die polierten Tische, vielleicht hilft dann das Wort, das geschriebene Wort. Wie heißt es doch: UND DAS WORT IST FLEISCH GEWORDEN.....
Jeder Bleistift, mit dem ich schreibe, soll eine Waffe sein. Eine Waffe gegen Grete, gegen Ulla, gegen Anette, und nicht zuletzt auch gegen die Fremde. Und wer hier schreibt bin ich. Jawohl ich! Ich allein!