Am besten ist wohl, wenn ich beginne mit meiner, wie man es so nennt, Lebensgeschichte. Obwohl es da eigentlich gar keine Geschichte gibt. Aber das macht nichts.
Das Wichtigste ist Onkel Max. Dass ich ein blitzblank poliertes Kinderzimmer hatte, ist nebensächlich. Alle Weihnachten gab es Puppen und zu jedem Geburtstag die gewisse Torte. Mama und Papa bekamen regelmäßig ihren Gutenachtkuss. Es wundert mich eigentlich, dass sie Vater und Mutter von mir waren. Jedenfalls habe ich sie nie so genannt. Sie waren da wie das Feuer im Ofen und die Suppe auf dem Tisch.
Mit Onkel Max war das ganz anders. Er kam plötzlich und verschwand plötzlich wieder. Man wusste nie, wie lange er bleiben würde, drei Tage, eine Woche, sechs Monate oder eine halbe Stunde. Manchmal verschwand er auf unendlich lange. Aber dann zitterte doch immer die Aufregung im ganzen Haus: kommt er, kommt er heute Abend oder morgen oder übermorgen oder überhaupt nicht mehr. Alles um ihn herum war so unsicher, so unzuverlässig, so ganz und gar nicht selbstverständlich.
Es ist natürlich ein Unsinn, wenn ich behaupte, dass ich es weiß, aber ich weiß ganz genau, dass er sich einmal, als ich noch ein winziges starrendes Baby war, über mein Bettchen geneigt haben muss. Spät in der Nacht. Und dann sagte er etwas, es muss nichts Besonderes gewesen sein, aber sicher etwas, was niemand erwarten konnte. Wahrscheinlich fand er mich auch sehr hässlich.
Er war ein Sammler von wunderbaren alten Holländern, sollte übrigens selbst einmal gemalt haben. Davon sprach er nicht gerne und das war übrigens noch ehe ich zur Welt kam.
Bea aber muss damals schon ein ziemlich großes Kind gewesen sein. Und er malte sie auch mit einer rosa Gasrüsche um den Hals. Ich habe das Bild allerdings nie zu sehen bekommen.
Bea war sehr schön und sie war eigentlich, wie man das so nennt, die Tochter des Hauses. Ihr Zimmer lag neben dem meinen. Sie besaß eine Schmuckkassette, einen winzigen Schreibtisch mit verbogenen Beinen, und in ihrem Schrank zwischen den Spitzenhöschen steckten immer Briefe und Photographien. Das wusste ich, obwohl ich nie hineingesehen hatte. Sie trug den Schlüssel ständig bei sich. Ich wusste auch, dass ein Mann in Uniform dazu gehörte, ein Mann mit breiten Backenknochen und vorspringender Unterlippe. Ich weiß genau, wie er ausgesehen hat. So einer, der seine Kinder prügelt, wenn der Vorgesetzte ihn ärgert. Aber ich habe das Bild nie gesehen. Wirklich nicht. Kann sein, dass eines der Mädchen mir davon erzählte. Übrigens hatte er rechts drei goldene Zähne.
Was die Mädchen betrifft, so verhielt es sich mit ihnen ein bisschen wie mit Onkel Max, wenn sie auch nicht so schön und so groß und so furchtbar waren. Aber sie hatten in meinem Leben nie die selbstverständliche Sicherheit wie Papa und Mama und die große Stehuhr im Speisezimmer, wie die Fensterkreuze und wie Bea. Man konnte nie wissen, ob es nicht eines Tages heißen würde: — Die Person muss fort! Und dann packte eben so ein Mädchen seine Sachen zusammen und war kurz darauf fort, wirklich fort, für immer. Manchesmal vergaß ich sogar die Namen.
Ich aber blieb. Hatte mein Gitterbett, meine Zahnbürste, meinen kleinen Tisch. Ich weiß nicht, weshalb, aber wenn ich so zurückdenke, ist mir, als hätte ich mit offenen Augen die ganzen ersten Jahre meines Lebens verschlafen. Wäre nur manchesmal aufgewacht, mit jenem Ruck, der plötzlich die Erde unter den Füßen verschwinden, den schwerelosen Leib in nichts zerschweben lässt. Und mir war, als hätte man mich vergessen, in einem zufälligen Haus, einer zufälligen Straße, bei zufälligen Eltern. Oft weinte ich über einem Butterbrot.
Dann kam der erste Schultag.
Von der Schule wusste ich im Voraus nur, dass man täglich zeitig aufstehen muss und dann mit Kindern zusammen ist. Kinder kannte ich bisher so gut wie gar keine. Man hatte mich wirklich immer ein bisschen vergessen gehabt. Mama musste ja fortwährend an Bea denken und Papa an Poker und seine Bank. Ich sollte also in der Schule das erste Mal mit Kindern zusammen sein. Das war aufregend. Gefährlich. Voll Abenteuer.
Ich weiß noch, dass wir am Abend vor dem ersten Schultag kalten Hasenbraten zum Abendessen hatten, und irgend eine dunkelrote Sauce war auch dabei. Und fünf Minuten vor neun, also fünf Minuten, ehe ich schlafen geschickt wurde, kam plötzlich Onkel Max. Er setzte sich auf den Stuhl neben Bea, der immer für ihn bereit stand, und sah mich mit seinen langen schiefen Augen traurig an, als er hörte, ich sollte von nun an zur Schule. — Na, sagte er, ärgere dich nur nicht zu viel.
Da bekam ich Angst.
Am nächsten Morgen aber schien die Sonne grell und kalt und die Weiber auf dem Markt verkauften Astern. Papa brachte mich selbst zur Schule, weil das auf dem Weg zur Bank lag. Meine neue Schultasche roch nach hartem Leder und ein langes Fräulein mit blutlosen Lippen nahm mich in Empfang.
Die Kinder — ich sah sie nicht. Ich wusste nur, dass vor mir eine Tafel stand, drohend und schwarz, und dass man Namen aufschrieb. Aber das wusste ich bloß wie von ferne, denn neben mir in der blankpolierten Bank saß — ja, da saß Grete.
Grete war so rosa, so hell, so blondgelockt, wie es sonst nur Puppen oder Engelchen auf Ansichtskarten sind. Sie lächelte mit breiten weißen Zähnen. Sie lächelte eigentlich immer, wenn sie einen ansah. Aber sie sah mich nicht oft an.
Sie saß in einer Wolke von warmem Dunst, einem Dunst aus Milch und Mandelseife. In diese Wolke steckte ich meine braunen mageren Finger hinein. Sie selbst zu berühren wagte ich nicht.
Neben ihr das Fenster schnitt ein Stück kalten grellen blauen Himmels aus. Ich wusste auf einmal, dass wir in unserer Wohnung zuhause zu viele und zu dunkle Vorhänge hatten. Und als die Lehrerin mich beim Namen rief, hörte ich es nicht. Sie wiederholte meinen Namen. War das wirklich mein Name? Grete, Grete, Grete......
Da lachten alle Kinder und Grete puffte mich mit ihrer kleinen gestreichelt glatten Faust. Der Stoß durchzuckte mich wie ein elektrischer Schlag.
Es kam öfters vor, dass ich meinen Namen vergaß. Und später, viel später, als wir schon groß genug waren, um selber Zahlen an die Tafel zu schreiben, stand ich einmal auf, als Grete gerufen wurde und löste an ihrer Stelle eine Rechnung vor der ganzen Klasse. Die Kinder kicherten, die Lehrerin sah mich erstaunt an, ich jedoch sprach ganz laut und klar, mit einer sanften etwas heiseren Stimme, und dachte dabei an eine Mutter in weißem Kleid und mit strahlenden Augen. Aber sonderbar, ich sah von dieser Mutter nur Kopf und Brust, einen gütigen breiten Busen, an den Füßen fehlte etwas, die Beine waren nicht da —
Hier unterbrach mich die Lehrerin und schickte mich in meine Bank zurück. Grete sah mich böse an, lächelte nicht. Sie hatte lange braune Augen mit rötlichem Licht um die Pupillen herum.
Erst später einmal lernte ich Gretes Mutter wirklich kennen. Sie war an beiden Beinen gelähmt, lächelnd saß sie in ihrem Lehnstuhl, dirigierte das ganze Haus und wenn sie Grete sagte, sang ihre Stimme. Und sie nähte Gretes Hemden selbst, stickte jeden Hohlsaum leise summend und mit unendlicher Mühe, während Grete mit ihrem Vater Reisen machte und ins Theater ging. Er war ein berühmter Professor. Astronom. Helles Licht flutete hinter schützendem Milchglas, durchwärmte das Esszimmer. Die Stores vor den Fenstern sahen immer aus wie frisch geplättet.
Ich aber, ich liebte Grete, ohne je etwas anderes für sie tun zu können, als ihr zarte rötliche Radiergummi (Radifix hießen sie) in die Schultasche zu schmuggeln. Sie hatte die Gewohnheit, mit ihren breiten durchscheinenden Zähnen daran zu kauen.
In mein Leben war also, seit ich in die Schule ging, etwas Wichtiges getreten. Etwas, das beinahe so wichtig war wie Onkel Max und beinahe eben so unwahrscheinlich. Nur dass es da war, immer, jeden Morgen ab acht Uhr, falls Grete nicht Schnupfen hatte oder Halsentzündung. Die ersten Jahre, die ich mit Grete zur Schule ging, war Onkel Max übrigens kaum bei uns zu sehen. Er war zwischendurch auch viele Monate in Ägypten. Einmal schickte er mir eine Karte mit einer komischen Sphinx darauf. Ich trug diese Karte so lange mit einem Wäscheband auf das Herz oder vielmehr auf den Magen gebunden, bis sie ganz zerknittert und unleserlich geworden war.
Einmal durfte ich kurz vor den Sommerferien — es waren jene Ferien, zu deren Beginn sich die Geschichte mit der Horky abspielte — eine große Kindergesellschaft zu Ehren meines Geburtstages geben. Ich lud der Einfachheit halber zwei ganze Bänke ein, Grete war nämlich dabei und auch Ulla und Anette, von denen ich später viel zu erzählen haben werde. Ich war riesig aufgeregt, denn Grete hatte schon mehrmals abgesagt, wenn sie zu mir kommen sollte, und ich konnte mir ihre lichte und selbstverständliche Schönheit in unseren dunklen samtenen Zimmern eigentlich gar nicht vorstellen.
Es war ein lauer Juninachmittag. Die drückende Hitze einer ganzen Woche hatte sich nach kurzem Morgengewitter in sanftem Regen gelöst, im Park tropften die Akazien und auf meinem Geburtstagstisch stand ein riesiger Strauß Schneeballen. Schneeballen sind dumme Blumen, wenn man sie anrührt, fallen sie ab. Aber Akazien bekommt man nicht zu kaufen.
Grete kam erst furchtbar spät. Sie war die Letzte, oder beinahe die Letzte. Sie trug ein weißes flaumiges Kleid und weiße Schuhe trotz des Regens. Ihre Haut war zarter als die Blätter der Akazienblüten und an ihrer Schläfe zuckte eine feine blaue Ader. Die Tafel Schokolade, die sie mir brachte, steckte in blauem Glanzpapier.
Ich war so erschöpft vom langen Warten, dass ich mit kaltem Schweiß bedeckt in einem Lehnstuhl versank, während sie sich mit den andern vergnügte. Sie spielten ein großes Kreisspiel. Da klingelte es noch einmal.
Wer konnte das sein? Noch ein Kind? Ich wandte kaum den Kopf zur Tür und herein kam — Onkel Max.
Er trat auf Grete zu — wahrscheinlich begrüßte er erst auch die andern — aber er trat auf Grete zu und strich ihr über das helle Haar, das in zart goldenem Streifen tief in den Nacken verlief. Er sagte zu jemandem — Was ist das für ein wunderschönes Mädchen, und beim nächsten Kreisspiel nahm er sie an der Hand und spielte mit.
Ich saß immer noch in meinem Lehnstuhl, vor mir hing ein Spiegel, ich sah hinein, etwas tat mir weh, zerreißend weh, da sah ich im Spiegel Grete vorüberschweben, an seiner Hand, ganz leicht und hell vorüberschweben, hoch hinaus über das dunkle Fensterkreuz, während Onkel Maxens Hand doch etwas behaart war, nach Fell roch, braunen Pferden und brühendem Stall. Ich hasste Onkel Max, wollte schon aufstehen, Grete von ihm reißen, etwas tun, etwas Furchtbares, Aufsehenerregendes tun — da hatte der Kreis sich aufgelöst, die Kinder wünschten Blindekuh zu spielen, man suchte nach mir und verband mir die Augen.
Ich glaube, in keinem Sommer hat es so viel geregnet, wie in jenem Sommer nach dem aufregenden Geburtstag und der Abschiedszene mit der Horky. Wir waren in einem großen Berghotel und ich spielte mit russischen und französischen Kindern im Lesezimmer und in der Hall. Wir rannten fortwährend den Erwachsenen zwischen die Beine, verschleppten die illustrierten Zeitungen und hatten Zank mit Kellnern und Liftboys. Eines Morgens wachte ich spät auf, wandte mich um, und Beas Bett war voll Blut.
Ich wagte kaum zu atmen. Vor dem Fenster hingen die Wolken wie schmutzige Leinenfetzen. Nun, ich hatte ja schon in der Schule davon gehört. Aber trotzdem — es war entsetzlich.
Da kam Bea herein. Sie drehte die Stehlampe auf dem Nachtkästchen auf, dass das Licht mir schneidend in die Augen fiel, sagte: — Möchtest du nicht gefälligst aufstehen, und warf eine Ansichtskarte auf mein Bett. Eine Karte mit heißem trunkenen Himmel, blendenden Palästen und einem Schiff. Grete schrieb: — Wie geht es dir? Mir geht es gut.
Nachher streute ich mir ein wenig von Beas gelbem Sonnenbrandpuder, das noch unbenützt im Koffer lag, über die Hand. Es war Sand, gelber, hitzeduftender Sand.
Eine warme ferne Freude überrieselte mich.
Der erste Schultag in dem darauffolgenden Herbst aber brachte eine große Enttäuschung. Und mit dieser Enttäuschung ereignete »das« sich zum zweiten Mal, um dann wieder zu geschehen, immer wieder — gestern erst — aber nein, davon später. Ich schreibe ja dieses Buch, ich oder die Fremde, die im Spiegel steht und immer so erstaunt tut, jawohl tut, denn eigentlich weiß sie alles sehr genau, weiß, dass ich gestern erst unter der süßlich blauen geblümten Lampe ihm jenes breite Lächeln entgegen — ach Gott, wo bin ich schon wieder. Ich muss mich, wie heißt es doch, disziplinieren. Übrigens ein grässliches Wort. Ich habe mich wohl nie genug zu disziplinieren verstanden.
Ich wollte also von jenem Schultag sprechen, an dem Grete zum ersten Mal in all den Jahren nicht neben mir saß. Wir waren ja die ganze Zeit hindurch nie so sonderlich befreundet gewesen, aber neben mir gesessen hatte sie immer, so wie sie immer aus meinen Heften abschrieb, mir von ihrem Vater erzählte und mich anlächelte mit breiten Zähnen. Ich weiß nicht, ich weiß bis heute nicht, ob sie mich je lieb gehabt hat. Aber ich sah und hörte sie und das schien ihr genug. Außerdem hatten wir den gleichen Schulweg.
Heute aber, am ersten Schultag, es war kalt und winterneblig und die neuen Bleistifte rochen nach hartem Holz, heute saß sie plötzlich vor mir, gerade, dass ich das zartgoldene Flaumenhaar ihres Nackens vor Augen hatte, und neben ihr hockte frech und zottelig Anette, Anette mit den ewig nassen Lippen und den chinesischen Augen. Und Anette saß nicht nur neben ihr, sondern stieß sie auch ununterbrochen mit dem Ellbogen an und kicherte. Nur mit Mühe verbiss ich mir das Weinen. Onkel Max war gestern Abend auch nicht gekommen, obwohl er sich telefonisch angesagt hatte. Und neben mir saß Ulla, die Klügste und Hässlichste der ganzen Klasse, die beste Turnerin.
Warum hatte Grete mir das angetan? Wusste sie überhaupt, was sie tat? Ich hob den Kopf, eine große weiche Hand — war das die Hand von Onkel Max? — fuhr sanft, beinahe zärtlich unter meinen Sitz, hob mich ein wenig und schob mich um eine Reihe weiter nach vorne. Ich hielt den Kopf schief zur Seite geneigt und lächelte, ja ich lächelte mit breiten Zähnen. In meinen Augen funkelte rotes Licht, die Brauen verlängerten sich, ich dachte an einen Abend, blendend hell, mit tausendfältigen Kronleuchtern, Orchesterstimmen und warmem Parfüm. Ich fühlte, dass hinter mir etwas Dumpfes saß, etwas Wehes, Blutaufgerissenes, aber ich hüllte mich in den lauen Dampf eines Badezimmers mit Milchglaslampe und ich hörte wie Anette flüsterte: — Ich möchte auch so gern mal in die Oper.
Da knatterte eine Gewehrsalve, eine Kugel schoss mir in die Rippen — die Kinder lachten und Ulla hatte mir einen Stoß versetzt. Natürlich hatte ich wieder nicht gehört, dass man mich aufrief. Ich fuhr in die Höhe und in dem Glaskasten mit den naturhistorischen Präparaten links an der Wand stand bleich und mit entsetzten Augen die Fremde.
— Setzen, sagte der Lehrer.
In diesem Winter sprach ich mehr mit meinen Kameradinnen als je vorher. Nur an Grete ging ich stumm vorüber. Und sie wandte den Kopf ab, als hätte sie ein schlechtes Gewissen. Stunde für Stunde aber flimmerte vor mir der goldene Flaum des Nackens, leuchtend über dem selbstverständlich sitzenden Kleid aus bestem englischen Stoff.
Anette war das schwatzhafteste Ding der ganzen Klasse. Immer hatte sie Grete etwas zuzuflüstern, und ich sah Gretes gemeißelt zartes Profil sich ihr zuneigen, erstaunt, entsetzt und — oh ja, es war derselbe Ausdruck, mit dem sie in dem lilienweißen Brautkleid an seinem Arm in die Kirche schritt, mit dem ich gestern unter der süßlich blauen geblümten Lampe lächeln musste, als ich auf Gretes Sofa saß und er die Tür aufriss, jener Ausdruck, der ein Gesicht verzehrend weiß machen kann, wie ein mit unsichtbarer Schrift durchsetztes nacktes Papier, jener Ausdruck, der von nichts weiß und alles verrät — ach, warum sage ich es denn nicht gleich: lüstern lächelte sie, wenn Anette ihr ihre Geschichten erzählte. Lüstern, obwohl sie als Kostbarkeit in der Schulbank saß, von ihrer Mutter geliebt wurde wie das Leben selbst und unter reinlichen Milchglaslampen aufwuchs.
Bei Anette gab es hingegen nur bauchige rosa Lampenschirme, Maiskolben und Engelsbilder an der Wand, Seidentapeten und blutige Wäsche in der Blechbadewanne. Anettes Mutter hatte im Haus unten einen Frisiersalon, wo wasserstoffsuperoxydblonde Mädchen schwammigen Herren die Finger manikürten. Anette hatte nicht Geld genug für Butterbrote — Grete aß in der Pause immer weißes Kalbfleisch in ganz dünnen Scheiben auf ganz dünnen Brötchen — Anette besaß ein goldenes Puderdöschen, das zuunterst in der Schultasche steckte. Ihre Röcke waren etwas zu kurz, ihre Beine wie neugierige Stäbe, und wenn sie mit ihren chinesischen Augen lachte, sah man alle Zähne in dem riesigen Mund. Ihre Mutter gab viel auf gute Erziehung und alle Nachmittage ging Anette mit einer dürren Engländerin spazieren.
Ich weiß nicht, wie es kam, denn eigentlich gefiel Anette mir überhaupt nicht, aber eines Tages sagte ich ihr geschickt eine lateinische Verbalform ein und mittags ging ich dann in sie eingehängt nachhause. Neben uns ging Grete in einer weißen Pelzmütze, unberührbar und gleichgültig. Und da musste ich Anette mit einem Mal ein »Geheimnis« sagen. Ein Geheimnis! Wo nimmt man es her, wenn es Mittag ist, die Straßenbahnen klirren und die Luft ist grau von Staub. Aber ein Geheimnis musste ich sagen. Ich klammerte mich krampfhaft an Anette an, steckte meine Nase in ihren violetten Samtmantel, der nach Haarwasser und Puder roch, und flüsterte plötzlich: — Du, ich habe es auch schon gemacht.
Anette zwinkerte mich an mit ihren verschmitzten Chinesenaugen, ihr Mund war ein einziges rotes klaffendes Loch. Was sie sich unter meinen Worten vorstellte, weiß ich bis heute nicht, möglich, dass sie sich so wenig dabei dachte wie ich selbst. Jedenfalls presste sie heftig meinen Arm an sich und ich setzte halblaut und heiser noch rasch hinzu: — Du sagst es aber keiner Menschenseele, auch — und mit einer Kopfbewegung gegen Grete — ihr nicht.
Beim Mittagessen sagte Mama: — Was machst du heute für verzwickte Augen? Und Bea rief mir zu: — Reiß den Mund nicht so weit auf! Ich wurde rot. Das war das Geheimnis. Ich wusste ja nicht, worin es bestand, aber Anette wusste es. Und Anette warf den Kopf auf der Straße schief zurück, wenn sie mit ihrer Engländerin spazieren ging, dass Herren und Laufjungen ihr nachblickten. Und als ich mit meiner Bonne nachmittags spazieren ging, warf auch ich den Kopf schief zurück, neugierig und gleichgültig auf einmal, spürte ein paar plötzlich lebendige runde kleine Brüste und sah einen Mann an — ich weiß nicht, wie er aussah, vielleicht hatte er ein rotes Gesicht, aber es war ein Mann, der erste Mann in meinem Leben, obwohl ich doch Onkel Max so glühend liebte.
Und in der Nacht darauf wurde das wohlbehütete Leinen meines Elternhauses grau und struppig unter mir, die Kinderdecke zu heiß, das Zimmer voll erstickendem Atem. Und meine Finger wurden zu Polypen, roten gemeinen Polypen, mir fremd und schlüpfrig, neugierige Finger — Anettes Finger.
Am nächsten Tag aber nahm Grete in der Pause mich unter dem Arm, und in einer geöffneten Fensterscheibe, hinter der drohend und dunkel die Schultafel stand, beobachtete mich verzweifelt und furchtbar fremd, fremder denn je, die Fremde.
Ulla hatte eine sonderbare Schrift. Nicht zu rund, nicht zu eckig, nicht zu dünn und nicht zu dick, klar und selbstbewusst, gestreckt und in sich gehalten. Die großen Lettern schrieb sie in Blockschrift. Solange ich neben Grete gesessen hatte, zeigten auch meine Schreibhefte kindisch spitze, unregelmäßige Buchstaben. Bei Grete saßen die I-Punkte nie auf den Is und zwei-, dreimal in der Woche machte sie den Versuch, steil nach hinten gelegt zu schreiben, so wie Damen mit parfümiertem Briefpapier.
Eines Tages gab der Lehrer Ulla mit allen Zeichen der Missbilligung das Heft mit den deutschen Aufsätzen zurück. — Sowas hätte ich nicht von Ihnen erwartet!
Ulla warf einen Blick hinein. Ihr schmaler Mund mit den ineinander stolpernden schneeigen Zähnen zuckte kaum merklich. Als aber auch ich mein Heft zurück erhielt, nahm sie es schweigend an sich und schob mir dafür das andere zu.
Der Lehrer hatte die Hefte vertauscht, weil ich in Ullas Schrift geschrieben hatte. Ich schämte mich entsetzlich. Wie ein Dieb. Aber Ulla sprach kein Wort darüber. So war Ulla.
Eigentlich war sie mein erster rein konventioneller Verkehr. Wir sprachen nie von etwas anderm als von Schulbüchern, Federstielen und Stundenplänen. Sie hatte ein außerordentlich weißes Handgelenk, durchsichtig wie Porzellan, aber grobe, rotgescheuerte Hände. Es hieß, dass sie Vater und Brüdern die Wirtschaft führte. Bei ihr zuhause war noch keine von uns je gewesen.
Eines Tages war Grete nicht da. Anette wandte sich flüsternd um und flüsterte mitten in der Zeichenstunde mir und Ulla zu: — Ihre Mutter ist sehr krank.
— Meine Mutter ist schon lange tot, sagte Ulla darauf beinahe laut mit gehässigen Augen. Diese Augen ließen mich immer an Wasser denken, an blaues, eisiges Wasser. Und ich war empört, dass Ulla das so gerade hinaus, so schamlos sagte. Denn Gretes Mutter — Gretes Mutter — eine Wolke von rosa Dunst, flimmernden Spitzen und süßer Sicherheit unter Milchglaslicht. Unter Milchglaslicht musste Grete sein. Und die Milch aus den breiten guten Brüsten ihrer Mutter war süß gewesen — blütensüß.
Die Beine unter der Bank wurden mir starr und kalt. Ich spürte die Schuhe nicht mehr. Alle Kraft und Lebendigkeit meiner Schenkel strömte zusammen auf Gretes leerem Platz, ich sah vor mir den goldenen Flaum des Nackens, der Schultern zarte Linie —
Ich musste an Onkel Max denken, der Gretes Finger in seiner haarigen Hand gehalten hatte, unendliche Angst um Grete ergriff mich, kalte, sinnlose Angst, ich starrte hinein in die schwarze Tafel, die glatt und undurchdringlich war wie ein Sargdeckel ........
Grelles Klingelzeichen. Pause. Zehn Uhr.
Um zehn Uhr morgens war Gretes Mutter gestorben.
Die ganze Klasse kam zum Begräbnis. Mir war furchtbar übel, denn ich hatte zwei Tage lang kaum etwas zu mir genommen. Wenn jemand tot ist, kann man doch nicht essen.
Es war ein sonderbarer zerrissener Schmerz, der mich verfolgte. Ein Schmerz, dessen ich mich schämte. Was ging Gretes Mutter mich eigentlich an? Hatte ich sie doch kaum gekannt. Wenn nur Bea nicht merkte, wie mir zumut war.
Denn mir war, als hätte man mir ein Glied abgeschlagen, etwas furchtbar Lebendiges. Ich sah Grete vor mir, ohne Arm oder ohne Hintergrund, nach rückwärts versinkend in schwindelnde Leere, ich sah Grete verloren auf dunstigen Straßen und ich sah sie krank und fieberdurstend in einem fremden Bett.
Und dann sah ich sie wirklich, sah, wie sie schwarzverschleiert am Arm ihres großen schönen Vaters über die Friedhofsschwelle schritt, dem Sarge nach. Es war ein betäubend heller Märztag, die Vögel schrien wie besessen in der Linde neben der Kapelle, auf den Gräbern standen Tulpen und Hyazinthen, jemand weinte, Anette kicherte aufgeregt und Ulla biß sich in die schmalen Lippen. Ich starrte den Sarg an, der hoch über uns unter einem schwarzen Tuch getragen wurde —
Und auf einmal war ich ganz allein unter all den andern, den lebendigen, flüsternd bewegten und unter den windgeküssten Tulpen und Hyazinthen, ach Gott, ich wusste ja nicht einmal, welche Haarfarbe die Verstorbene gehabt hatte, welche Nase, welche Ohren, aber ich war doch allein, stumpf und abgesondert wie das tote Holz des Sarges, vereinsamt, verlassen, verraten.
Denn Grete, die eben eine Scholle in das offene Grab warf, war schlank und schön, blühend wie eine übermütige Friedhofsblume in all ihrer Trauer. Sie weinte sanfte Tränen, aber keinen Augenblick vergaß sie dabei, dass sie Grete war, dass alle auf sie blickten, dass das tiefe Schwarz wunderbar zu ihrer hellen Hautfarbe passte. Sie war unglücklich, o ja, gewiss, aber eine Woche später würde sie lachen, ein Jahr später tanzen — und da stand sie nun, sie, nur sie allein, Grete, während ein Stück ihres Lebens in der Erde versank. Und sie war mir fremd, fremder als sonst die Fremde im Spiegel. Beinahe hasste ich sie.
In der Straßenbahn merkte ich, dass Ullas gefrorene blaue Augen voll Wasser standen. Ich rückte ganz nahe an sie heran, möglichst weit weg von Anette, die mit schiefem Kopf und zwinkernden Augen um sich sah. — Kommt eine von euch mit zu Grete? fragte sie. — Nein, sagte ich, und dann wandte ich mich an Ulla: — Möchtest du mir nicht bei der mathematischen Aufgabe helfen? — Da musst du zu mir kommen, ich habe furchtbar viel zu tun.
Das war mir eben recht. Nur nicht nach Hause, wo die grelle Nachmittagssonne jetzt auf die große Stehuhr fiel, wo Bea fragte: — Wie wars? und die Mädchen faul und ausgangsüchtig mit Stopfarbeit in der Küche herumsaßen. So kam ich also zum ersten Mal zu Ulla.
Ulla wohnte in einem niedrigen Haus. Ein schwarzer Hof mit kahlen Bäumen lag vor dem Eingang. Ihr Vater war Arzt. Schon im Stiegenhaus roch es nach Äther und dergleichen. Es mochte auch Jod dabei sein. Aber das Vorzimmer mit den verschossenen roten Plüschmöbeln und den uralten Fliegenden Blättern auf dem Tisch — es diente auch als Wartezimmer — war so arm, so furchtbar arm, dass ich zusammenzuckte, als hätte man mich eben mit einer nicht ausgekochten Injektionsnadel gestochen.
Ulla warf die Lippen auf. Am liebsten hätte sie mich fortgeschickt. Das wusste ich, obwohl ich ihr in das Wohnzimmer folgte, in dessen einer Fensterecke ein Operationsstuhl stand. Ich wusste es, aber ich blieb.
Das war niederträchtig, war gemein. Ich bin überhaupt sicher oder höchstwahrscheinlich eine schlechte Person. Neugierig bis zum Wahnwitz. Ein Vampyr. So wie ich jetzt wissen muss, wie — ja, wie er küsst, wie ich alles auskosten muss, was die andern kennen, so musste ich damals wissen, wo Ulla des Nachts schlief. Ein Blick auf das schwarze Ledersofa genügte.
Ich bin mir gleich geblieben. Es war schon immer dasselbe. Mit der Horky hat es angefangen. Dann kamen die andern. Auch Ulla. Bin ich doch vor einer Woche genau wie sie mit ihm vor dem Haus auf- und abgegangen, während Grete oben in ihrem samtblauen Schlafrock von einem Zimmer ins andere rannte, die Vorhänge zupfte und das Teewasser verkochen ließ. Aber sie wusste zu lächeln, als er die Treppe hinauf kam, zu lächeln mit breiten durchscheinenden Zähnen, so wie ich zu lächeln wusste, als er mich heute morgen telephonisch anrief, wie ich in die Telephonmuschel hinein zu lächeln wusste, breit und hell, voll süßen Vertrauens — Gretes Lächeln.
Verdammt nochmal — dieses Lächeln tat seine Wirkung. Gretes Wirkung.
Ich bin ein Ungeheuer. Grete hält mich sogar für eine Dämonin. Sie meint, ich werfe Schlingen aus nach ihrem —
Und Anette hält mich für eine kalte Kokotte, Ulla aber für eine liebende Gans.
Da soll der Teufel sich auskennen.
Der Teufel — ja vielleicht der Teufel.
Ich muss aber zurück, zurück, zurück! Sonst gibt es ein Durcheinander, eben das Durcheinander, zu dem es nicht kommen darf, das Tohuwabohu, in dem alles erstickt, Chaos und Vernichtung.
Ich stand also in dem Wohnzimmer oder Ordinationszimmer, wie man es nennen will, und in dem hohen Instrumentenkasten an der Wand stand zwischen Glasschalen und Pincetten die Fremde. Sie war sehr dunkel. Vielleicht war auch das Zimmer sehr dunkel. Es lag im Schatten.
Mit einem Ruck wandte ich mich Ulla zu. Sie schien so groß unter der niederen Decke, wie absichtlich gestreckt. Sprungbereit, als wollte sie jeden Augenblick zum Fenster hinausspringen in die Welt. Die ganze Enge dieser bitterarmen Umgebung hatte eine solche Sehnsucht in ihr erzeugt, dass die Muskeln unter der porzellanhellen Haut unausgesetzt in fliehender Spannkraft gehalten wurden. Das schwarze Haar trug sie noch kürzer als ein Junge.
Eine Minute später trat ein Junge ins Zimmer. Er war ebenso groß wie sie, hatte dieselbe jüdische Hakennase, aber eine von Pusteln verunreinigte Haut. Es war Ullas jüngerer Bruder.
Sie hatte noch zwei andere Brüder, aber die bekam ich nicht zu sehen. Diese Brüder waren einander sicher alle sehr ähnlich.
Ullas Bruder also verbeugte sich furchtbar linkisch und fragte nach ein paar höchst überflüssigen Redewendungen sofort nach Anette.
— Sie kennen sich aus der Tanzstunde, sagte Ulla und zog die Lade des schwarzen Ledersofas heraus, um ihre Bücher hervorzukramen.
— Famoses Mädchen, sagte Ullas Bruder und schnalzte dabei mit den Lippen. Das galt wohl Anette. Ich fand auch das ungeheuer überflüssig, legte aber den Kopf zur Seite und zwinkerte mit den Lidern. In dieser Sekunde drehte Ulla, um besser sehen zu können, die schirmlose Riesenbirne über dem Operationsstuhl an. Das Licht schnitt mir in die Augen, tat mir plötzlich und entsetzlich weh.
Ulla betrachtete mich mit ihren Eiswasserblicken: — Mach rasch! Ich habe nicht viel Zeit. Da wusste ich, dass sie den Männern, mit denen sie lebte, diesen fremden Männern das Abendbrot bereiten musste. Sicherlich etwas recht Pappiges, Ausgiebiges. Sie war ja so arm.
Ich glaube, der Frühling, der nun folgte, muss furchtbar heiß gewesen sein. Grell wie August und besonders laut. Die Fenster der Klasse standen immer offen, Straßenlärm kollerte in die lateinischen Vokabeln, die mathematischen Lehrsätze. Die Mädchen trugen alle hautdünne Blusen, etwas verschwitzt unter den Achseln. Sie bekamen plötzlich zu starke Brüste und kräftige Hüften, turnten und tanzten in den Pausen und rochen nach stickigem Dampf.
Bei mir war es wohl auch nicht anders, obwohl ich nicht wusste, wie ich aussah, denn ich mied in jener Zeit ängstlich jeden Spiegel, jedes Schaufenster, jede Scheibe mit dunklem Hintergrund. Grete hatte sonderbare amerikanische Schuhe mit Lederriemchen und besuchte — sie war evangelisch — einen eigenen Religionsunterricht. Ulla schrieb Gedichte auf ihre Löschblätter, Sonette und Terzinen, strenge Form und harte Reime, dazwischen aber hockte sie stundenlang in Parks, betete zu roten Kastanienkerzen, strömendem Goldregen, und zerbiss die jodoformduftenden Kissen ihres harten Lagers auf dem Ledersofa. Sie litt an ihrer Jugend wie an einem wütenden Fieber, während Anette mit pickelnarbigen Jungens abends in dunkeln Haustoren zusammentraf.
Dabei liebte ich Onkel Max, der beinahe jeden Abend zu uns kam. Bea hatte sich verlobt. Mit einem Herrn von. Goldene Brillen hatte der, war reich und besaß eine Fabrik.
Mitten hinein in alle die Hitze und Unruhe kam Doktor Alexander. Unser alter Geschichtslehrer, der immer auf die erste Bank spuckte, wenn er Jahreszahlen aussprach, war gestorben. Und Doktor Alexander kam an seine Stelle.
In der ersten Stunde kicherten alle. Er war blond, eigentlich zu blond, und sah aus, als käme er eben von einer Gletschertour. So braun war er. Mit gelbgerauchten unregelmäßigen Zähnen.
Er war mir so gleichgültig wie der Schuldiener und die Kohlenkisten am Gang draußen. Nur dass Gretes Nacken mit dem schimmernden Flaum mir ganz sonderbar weiß erschien, wie gemeißelter Marmor mit der schwarzen Tafel als Hintergrund. Und sie war die Erste, an die er eine Frage richtete, und er lächelte, als sie mit ihrer heiseren Stimme eine verkehrte Antwort gab. Worauf sie sich setzte wie eine Dame.
Ulla sagte ein paar Tage später hart und rücksichtslos vor mir zu Anette: — Mein Bruder hat gestern abends geweint. Warum hast du ihn aufsitzen lassen? Anette zuckte die Achseln, zwinkerte mit frechen Chinesenaugen. — Du, sagte Ulla drohend, ich sage dir, er ist mein Bruder.
In diesem Augenblick trat Doktor Alexander in die Klasse (wenn ich jetzt zurück denke, so ist mir, als hätten wir damals nur Geschichtstunden gehabt) und Anette schlüpfte auf ihren Platz. Sie hatte eine neue grellgrüne Krawatte.
Ulla ballte die Fäuste. Meine Nägel wurden weiß.
Bea sollte bald heiraten. Den ganzen Tag hatten sie und Mama mit der Ausstattung zu tun. Der Herr von streichelte mir die Wangen und sagte, ich sei ein Käfer. In der Nacht hörte ich einmal ein sonderbares Geräusch in Beas Zimmer. Ich stand auf und lauschte an der Türspalte. Mir war dabei, als durchstöberte ich ihren Wäschekasten mit den Briefen und Photographien.
Ja wirklich, sie schluchzte. Schluchzte! Bea, die Braut. Braut — was für ein grässliches Wort. Mir fiel ein, dass die goldenen Brillen des Herrn von immer bespritzt schienen wie mit feinster Zahnpasta. Ich musste an seine graugestreiften Hosen denken, sah plötzlich ein Closett vor mir in einem fremden Hotel. Voll Entsetzen schlich ich in mein Bett. Das Nachthemd klebte an mir, nass von kaltem Schweiß.
Was hatte nur Doktor Alexander mit alledem zu tun? Er konnte Bea ja nicht helfen. Grete fehlte in letzter Zeit häufig und dann rief er sie auf und war bestürzt, dass sie nicht da war. Obwohl er schon in der Tür nach ihrem leeren Platz hingesehen hatte.
Sie aber lag in ihrem Bett, die Sonne strömte durch das riesige Fenster, eine blassblaue Daunendecke wärmte den kühlen müden Leib, auf dem Nachttischchen tickte eine winzige Weckuhr mit silbernen Zeigern und Punkt elf sah Grete mit sicher lächelnden breiten Zähnen von dem schön gebundenen Buch auf, das sie in Händen hielt. Jetzt trat er in die Klasse, merkte dass sie nicht da war, rief sie auf ........
Während ich Ullas kurze Atemstöße neben mir spürte, während ich sah, dass Anette sich rasch noch die neugierige kleine Nase puderte. Und Doktor Alexander, der eben erst vergeblich Grete aufgerufen hatte, rief Ulla auf, Ulla, die immer alles wusste, er lehnte sich lächelnd gegen das offene Fenster und mir war, als wachse Gretes zartblaue Daunendecke ins Unendliche über meinem Leib, als füllte sie mir die Ohren mit Watte, erstickte mir mit Krankenduft die Kehle, und mein Bauch quoll auf, riesengroß und bedrohlich, bewegt von Leben, das nicht mir gehörte, von fremden Gliedmaßen, Wasser und Blut —
Da rief Doktor Alexander meinen Namen. Und ich antwortete mit Gretes Stimme. Etwas gänzlich Verkehrtes.
Oh Gott nein, das, eben das hätte ich nicht schreiben sollen. Ich will doch nur erzählen, was geschehen ist. Ich muss nicht schon sagen, was sein wird, was niemals sein darf.
Denn in jenen Schulstunden, in denen Grete unter der blassblauen Daunendecke mit geröteten Mandeln still und pflichtbewusst in ihrem Bett lag, während Doktor Alexander sie vermisste, in jenen aufgeregten Stunden eines ersten Lebensfrühlings, in denen Ulla Gedichte schrieb auf Löschpapier und Anette mit ihrem goldenen Puderdöschen spielte, da war ja alles, alles schon geschehen, was, wie ich weiß, geschehen wird. Um Himmelswillen, gibt es denn keine Hilfe! Ich, ich, ich, die dieses Buch jetzt schreibt, denn das bin doch ich —
Ich darf nicht aufblicken von dem, was ich schreibe. Denn im Fenster neben mir spiegelt sich die Schreibtischlampe und bei ihr sitzt mit gesenktem Kopf — die Fremde!
Weiter, weiter schreiben! Schreiben, was gewesen ist!
Nach diesem Doktor-Alexander-Frühling war es plötzlich Sommer geworden. Ferien. Meine Eltern hatten beschlossen, mit mir und Bea an die Nordsee zu reisen. Der Herr von sollte nachkommen und im Herbst sollte dann die Hochzeit sein.
Am letzten Schultag — es war so heiß, dass Doktor Alexander in Hemdärmeln unterrichtete, und selbst der Direktor hätte da nichts einwenden können, ein graublaues Sporthemd trug Doktor Alexander — am letzten Schultag schien Grete so blass wie die Lilien, denen die Weiber am Markt den Pollen aus dem Leib reißen, weil sie sonst alles schmutzig machen. Es bleiben aber immer ein paar gelbe Flecken. So blass war Grete. Ich beugte mich vor zu ihr, atmete einen leisen gelblichen Schweißgeruch, und einen Augenblick lang war mir, als würde ihr breiter Mund mit den durchschimmernden Zähnen sich öffnen, um mir zu sagen, dass —
Nein, Frauen wie Grete sprechen nicht, sprechen nie, auch wenn sie noch kleine Mädchen sind und gar nicht ahnen, was sie in sich tragen. Mich aber würgte ihr Schweigen in der Kehle wie ein Klumpen, jener gewisse Klumpen, von dem Ulla mir unlängst erzählte, er sei typisch für alle Hysterikerinnen —
Ulla, die an jenem letzten Schultag das Handgelenk mit gelben Kalikobinden verbunden trug, sie sagte, eine Katze hätte sie gebissen. Und Anette ging mit einem samtroten Stammbuch zu dem Katheder und ließ Doktor Alexander hineinschreiben. — Bitte auch die Adresse, sagte sie, und ich schämte mich grässlich, denn ein Stammbuch war was für ein Ladenmädchen und nicht für eine Gymnasiastin. Anette aber hatte auch manchmal deutsche Mädchenbücher unter der Bank.
— Dieser Sommer wird kein Ende nehmen, sagte Ulla, als ich ihr auf der Straße die Hand zum Abschied reichte. Die Pflastersteine verbrühten uns die Sohlen. Sie ging nachhause in die kellerkühle Wohnung mit dem Operationsstuhl. Blieb dort den ganzen grellen Sommer lang ...
Oh, dieser Sommer war der schönste, der glühendste meines Lebens. Meines Lebens, jawohl, denn eigentlich hatte dieses mein Leben, wenn es bis dahin auch angenagt war von den Fabrikschicksalen der Horky und dem körperlosen Leiden von Gretes Mutter, dieses mein, mein eigenes Leben hatte in jenem einzigen herrlichen grünschäumenden salzigen Nordseesommer ein Ende. Was übrig blieb, war Grete, Ulla, Anette und vielleicht auch die Fremde in ihren ewigen Spiegeln, ich aber, ich versank einmal mit dem Glutballon von Sonne im westlichen Meer, während die Gäste auf der Hotelterrasse Hummer aßen —
Ich versank in den Nachmittag, an dem Onkel Max für immer meinen Blicken entschwand. Für immer. Ist das auszudenken. Aus-zu-denken.
Ich habe ihn bis heute nicht mehr gesehen.
Ach, es war so hell, ich glaube, es war viel zu hell. Im flimmernden Sand blendeten Milliarden Muscheln, hell war die Frische der Wellen, wenn sie einem den Rücken prügelten, hell waren die Strandkörbe, die Badewägelchen auf ihrer rollenden Flucht vor der Flut, hell die Kleider, alle die Kleider und die Musik der Kurkapelle. Kühl die Nächte.
Ich schlief mit Bea in einem Zimmer. Ihr weißer fremder Leib wälzte sich im Bett an der andern Wand. Hinter dem hohen Fensterkreuz streckte sich ein schmaler feiner Kirchturm in den Himmel. Sterneumzittert.
Und ich konnte nicht die Augen schließen. Die salzige Helligkeit des Tages tanzte um mich in dem schmalen Hotelzimmer mit den Mahagonimöbeln. Ich wusste auf einmal, dass Bea eine blendende Haut hatte und schön war, schön wie die Frauen auf alten Bildern, denen ihre Ritter Keuschheitsgürtel anschmiedeten, ehe sie hinauszogen ins Heilige Land.
Ich freute mich, dass sie meine Schwester war.
Ja richtig, in diesen ganzen Wochen dachte ich überhaupt nicht an Grete, Ulla, Anette, an die Schule oder Doktor Alexander.
Ich muss sehr glücklich gewesen sein und änderte meine Frisur. Am Nebentisch im Speisesaal saß ein englischer Knabe. Wir machten Spaziergänge die endlosen Dünen entlang, kamen in frischgewaschene und buntbemalte holländische Dörfer.
O Glanz der muschelschillernden Nachmittage!
Nein, es war unmöglich, es war ganz unmöglich, dass der Herr von kommen sollte. Er wurde schon seit einer Woche erwartet, aber natürlich kam er nicht, weil er eben in diese ganze helle Klarheit einfach nicht kommen konnte. Nicht kommen durfte. Denn nun wusste ich es: Er war stickig. Stickig in seinem Reichtum, seiner banknotenknisternden Macht, stickig in seinen graugestreiften Hosen. Ich lächelte vor mich hin, wenn Mama und Bea von seiner Ankunft sprachen. Dass sie nicht spürten, dass er hierher nicht kommen konnte! Lächerlich!
Bea sprach übrigens nie anders von ihm, als wäre er ein Stück ihrer Ausstattung.
Zwischendurch kam eine Postkarte mit einem Tintenklecks. Von Anette. — Weißt du auch, wo Er ist? In der Schweiz, im Berner Oberland.
Ich warf die Karte in den Papierkorb des Lesezimmers.
Der Herr von sollte kommen. Ganz gewiss. Heute oder morgen. Bea ließ den Friseur des Hotels zu sich bestellen und zankte mit dem Hausdiener, weil ihre Schuhe nicht gut genug geputzt waren.
Abends zeigte der Oberkellner mitten im grellen Speisesaal plötzlich auf unseren Tisch. Bea fuhr auf. Sie war rot geworden. (Ich hatte sie noch nie rot werden gesehen.) Und auf uns zu kam Onkel Max.
Er setzte sich an den Tisch, als wäre er eben erst aufgestanden gewesen, um sein Taschentuch zu holen. Ja, ja, auf der Durchreise nach England, voraussichtlich zwei oder drei Tage.
Ich kicherte in mich hinein. Selbstverständlich hatte Onkel Max kommen müssen und nicht der Herr von. Ich wollte ihm meine Muschelsammlung zeigen und —
Papa saß mir gegenüber. Er hatte dieselben hohen etwas eingedrückten Schläfen, dieselbe ein wenig zu steife Rückenhaltung wie Onkel Max, dieselben vorsichtigen Bewegungen der Ellbogen. Natürlich, sie waren ja Brüder. Ich hatte das noch nie gewusst, immer nur gehört. Aber wenn Papa nicht so grau und alt wäre, nicht so viel mit Bankgeschichten zu tun hätte und für Mama und Bea sorgen müsste —
Onkel Max, der könnte viel besser für mich sorgen, der wüsste genau, was ich brauche. Vor ihm müsste ich mich nie schämen. Er würde verstehen, dass ich eine Muschel lieben kann, eine gewöhnliche wertlose Muschel im Sand.
Ich sah auf zu ihm. Natürlich saß er neben Bea. Seine weißen Finger spielten mit weißen Brotkügelchen, und Bea sah ihn an mit hellen Blicken, als hätte sie seinetwegen heute morgen den Friseur bestellt. Ihre Haare dufteten goldig.
Sie war froh, dass er da war. Und auf einmal wusste ich nicht nur, dass Papa und Onkel Max Brüder, sondern auch, dass Bea und ich Schwestern waren. Wir waren einander verwandt, furchtbar verwandt, und so nahe gerückt, als gäbe es keine Luft zwischen unseren Gesichtern. Schüsseln klapperten, ein Pfropfen knallte, Mama saß fern und kühl zwischen uns, dachte vielleicht an den Herrn von —
Und wir waren einander gefährlich nahe ...
Was sich in der Nacht darauf ereignete, war mein Tod. Mein früher Tod. Bis dahin war ich eine Schulkollegin von Grete, Ulla und Anette gewesen. Aber dann —
Eines Tages naht die Stunde und eine von ihnen kommt und nimmt mir den Bleistift aus der Hand und schreibt weiter — während Bea glücklich ist mit ihrem Herrn von, drei Kinder hat, drei Kinder von ihrem Herrn von, und Geld hat, ganze Haufen, und Silber und Porzellan, alles gezeichnet mit von.
Meine Schwester.
Herrgott, wo bin ich? Noch halte ich den Bleistift in der Hand. Das Zimmer ist dunkel. Mahagonimöbel. Der Kirchturm reckt sich wie ein unendlicher spitzer Finger vor dem hochkreuzigen Fenster, ein gelber Mond klebt daneben, flach wie ein Karton, keine Luft ist zwischen ihnen, zwischen dem Turm und dem Mond und dem Zimmer und den Mahagonimöbeln, zwischen Beas Bett und meinem Bett.
Selbstverständlich kam Onkel Max herein. Einmal, plötzlich, mitten in der Nacht, in dieser Nacht. Selbstverständlich dachten sie, ich schlafe, oder sie dachten auch gar nicht an mich, ich war ihnen viel zu gleichgültig.
Mir aber glühten mit einem Mal alle Glieder. Meine Haut war weich geworden, alle Wärme, die das grüne Licht des Meeres in sie eingestrahlt, strömte aus in die dünne Decke des Hotelbetts. Ein Ruck — und ich lag ganz nackt, das brave Kindernachthemd war mittendurch gerissen —
An der Fensterscheibe klebte der Mond, sinnloser gelber Pappendeckel — und sinnlose heiße und heisere Stimmen. Auch meine Stimme war heiß und heiser .........
liebe dich, sagte jemand. Heiß und heiser.
Keine Luft mehr zwischen uns. Zwischen mir und Onkel Max. Zwischen mir und Bea. Bea und mir.
Denn jetzt lag ich in seinen Armen, spürte alle Glut seiner ausgehungerten Küsse, weiche Hände voll verwandter Zärtlichkeit — Papa — Papa — so hilf mir doch — mein Leib, mein heller, mein reifer Leib bäumte sich — was ist denn los — oh Gott, ich — ich trage ja keinen Keuschheitsgürtel — warum, warum küsst du mich nur — nur — nur — nur.
Die Tür hatte sich plötzlich geschlossen, das Schloss hatte dabei ein wenig geknarrt, das Zimmer war voll rauchigem Dunst, der Kirchturm steckte in rosiger Watte, wo war ich denn?
In meinem Bett lag ein hageres braunes ausgedurstetes Kind mit zerrissenem Hemd und trockener Kehle — die Fremde.
Und jemand weinte. Bea. Oder ich. Und jeder Stuhl schien unerreichbar weit entfernt.
Am nächsten Morgen beim Frühstück — die weiße Sonne spiegelte sich in der polierten Teekanne — lag eine Postkarte auf meiner Serviette. Ulla schrieb: Ich arbeite viel für den Winter — Hast du vielleicht mein Geschichtsbuch mit eingepackt?
Nachmittags verreiste Onkel Max. Wir begleiteten ihn zum Dampfer. — Ich komme wohl bald wieder. Auf der Rückreise. Vielleicht in ein paar Tagen.
Die Sirene heulte. Er hielt einen schwarzglänzenden Handkoffer in seiner Rechten. Das Wasser schäumte in betäubendem Gischt. Das grüne Licht des Meeres blendete kalt. Menschenstimmen, flatternde Tücher, Matrosen. Onkel Max winkte uns noch einmal zu. Ich wandte mich ab. Meine Augen taten mir weh, furchtbar weh.
Seither habe ich ihn nie mehr gesehen. Nie — mehr — gesehen.
Abends saß der Herr von neben Bea an unserm Tisch. Er nannte mich Käfer und Bea lächelte. Natürlich lächelte sie. Natürlich musste sie ihn heiraten. Seine Blutsverwandten darf man auch nicht heiraten, da kann man leicht blinde Kinder bekommen. Das hatte ich in einem Roman gelesen.
Als es am nächsten Tag stürmte und regnete, hielt ich eine Postkarte von Grete in der Hand: Ich freue mich schon wieder auf die Schule. Meinst du, dass wir unsere alten Lehrer behalten werden?
Ich starrte in die wütenden Wolkenfetzen hinaus — Gretes sanfter flaumiger Nacken, Doktor Alexander, Ullas kalte Augen im porzellanharten Gesicht und Anettes Puderdöschen —
Onkel Max war fort. Bea heiratete den Herrn von.
Und ich gehörte wieder zu ihnen, so wie ich heute noch zu ihnen gehöre.
Heute, ja heute war eben erst ein furchtbarer Tag. Ich kam von meiner Arbeit — ein Glück, dass ich nur mit Büchern zu tun habe, wären es Menschen, ich würde sie erdolchen, obwohl ich gewiss keine Mörderin bin, nein gewiss nicht.
Ulla, die könnte aus Überzeugung jemandem Blausäure in den Morgenkaffee schütten, und Anette hätte es so nebenbei, hätte es nachmittags schon vergessen, blinzeln würde sie höchstens —
Grete hingegen würde sich nie zu so etwas hergeben.
Ach Gott, was fasle ich da, ich wollte doch von heute erzählen, obwohl das gar nicht in Ordnung ist, es sollte der Reihe nach gehen und eben war ich noch bei Doktor Alexander — nun heißt er Axel und ist Professor, als ob das nicht gleich wäre, ganz und gar gleich!
Eigentlich ist es ja immer dasselbe, was ich da schreibe, die alte Geschichte von Schulzeiten her, dieselbe Geschichte, stets nach demselben Schema entworfen — und dieses Schema bin ich, Grete, Ulla und Anette.
Ich glaube, ich sehne mich nach Onkel Max.
Ich sehne mich vielleicht auch nach der Horky.
Ich kam also von der Arbeit — wie immer, wenn etwas ganz unerträglich gewesen ist, hockt die Fremde im Spiegel, ich werde diesen Spiegel umdrehen — ich kam von der Arbeit mit verstaubten Fingern, es ging zum Mittagessen, es regnete ein wenig und vor der Universität begegnete ich ihm. Schon wollte ich auf ihn zugehen, da lächelte er, winkte mir zu, befehlend, selbstverständlich, als ob ich seine Frau wäre —
Ich, seine Frau — wie kommt er denn dazu!
Ulla würde sich so etwas nie gefallen lassen, natürlich, sie ist selbstständige Assistentin, unterschreibt Rezepte.
Nicht einmal Anette dürfte man so winken, obwohl sie nichts kann, als mit ihrer Metallsaitenstimme gemeine Lieder singen.
So winkte er mir, ich ging auf ihn zu, gleich wird er fragen, ist die Suppe fertig, die Suppe! Warmer Fleischgeruch, vermischt mit Sellerie und Puri stieg mir in die Nase, mir wurde übel, ich wandte mich ab, rannte nachhause, noch auf der Treppe musste ich mich übergeben —
Oh, bei Gott, es kann ja nicht sein, wir haben uns doch bloß geküsst, furchtbar, verzehrend, rasend, beißend, blutig geküsst ........
— Man muss sich nur sehr viel küssen, dann kommen die Kinder, hatte Anette einmal vor langer Zeit zu mir gesagt. Es war in einer Pause gewesen, sie trug eine schwarze Schulschürze, mit Rot bestickt, ihre Lippen waren rot, ich glaube, sie lutschte eben an einem roten Bonbon, und so klein war sie, dass sie auf einen Stuhl steigen musste, um die Tafel mit dem nassen Schwamm bis oben zu waschen.
Sie war in dieser Woche Klassenordnerin.
Das alles ist blanker Unsinn und es ist gänzlich überflüssig, dass ich mich heute daran erinnere.
Anders ist die Geschichte mit dem Mädchen bei Ullas Vater. — Mit der Suppe hat es angefangen, da wurde mir immer übel, sagte sie, so war es auch das erste Mal, daran konnte ich es gleich erkennen.
Es war Winter und sehr kalt, knapp vor der großen Gemeinheit war es, o ja, das stimmt, es war das letzte Jahr mit Doktor Alexander, und ich war schon erwachsen genug, um alles zu verstehen, alles, alles.
Ich kam zu Ulla, wahrscheinlich wieder wegen einer mathematischen Aufgabe oder etwas dergleichen, denn ich musste immer eine Ausrede gebrauchen, wenn ich sie besuchen wollte. Sie sah mich dann an mit ihren Eiswasseraugen, die alles wussten, die genau wussten, wie neugierig ich war, auf das schwarze Ledersofa, die grelle Birne über dem Operationsstuhl, den pickelnarbigen Bruder.
An diesem Nachmittag steckte der Hof mit seinen schwarz verkrampften Bäumen in stickigem Schneenebel. Wolkige Watte mit einem rosigen Stich. Die Kehle war einem damit verstopft.
Als ich durch das Vorzimmer mit den verschossenen roten Plüschmöbeln ging, saß das Mädchen dort ganz auf der Kante von so einem Fauteuil, einen schwarzen Mantel hatte sie an und zupfte an den fleckigen Fliegenden Blättern.
Ulla zog mich gleich in das Zimmer der Brüder, auf dem Fußboden lag eine blaugestreifte Matratze, der Eisenofen rauchte, ein Reißbrett, in dem noch der Zirkel steckte, stand gegen den Schrank gelehnt. Und noch ehe ich den Mund auftun konnte, wurde der Schlüssel im Schloss des Sprechzimmers — oder war es das Speisezimmer? — umgedreht, wir waren eingesperrt in dem schmalen Kämmerchen mit den drei Feldbetten.
Das alles wäre nicht weiter auffallend gewesen, wenn Ulla nicht auf einmal ausgesehen hätte wie unser Kinderfräulein, als es eines von Mamas Ohrgehängen gestohlen hatte. Sie saß mit krummem Rücken auf der Matratze, ihr Gesicht leuchtete wie weißer Stein in der rosigen Dämmerung, vor dem Fenster reckte sich ein Ast, wie ein dicker schwarzer Arm, und Ulla redete, redete, redete sogar von Doktor Alexander, was sie sonst nie tat. Ich aber hörte trotzdem die Geschichte von der Fleischsuppe.
Ich hatte Angst, schloss die Augen, musste an Stricknadeln denken, lange grausame Metallnadeln — dann nur mehr Flüstern — jemand stöhnte......
Ich ging gleich fort, nachdem das Schloss zum Operationszimmer wieder aufgeschlossen worden war. Über dem weißen Stuhl brannte grell die große nackte Birne, die Plüschsessel im Vorzimmer waren verrückt, ein paar Fliegende Blätter lagen auf der Erde, das Mädchen war fort und auf der Straße schwebten große schmelzende Flocken durch die graue Winterluft.
Am nächsten Tag kam Ulla zu spät in die Geschichtstunde. Ihre schmalen Lippen waren aufgequollen wie von Bissen. Sie hatte eine Zeitung in ihrem Atlas stecken — und ich riss meine Augen auf, fühlte sie erstarren in blauen Eiswasserblicken, meine Hände wurden lang, zitterten.
Ich las:
.......gegen sieben Uhr abends..... stürzte die Kellnerin G.E. ...... plötzlich unter schweren Blutungen zusammen....... Spital gebracht.........verbotener Eingriff--------verweigerte die Aussage......... gegen Mitternacht...... gestorben.......
G. E.......Ulla wusste es, ich wusste es diese G. E. war das Mädchen mit der Fleischsuppe gewesen. Und da hatte sie noch an den Fliegenden Blättern herumgezupft. G. E... Wie sie wohl geheißen haben mochte. Gisela, Gertrud, Grete — nein, Grete gewiss nicht, vielleicht aber Genofeva oder gar Griseldis.
Die Horky hat auch schon eine große Tochter. Eine Tochter mit schütterem blonden Haar und alten Arbeitshänden, ein Mädchen, nach dem jeder greift unter den rauchigen Ziegelschloten —
Ach du lieber Himmel, wer hilft diesem Mädchen!
Und wer hilft mir, wer hilft überhaupt! Noch spüre ich den Geruch der Suppe, heute Mittag vor der Universität, und dann musste ich mich übergeben im Treppenhaus — Oder war es ein Badezimmer mit weißen Kacheln, Toilettewasser und Korkmatte? Trug ich nicht einen — einen hellen Samtschlafrock über — über —
Nein, nein, nein! Das war nicht ich. Und eben davon darf ich nicht schreiben. Ich, ich, ich liebte Onkel Max, ich bin Bibliothekarin mit fixem Gehalt, sogar Alterspension, ich, ich ging in die Schule zusammen mit Grete, Ulla und Anette, ich lernte wohl auch bei dem schönen Doktor Alexander Geschichte, Bergfarbe hatte er und verrauchte gelbe Zähne, ich war es, die die Gemeinheit beging, die die andern verriet —
Und wenn ich tausendmal weiß, wie ihnen dann zumute war, wenn ich es tausendmal empfunden habe, so war ich die Mörderin (Mörderin im Kleinen) und sie waren die Opfer.
Meine Opfer!
Das alles geschah, weil ich ihn liebte. Das heißt: Liebte ich ihn eigentlich? Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.
Und ich weiß heute nicht, ob ich ihn liebe. Das ist das Unheimliche, das Gefährliche.
Denn wenn ich, ich heute auf ihn zutreten könnte und sagen: — Komm mit mir nach Spanien oder nach Neuseeland — Wie einfach wäre das, wie selbstverständlich! Er käme zwar nicht, fällt ihm gar nicht ein, aber ich hätte eine unglückliche Liebe und das wäre auch gut.
So aber lächle ich, lächle wie Grete, sanft und mit breiten mütterlichen Zähnen, er erzählt mir von seinen Arbeiten, als hätte ich Ullas kristallklaren Verstand und zwischendurch zwinkere ich plötzlich, zwinkere mit Anettes Chinesenaugen, dass er nach mir greift, so — als wäre ich ein Straßenmädchen, das man zu besuchen gewohnt ist.
Aber die Fremde steht daneben, irgendwo in einer blankgeputzten Fensterscheibe, in einem Wasserkrug, unlängst sah ich sie sogar im Glas seiner Uhr, und sie sieht ihn nicht an. Ich glaube, sie liebt ihn nicht, will nichts von ihm wissen.
Wo bin ich schon wieder? Heute — ja heute —
Das alles hat hier nichts zu tun, gehört überhaupt nicht hierher. Ich habe nicht die Absicht, irgend eine komplizierte Liebesgeschichte mit Verrat und Ehebruch und dergleichen zu verfassen. Ich erzähle bloß von meiner Kindheit, meiner Jugend, ihren Schmerzen, ihren Kämpfen, ihren Irrtümern, und wenn das alles hier steht, gesetzt sogar den Fall, man druckt es schwarz auf weiß, also buchstäblich schwarz auf weiß, dann, nicht wahr, dann gibt es doch keinen Zweifel mehr, dass es auch wirklich meine Schmerzen waren, meine Kämpfe und meine Irrtümer.
Denn ich, nicht wahr, ich habe doch auch ein Recht auf das Leben, mein Leben, wenn es mir auch immer zwischen den Fingern zerrinnt wie Wasser. Ich liebe das Meer.
Doktor Alexander war der Schwarm der ganzen Klasse. Sehr einfach: Er war ein Mann. Er hatte weder Gicht noch Krampfadern noch Kartenpartien, noch eine Ehefrau mit aufgestecktem Rattenschwänzchen wie die anderen Lehrer. Am schönsten war er Montag. Denn dann hatte er Sonntag immer eine große Skitour gemacht, und wenn die Tür vor ihm aufging, dann zog es herein wie Bergluft und das Schulzimmer roch nach Schnee. Es roch auch ein klein wenig nach Schweiß, nach Stall und Wolle, aber das merkten die Mädchen nicht. Grete saß da, als wäre sie ganz erwachsen, als wäre ihr Mann gestorben, als müsste sie für drei Kinder sorgen und wartete auf Doktor Alexanders Rat. Ulla schob den Unterkiefer vor — das tat sie gerne, wenn sie besonders angestrengt nachdachte. Dachte sie an Johanna die Wahnsinnige, an die Eroberung von Mexiko oder auch an das Mädchen G. E.? Ulla wusste immer alles. Während Anette kicherte, verkehrte Antworten gab, die Jahrhunderte verwechselte und sich befriedigt wieder setzte, wenn sie ihn zum Lachen gebracht hatte. Er fuhr sich dann rasch mit dem Taschentuch über das Gesicht, als müsste er sich die Nase putzen, und alle waren furchtbar wütend. Nur ich musste eigentlich auch lachen. Ein kitzelndes schlüpfriges Lachen, das ich nur mit Mühe verbeißen konnte.
Es war ein sehr schmutziger Tag, der Schnee schmolz an den Fensterscheiben, die Dächer waren grau, die Leute auf den Straßen wateten wie in teigiger Schokolade. Hätte die Sonne geschienen, so hätte ich die Gemeinheit wohl kaum begangen. Es war übrigens Montag und knapp vor Semesterschluss.
Anette hatte in der vorhergegangenen Woche unter dem Katheder ein Notizbuch von Doktor Alexander gefunden. Darin standen die sieben Fragen, die er uns bei der schriftlichen Semesterarbeit zu geben pflegte, eingetragen.
Sie lud uns darauf für Sonntagnachmittag feierlich zu sich, gab uns in einem tortenrosa Kämmerchen mit Engelsbildern Schlagsahne mit Löffeln zu essen, es roch dabei abscheulich nach Brillantine und verbranntem Haar, denn der »Salon« der Mama lag dicht daneben, und dann las sie uns die Fragen vor. Ulla war empört und sagte, das sei eine Falschheit, Grete sagte pfui, als sie aber hörten, es stünden auch Telefonnummern und ein Name in dem Büchelchen, nahmen sie es doch in die Hand.
Mich interessierten weder Telefonnummern noch Name, aber ich lernte die ganze Nacht Geschichte. Und dann kam eben der schmutzige Montag.
Als die Arbeit vorbei war, war Grete sehr rot, Ulla biss ihre Nägel und Anette zündete sich am Closett eine Zigarette an. Ich sagte plötzlich: — So! und ging Doktor Alexander in das Konferenzzimmer nach. Ich, ich ganz allein! Ich stellte mich neben ihn vor den grünen Tisch, etwas abseits von den anderen Lehrern, ganz groß, riesengroß fühlte ich mich in meiner Niedertracht, als wäre ich nicht allein, als wäre noch jemand Fremder in mir.
Und dann sagte ich es ihm.
Verrat!
Er schob die Hornbrillen in die Höhe, sehr rot wurde er und furchtbar verlegen, ich sah, dass seine braune Haut voll großer Poren war, und fügte noch hinzu: — Ich war es, die das Notizbuch gefunden hat, aber die Arbeit ist ungültig von allen vieren.
Er wandte sich ab: — Nun, wir werden darüber noch sprechen, stammelte er und ließ mich stehen. Ich ging in die Klasse und erzählte es den andern.
Grete weinte, weinte große, helle, lauwarme Tränen, Ulla ballte die Fäuste und sagte: — Du bist sicher wahnsinnig geworden, und Anette stampfte mit den Füßen. Ich sah, dass sie lange, spitze polierte Nägel hatte und dachte, sie würde mir gleich damit ins Gesicht fahren, in die Augen. — Vielleicht schreibst du es auch noch an die Tafel! rief Ulla höhnisch. Nein, das tat ich nicht. Ich setzte mich ganz still auf meinen Platz, die Knie zitterten mir, der Boden schwand unter meinen Füßen, ich sank in braunen Schnee, schokoladefarbenen Straßendreck —
Der goldene Flaum an Gretes aufrechtem Nacken — Doktor Alexander verachtete sie — Ullas elfenbeinernes Handgelenk, durchzittert von blauen Adern — Doktor Alexander hielt es nicht mehr für der Mühe wert, ihre Arbeit durchzusehen — Anettes halboffener feuchtroter Mund — Ein Name stand in seinem Notizbuch und mehrere Telefonnummern.........
Es war so traurig.
Und traurig war, dass Doktor Alexander der ganzen Sache mit keiner Silbe mehr Erwähnung tat. Weder uns gegenüber noch dem Direktor. Es gab keinen Skandal. Und das war das Traurigste. Denn das alles und wir alle waren ihm gar nicht wichtig.
Die große Gemeinheit — sie war ein Nichts geworden, etwas beinahe Lächerliches. Und Doktor Alexander verlor von seinem Glanz. Er war ein Mann geworden, wie man ihn täglich auf der Straße treffen kann. Wozu über ihn reden, über ihn nachdenken? Er war sonnverbrannt, aber er hatte große Poren im Gesicht. Die Zähne allzu verraucht. Ach was!
Grete fuhr mit ihrem Vater vierzehn Tage an die Riviera. Anette ging wieder mit Ullas Bruder im Park spazieren, Ulla las Schopenhauer, und mir hatten sie bald verziehen. Die ganze Dummheit war nicht der Rede wert.
Die Schule konnte überhaupt auf die Dauer nicht ernst genommen werden. Doktor Alexander nahm sie schließlich auch nicht ernst.
Oh ja, ich hatte eine furchtbare Gemeinheit begangen. Wir waren erwachsen geworden, plötzlich, an einem Tag. Wir hatten gelernt, die Liebe nicht ernst zu nehmen. Wir vier. Grete, Ulla, Anette und ich.
Im Frühling wurde Mama plötzlich krank. Bea hatte kurz vorher geheiratet, sehr großartig, aber davon will ich gar nicht erzählen, das war zu ekelhaft gewesen.
Mama war krank, sehr krank sogar, und ich war auf einmal nicht nur die Kleine, die bloß Gutenachtsagen kommt, weil ja doch die große Schwester alles einrichtet und erledigt, sondern ich war mit einem Mal die Tochter, die für Mama zu sorgen hatte — die Tochter!
Ich saß an Mamas Bett, ach, dem Ehebett, das Fenster stand offen, denn sie hatte Kongestionen, das sonst so blasse, stets klare Gesicht war rot und unruhig. Draußen regnete es, ein lauer unaufhörlicher Regen, der Flieder duftete, faulte schon an den Sträuchern — und ich wusste, dass Mama sterben musste. Nicht heute, nicht jetzt, ihr fehlte ja nichts als was einer Frau in ihrem Alter eben fehlen muss, hatte der Arzt gesagt, fehlen muss, so wie man einmal sterben muss —
Gretes Mutter hatte gelebt wie ohne Beine und Grete tanzte heute auf einem verregneten Frühlingsfest.
Ullas Mutter war an der Geburt des jüngsten Sohnes zugrunde gegangen.
Anettes Mutter hatte zinnoberrot gefärbtes Haar.
Und meine Mutter —
Mir wurde warm zwischen den Schenkeln. Ein dunkles, ein dumpfes, ein geheimnisvoll wehes Leben floss unter mir hinweg, floss hinein in die nasse Erde, in die dunkle, die dumpfe Erde.
Eine schwere Kuh liegt im Gras unter einem blühenden Apfelbaum — weich und gelockert liegt die kornblumenblaue Steppdecke auf dem Bett von Mama, auf dem Bett von Papa.
Alle Schmerzen der ersten Nacht werden wieder lebendig, Schmerzen zufälliger Geburten, vereinsamter Dämmerungen —
Mama, Mama!
Die Horky hatte sechs Kinder, sechs oder sieben. Schwer waren ihre Brüste gehangen. Unter Milchglaslicht war Grete zur Welt gekommen, eine Nurse hatte im weißlackierten Kinderzimmer auf sie gewartet, Ulla hatte man wie ein rotes kreischendes Bündel in den Waschkorb geworfen, Anette hingegen war in einem Spital geboren worden, wo die Wöchnerinnen alle blauweißgestreifte Kittel tragen mussten. Eine Klosterschwester hatte sie in Empfang genommen.
Mich hatte Onkel Max einmal sehr lange angesehen, als ich noch mit saugenden Blicken zur Decke starrte.
Nun sollte Bea bald von dem Herrn von ein Kind bekommen.
Ich bin verrückt, bestimmt verrückt, da kann mir auch dieses Buch nicht helfen. Kaum schreibe ich das Wort Kind, »Kind«, so ist der Geruch auch schon wieder da, die Fleischsuppe, es schwimmt darin eine dicke Zwiebel, was habe ich, ich denn überhaupt mit Fleischsuppe zu tun!
Das war doch das Mädchen. G. E. hieß sie. Genofeva oder Griseldis. Ich aber, ich bin keine Griseldis. Ich werde nie im blauen Samtschlafrock das Teewasser auf die Flamme stellen, immer wieder auf die Flamme stellen, während er an einer Straßenecke auf Ulla wartet.
Gestern habe ich sie beide gesehen. Ulla ging gleichgültig neben ihm, die Hände in den Manteltaschen. Warum denn auch nicht? Ihr ist so was nicht so besonders wichtig. Schon in der Schule war sie fest entschlossen, ihr Leben einzuteilen. Sie ist zu klug, um zu warten. Sie ist überhaupt zu klug.
Und wenn er morgen, übermorgen Anette aus dem Theater holt und mit ihr in ein geschlossenes Auto steigt — Anette hat einen weißen flaumigen Pelzmantel, nun dann zuckt Ulla eben die Achseln, im Nebenzimmer auf der Klinik wohnt ihr Kollege, der Doktor N. N. Ulla ist klug, Ulla geht ins Nebenzimmer. Während Grete doch ihr erstes Kind erwartet.
Also das geht nicht, es hat keinen Sinn, ich schreibe nicht weiter. Sooft ich das Wort Kind schreibe —
Muss ich dieses Wort denn überhaupt schreiben? Ich werde nie mehr etwas von einem Kind erwähnen.
Die Fremde hat auch kein Kind.
Übrigens, die Fremde gehörte nie zu uns vieren. Sie stand immer abseits, schaute immer nur zu. Zuschaun ist überhaupt etwas Niederträchtiges. Wer hat das Recht den andern zuzuschaun!
Manchmal, wenn ich nachts das Fenster öffne, besonders im Sommer, taucht die Fremde empor, starrt mich an — wie herausgewachsen aus fremden Tiefen.
Deshalb schlafe ich nicht gerne bei offenen Fenstern. Obwohl Ulla findet, das sei unzivilisiert. Sie schläft auch bei zehn Grad Frost bei offenen Fenstern, es ist ihr gleich, wenn die Schläfen danach schmerzen.
Aber zusehen, bloß schauen, die Welt sehen, wie durch die Lupe den Käfer, nicht wissen, was der andere fühlt, fühlt, leidet, wünscht —
Das kann ich nicht. Werde ich auch nie können.
Nicht einmal im Theater. Da erlebte ich einmal etwas Entsetzliches bei einem Ballett. Nach jenem Frühling, in dem ich so viel an Mamas Bett gesessen hatte. Sie war mit mir in die Oper gegangen, das tat sie immer, wenn Papa verreist war. Sie tat es zwar nicht gern.
Es war sehr heiß und eine Dame mit speckigem Rücken in der Reihe vor uns hatte ein Maiglöckchenparfüm, das roch ganz gelb und ein wenig nach zerriebenen Blättern. Man spielte ein Wald- und Wiesenballett, süße Musik mit rosa Beinen, Zehenspitzen und Pappendeckelbüschen voll Netzen. Auch die Ballerine dritte Reihe links war süß, hatte krauses Puppenhaar und ein Friseusenlächeln, sie sah ganz so aus, wie sie auszusehen hatte, nur dass ihre Beine nicht ganz so waren, wie sie sein sollten, nicht geschwungen genug, keine Waden. Sie waren mehr wie lange gleichmäßige Stöcke, schlanke Äste, eben abgehauen von einem edlen Stamm.
Ich sah auf diese Beine. Sie schimmerten weiß unter dem rosa Strumpf. Unendlich müde wurde ich. Die Augen fielen mir halb zu. Nur mehr diese Beine sah ich, ganz weiß waren sie geworden, milchig, eine graue Stube, eine Waschschüssel mit grauem Wasser, auf dem der Puder rosa schwimmt, Geldscheine auf dem Holztisch, ein Azaleenstock und in der Toilettentischlade eine zerissene Photographie............
Greller Applaus, die Ballerine dritte Reihe links wirbelt um die Zehe, wirft Kusshände ins Publikum — ich aber sehe ein Glas Wasser vor mir, ein winziges giftgrünes Pulverdöschen.
Sie lächelt mit weißen Zähnen wie ein Chlorodontplakat und ich merkte deutlich: Ihr Gesicht war wie ein Totenkopf.
Die Dame mit dem Speckrücken zog ihr Maiglöckchentaschentuch aus dem Perlenbeutel und putzte sich schnaubend die Nase.
Sollte ich die Polizei rufen, die Rettungsgesellschaft, zum Direktor gehen, das Mädchen holen lassen, sollte ich —
Mama sagte zu mir in der Garderobe: — So komm doch schon. Immer bist du so langweilig. Ja langweilig.
Grete, die war niemals langweilig. Vor ihr öffnete sich jetzt in diesen Monaten die Welt, eine breite, weißgepflasterte, morgensonnige Welt. Und ihr Vater war es, der die Tür ihres Kinderzimmers aufriss für sie.
Sommer voll Segel, Eisenbahnen mit samtenen Sitzen, Lampions unter Kastanienbäumen. Eislimonaden und ein toll gewordenes Kurorchester.
Grete schwamm hinaus in blaue Weiten. Langsam gleichmäßig atmend, mit den sicheren und ruhigen Tempi einer braven Schwimmschülerin, die bei den Lektionen ihres Schwimmeisters gut aufgepasst hat.
Und man sah ihr zu. Die Studenten ihres Vaters, die in seinen Vorlesungen saßen, sich in seinen Hörsälen Notizen machten, sahen ihr zu, wenn sie über eine Treppe ging. Damen mit Lorgnons bewunderten sie, wenn sie in ihren hellen Sommerkleidern tanzte, Tango tanzte mit wiegend sicheren, wohl abgemessenen Schritten.
Oh sanftes Warten ohne Ungeduld!
Der erste Assistent des Vaters hatte eine weiße hohe Stirn. Etwas starrende Augen, so hell, dass sie beinahe schon keine Farbe mehr hatten. Sagte er »Fräulein Grete«, so wurden ihm die Hände feucht. Große Hände mit weißen kraftlosen Fingern. Kranke Hände. Und er hatte bläulich kranke Zähne.
Er ging mit ihr an einem Sonntagvormittag über eine Wiese voll Margeriten. Glockengeläute. Sie trug eine zwirndünne Goldkette um den Hals. Und ein vergissmeinnichtblaues Kleid.
Es war so warm — nicht heiß, so hell — nicht grell. Sie dachte an den Braten, den sie bestellt, an den Wein, den sie hatte einkühlen lassen, an das Obst, die Blumen auf dem Tisch — Sie senkte den Kopf, da spürte sie plötzlich etwas Kaltes, Nasses auf dem Nacken, an dem Ansatz des goldigen Flaums — die Lippen des Assistenten.
Blutrot war er geworden. — Fräulein Grete, verzeihen Sie — Ich liebe Sie — Ich bete Sie an — Nie, nie mehr —
Fort war er, verschwunden im glänzenden Buchengestrüpp. Grete zitterten die Knie. Langsam wischte sie sich den Handrücken an ihrem vergissmeinnichtblauen Sommerkleid ab. Ein bisschen übel war ihr.
Sie legte sich ins Bett. Kopfschmerzen. Bei geschlossenen Fensterladen lag sie in den frischen kühlen Laken.
Das also war die Liebe. Vielleicht ging er jetzt ins Wasser. Nein, lieber nicht, das wäre zu traurig. Ob er ihr wohl einen Brief schreiben würde? Ach, das wäre nicht schlecht, aber nur keinen Kuss, nur nicht wieder so einen nassen glitschigen Kuss.
Etwas tat ihr weh, ein bisschen und ein kleinwenig angenehm weh.
Am nächsten Tag erwiderte sie den Gruß des Assistenten mit abweisendem Kopfnicken. Er schrieb einen verzweifelten Entschuldigungsbrief. Sie antwortete nicht darauf. Er reiste ab. Sie weinte eine halbe Stunde vor dem Schlafengehen gekränkte Tränen. Sie dachte, dass er wiederkommen würde. Er kam nicht.
Oh stilles Warten ohne Träume!
Natürlich wusste ich das alles, als sie zum ersten Mal wieder vor mir in der Schulbank saß. Wir waren jetzt erwachsene Mädchen. Letztes Jahr Gymnasium. Ich roch es förmlich an dem Flaum ihres Nackens, ich war wütend, weil sie mir ja doch nichts erzählen würde — Grete sprach zu niemandem von so was, nicht einmal zu sich selbst — und ich hasste sie, weil ich wusste, dass er nicht wert gewesen war, ihr Kleid zu berühren.
Das vergissmeinnichtblaue Sommerkleid.
Während ich einmal hinter einer Hecke in eben diesem Sommer einen dummen Jungen abgeohrfeigt hatte. Es war eine lange Geschichte gewesen, mit Briefen auf liniertem Papier, und einmal lauerte er mir auf, als ich —
Aber wirklich, es ist nicht der Rede wert, ganz uninteressant. Wozu das aufschreiben!
Ulla hingegen, der konnte es nicht passieren, dass einer von hinten her oder gar auf den Nacken —
Sie stand schon seit Jahren sprungbereit wie auf einem schwankenden Trambolin, und erst, wenn sie sich sagte: — Hopp! würde sie hineinspringen in eine Liebesgeschichte, eine Verzweiflungsnacht oder in ein Menschenherz.
Bei Ulla war alles so unsicher, so vom Zufall abhängig und von ihrer Laune.
Übrigens, dass ich es nicht vergesse, Doktor Alexander hatten wir im letzten Jahr nicht mehr. Das heißt, eigentlich ist es nicht so wichtig, man dachte gar nicht daran, es zu erwähnen. Nur Anette sagte: — Schade! Ich war soooo verliebt in ihn, und zog dabei einen zinnoberroten Strich über die zu große nasse Oberlippe. Sie war sehr gewachsen in diesem Sommer, die kleine Anette.
Ulla war mager geworden, furchtbar mager. Ihre porzellanweiße Haut hatte einen gelblichen Stich bekommen. Das kam wohl vom vielen Baden. Sie hatte übrigens in ihrem Schwimmklub einen Preis gewonnen.
Ungeduldig war Ulla. Die blauen Eiswasserblicke flackerten. Vielleicht gab es auch Schnee darin, geschmolzene Schollen.
Manchmal holte sie jetzt ihr ältester Bruder von der Schule ab. Er war schöner als der Junge mit den Pickeln, sehr groß, krampfhaft geschmeidig mit Ullas scharfer Nase. Er schien die anderen Mädchen nicht zu sehen, wenn Ulla kam, nahm er ihr das Bücherpacket aus der Hand und wandte sich sofort ab.
Ich erinnere mich, dass Anette einmal hinter seinem Rücken die Zunge herausstreckte. Gott sei Dank, dass Ulla das nicht bemerkt hatte.
Denn sie liebte ihn sehr, mehr als den Vater, der mit seinem seidigen Bart und seiner seidigen Stimme einem Rabbiner glich, mehr als die anderen Brüder, die ewige Flegel blieben. Ihn konnte sie um Rat fragen. Er hatte eben seine Studien beendet, war angestellt in einem Kinderspital. Sie wollte auch Medizin studieren, einen weißen Mantel tragen.
Er hatte einen Freund. Ich sah diesen Freund nur ein einziges Mal bei einem meiner zufälligen Besuche in dem niederen Haus. Und ich weiß nicht, ob ich mich recht erinnere, oder es mir einbilde: Er hieß Hermann. Ja, gewiss, er musste Hermann heißen, ich bin überzeugt davon.
Er war genau so groß wie der älteste Bruder, war auch Arzt in einem Kinderspital und hatte dieselbe scheue und abweisende Art, einem die Hand zu geben. Als ich seinen braunen Scheitel sah, musste ich an Oliven denken. Braune, beizend salzige, schmelzend ölige Oliven.
Er sah mich gar nicht an, konnte einen überhaupt nicht ansehen, weil er zu lange Lider hatte, hängende, die Augen verdeckende Lider. Eigentlich war das abscheulich.
Ulla sprach mit ihm genau so wie mit dem ältesten Bruder, kurz, vertraut, mit gemachter Gleichgültigkeit: — Willst du Kaffee? Nein, nicht die, nimm diese Zigaretten, sie sind besser.
Es war wohl sehr schwer für Ulla, dass sie keine Mutter hatte.
Und wenn Mama sich etwas mehr um mich gekümmert hätte, dann wäre es mir gar nicht eingefallen, mich schon so früh und so heftig in Onkel Max zu verlieben.
Ulla ging dreimal in der Woche turnen, dreimal schwimmen, lernte Jujitsu und machte Sonntag für Sonntag eine anstrengende Klettertour mit dem ältesten Bruder und Hermann.
Sie las viel, schwere Bücher, die sie nicht verdauen konnte in schlaflosen Nächten.
Einmal sagte sie zu ihm, als sie an einem goldigen Oktobernachmittag in ein Tal abstiegen: — Warum tust du es nicht? Du weißt doch, dass ich es brauche.
Hermann sah sie an. Sie ging in Hosen, das Haar geschnitten wie ein Junge, tiefschwarze purpurne Blätter raschelten unter den Füßen. Seine Lider senkten sich.
— Das ist Unsinn, Ulla. Du bist zu jung.
— Keine Spur. Aber du hast Angst, weil ich ein Mädchen bin.
Kollernde Steine. Der Bruder kam ihnen nachgesprungen. Weiße Nebel stiegen wie Rauchsäulen aus den braunen Felsen.
Und dann kamen sie in eine Kirche, irgend eine Dorfkirche, wo der Abendsegen gehalten wurde. Im Hof nebenan wurde gekeltert, gärender Mostgeruch mischte sich dem Weihrauch, betende Kopftücher und Rosenkranz, Gemurmel unter süßen langen leuchtenden Kerzen —
Und da packten sie sich an der Hand im Schatten der Pfeiler, drei verirrte Kinder aus einem unendlich fremden, unendlich weiten und schwülen Land. Drei Geschwister. Dunkel und begehrlich in den haarigen Touristenkleidern.
Ulla hat mir dann am nächsten Tag alles erzählt, das heißt, natürlich nicht von der Kirche, den Nebeln und den purpurnen Buchenblättern. So was weiß man schließlich von selbst. Sie erzählte mir nur von einer Nacht in einem dürftigen Studentenzimmer, einer Nacht voll Schmerz und Geborgensein, Qual und Erlösung...........
Und es roch — wir saßen auf einer nassen Bank im herbstnassen Park — es roch um mich auf einmal nach Salz und Olivenöl, die braunen Stämme verschwammen vor meinen Augen, ganz braun wurde alles, mit einem einzigen blutigen Riss —
— Was hast du nur? fragte Ulla. Wer wird denn gleich so empfindlich sein. Es war sehr gut und sehr vernünftig, vielleicht nicht sehr schön, aber notwendig.
Wie klug sie war! Viel, viel zu klug. Ich aber sah zu ihr auf und saugte aus den strengen Eiswasserblicken ein neues süßes, ein rosiges Licht.
Mir war leicht zumut an diesem Tag. Sogar die Mathematik, die mir immer so unendlich schwer fiel, machte mir heute nicht viel Kopfzerbrechen. Und als abends der Herr von mit Bea zu Besuch kam, gab ich ihm die Hand, als ob, nun, als ob er eben nicht der Mann meiner Schwester wäre, sondern bloß der Herr von, ein fremder Mensch, der mich nichts anging.
Ach, man sollte sich nicht erinnern können, nicht so gerne an alles erinnern können. Man sollte die Tage abstreifen wie alte Kleider, verschenken, wegwerfen, verbrennen — auf den Mist damit! Und nie, niemals sollte man die Kleider der anderen tragen.
Ich hätte es nicht tun sollen, nicht tun dürfen. Da schreibe ich eben die Geschichte von Ullas erster Liebe — vielleicht war es gar nicht die erste Liebe, vielleicht war es überhaupt nicht einmal Liebe — Ach was, es war ein goldener kristallklarer Herbst, abends krochen warme Nebel in die Häuser, man saß beisammen unter verdeckten Lampen, verdeckt waren Hermanns Blicke, zu lange Lider hingen über sie herab, verdeckten mich, nein, Ulla, oder vielleicht auch mich —
Jedenfalls war ich glücklich, als ich gestern von diesem Herbst erzählte. Ich saß allein in meinem Zimmer, mit sechs gespitzten Kohinoors, leuchtendem Papier und ohne die Fremde.
Und da machte ich heute die Dummheit und ging zu Grete. Nur weil er mir eine Postkarte geschrieben hatte wegen eines blöden Buchs.
Jetzt sieht man es schon deutlich — das Kind nämlich. Gretes lange braune Augen haben ihr rötliches Licht verloren, sind stumpf wie Packpapier. Und die Lippen über den breiten braven Zähnen sind aufgesprungen.
Ich kann jetzt nicht weiter erzählen von damals und wäre doch so gerne bei Ulla geblieben und in jenem Herbst, in dem wir eben achtzehn waren.
Ich redete natürlich auch von Ulla, heute, Grete schenkte Tee ein, sie trug ein gelbes Hauskleid, hörte nicht zu, und er sagte: — Ja Ulla, die ist klug, viel zu klug.
Das schrieb ich selbst doch erst gestern. Ja wirklich, da steht es, schwarz auf weiß. Ist das nicht verrückt.
Und verrückt ist, dass er mir, weil es regnete, Gretes Regenmantel über die Schultern hing. Und dass er mich begleitete. Er hätte mich nicht begleiten brauchen, auch wenn ich Gretes Regenmantel trug. Und er ging neben mir und es regnete, und in gelben Patzen schwammen die Straßenlaternen auf dem schwimmenden dunklen Pflaster, er hielt den Schirm, ich hing mich ein in ihn —
Und als wir nachhause kamen, gab er mir unter dem Haustor einen Kuss auf den Mund, einen großen lustigen Kuss. Er passte gar nicht auf, ob jemand uns sehen könnte — jetzt eben erst vor einer Viertelstunde war es — und ich erwiderte diesen Kuss mit einem leichten Zucken der Lippen, so selbstverständlich, wie auf einem Bahnhof, wenn man schon längst verheiratet ist.
Und ich sitze hier und am Fenster hängt Gretes Mantel, Waterproof, beste Qualität, sanft und traurig hängen die Ärmel und ich getraue mich nicht, mich umzuwenden, denn in der dunklen Scheibe ist nicht die Fremde, ach Gott, wäre es doch nur die Fremde!
Nein, in dieser Scheibe schwimmt ein breites Lächeln, ein gutes, ein mütterliches Lächeln aus gesprungenen Lippen —
Ich spüre im Nacken das Kräuseln goldigen Flaums.
Ich werde heute nicht weiter schreiben.
So, jetzt sind ein paar Tage vergangen. Keine schönen Tage, keine angenehmen Tage. Der Kopf war mir schwer, Hände und Füße, einmal blieb ich sogar zuhause, statt in die Bibliothek zu gehen, ich musste viel an Pfirsiche denken und gelbe Getreidefelder.
Zweimal versuchte ich auch zu schreiben. Aber ich hatte so eine ungeschickte dumme Backfischschrift und das Papier schwamm himmelblau über den Tisch, und da wurde es ein Brief an ihn. Es wäre besser, wir würden uns nicht mehr sehen und derlei. Ich warf diesen Brief in den Kohleneimer. Er sah so unnatürlich aus.
Heute war ich mit Anette zusammen. Sie erzählte mir — ja, jetzt werde ich nicht aufschreiben, was sie erzählte. Zurück, zurück in jene Zeit, als ich achtzehn war, als Grete auf Bälle ging und dem Vater das Haus führte, Ulla mit ihrem Bruder und Hermann die waghalsigen Skitouren machte und als Anette aus der Schule flog.
Vieles wäre anders gekommen, wenn Anette damals nicht aus der Schule geflogen wäre. Niemand erfuhr, weshalb. Aber ich wusste es, ich natürlich. Denn ich ging immer zu ihrer Mutter, mir die Haare waschen lassen. Der »Salon« war für Herren und Damen. In der Mitte ein roter Kunstseidevorhang mit Blumensträußen, die sich wanden wie Polypen.
Anettes Mutter bediente mich selbst. Weil ich mit Anette in die Schule ging, ihre Freundin war. Sie hoffte auf meinen guten Einfluss.
Denn, ach, Anette sollte es anders haben als ihre Mutter. Keinen Salon mit Kunstseidenvorhang, verbrannten Haaren, Rasierseife und rosigen Manicurefräuleins. Anette hatte was gelernt, höhere Bildung, sollte selbstständig werden.
Selbstständig! Anettes Mutter hatte zinnoberrote Haare und viele goldene Zähne. Ihr Busen hopste, wenn sie einem den Kopf frottierte, sie zankte mit den Mädchen und am meisten mit Anette, die statt ihre Schularbeiten zu machen immer mit Modejournalen auf den Knien in der Nähe des Vorhangs herumlungerte. Wenn aber die dicke Friseurin »selbstständig« sagte, dann wurde ihr Gesicht — es war eigentlich ein komisches Gesicht mit einer lächerlichen Stupsnase — dann wurde ihr Gesicht fromm — so wie bei der Horky, wenn sie von einem schönen Kino erzählte — und dazwischen kreischte sie ganz plötzlich: — Das Mensch muss hinaus, das Mensch reißt schon wieder am Vorhang rum! Sie hob einen Föhnapparat als funkelndes Schwert und Anette stolzierte mit ihren neugierigen Beinen, die immer noch an Stäbe erinnerten, ab durch die Hintertür. Ihre Chinesenaugen lächelten nachsichtig.
Selbstverständlich war Anette entschlossen, ihre langen Stangenbeine mit der gelblichen Urwaldhaut nicht auf die Dauer in Florstrümpfe zu stecken. Oder einen Lippenstift zu benützen, der nach roten Wanzen schmeckte. Und ich merkte beim Umkleiden vor der Turnstunde, dass sie ein erbsengrünes Crêpe-de-Chine-Hemd hatte mit zackigen Spitzen. Sie legte den Finger mit dem spitz manikürten Nagel auf den schwellenden Mund: Pst, du sagst es niemand! Ich weiß ja, auf dich kann man sich verlassen.
Nein, nein, auf mich kann man sich eben nicht verlassen. Das glaubten alle und deswegen geht jetzt alles schief. Immer legten sie alles vertrauensvoll bei mir ab, ihre Freuden, ihre Schmerzen, ihre Liebe, ihren Hass, ihre Wünsche und einmal sogar eine goldene Herrenuhr.
Diese Uhr war eklig dick. Es war knapp vor Weihnachten und Anette kam damit zu mir gelaufen. Ich packte eben verschiedene Geschenke in buntes Seidenpapier, da stürzte sie in mein Zimmer, und obwohl es schon ein wenig dämmerte, sah ich doch deutlich, wie grün sie war, grün wie zitternder Tang, und ihre Lippen waren nackt und nass und ungeschminkt.
— Du, sagte sie atemlos, auf dich kann man sich verlassen (also schon wieder) — nimm das und trag es mir aufs Versatzamt. Ich brauche Geld. Wegen Weihnachten natürlich. Also, nicht wahr —
Und fort war sie. Zwischen den Weihnachtsgeschenken lag auf einem Haufen buntem Seidenpapier die Uhr. Es war, wie schon gesagt, eine dicke Uhr, mit dickem Goldrand, dickem kleinen Zeiger und dicken Ziffern.
Ich konnte sie nicht angreifen. Wollte es, versuchte es. Unmöglich. Ich starrte sie an. Flüsternde Dämmerung.
Ein graues Laken — haarige Hände — stumpfe Finger — zahnlose Gier — Anettes Beine — strampelnde Stäbe — Urwaldstäbe — und ein Nachttisch mit grauer Marmorplatte — das Nachtgeschirr vor dem Bett — die Uhr auf der grauen Marmorplatte, neben Taschentuch und Brieftasche die Uhr, die goldene, die dicke Uhr ...
Entsetzlich übel war mir. Aber Mama rief zum Abendessen. Und die Uhr lag immer noch auf dem vielen Seidenpapier. Da tat ich das Dümmste, was ich nur tun konnte: Ich nahm einen Bogen Seidenpapier, den ich wegen seiner süßen puppenrosa Farbe vorher zur Seite gelegt hatte, und packte die Uhr drin ein.
Wahrscheinlich war es diese Farbe, die die Aufmerksamkeit des Beamten im Versatzamt gleich auf mich lenkte, sodass die Polizei zur Stelle war, während ich noch das Geld in der Hand hielt, das viele Geld, sicher bekam man dafür eine ganz neue Armbanduhr, so eine dünne, flache mit winzigen Brillanten ringsum —
Da war ich auch schon verhaftet.
Typisch, sagte der Polizeibeamte, als ich vor seinem Schreibtisch stand und er meine Aussage zu Protokoll nahm. Ich rollte mein Taschentuch, stieg von einem Bein aufs andere, und wie sie alle so furchtbar feierlich taten wegen einer Uhr, einer dicken goldenen Uhr, da musste ich kichern, ein ganz klein wenig mit verzwickten Augen.
Dann kam noch eine Dame von der Fürsorge oder wie das heißt, und nahm mich ins Gebet. Nichts zu machen. Ich wusste nichts. Nichts von der goldenen Uhr und nichts von einem Herrn Neumann, so hieß er nämlich. Ich sprach nur immer von dem rosa Seidenpapier und da wurde die Dame ganz böse und sagte, ich sei gottlos und rettungslos verdorben. Nun musste ich aber wirklich lachen, und wer weiß, wie das alles noch ausgegangen wäre, wäre nicht plötzlich ein Beamter ins Zimmer gekommen und hätte das Ganze aufgeklärt. Denn der Herr Neumann hatte inzwischen seine Anette zu finden gewusst und das telefonisch gemeldet.
Man schickte mich nachhause.
Dass Papa damals über mich verzweifelt war, die Hände rang und sagte, ich schade seinem öffentlichen Ansehen, war mir gleichgültig. Und sogar auch, dass Mama weinte. Ich hatte immer gedacht, dass sie meinethalben nur weinen würde, wenn ich gestorben wäre. Aber damals war ich froh, dass Onkel Max verschwunden war. Vor ihm hätte ich mich grässlich geschämt.
— Du bist zu dumm, sagte Papa.
Dumm — da mochte er wohl recht haben. Es war gewiss dumm von mir, dass ich die ganze Zeit an die Friseurin mit dem zinnoberroten Schopf denken musste. Denn nun war Anette knapp vor der Matura aus der Schule geflogen, nun konnte sie nicht mehr »selbstständig« werden. Selbstständig — was das wohl heißen sollte? Ohne Geld von Papa oder sonst einem Mann.
Und ich suchte Anettes Mutter auf und sie war riesig lieb zu mir, gar nicht böse. Obwohl ich mich doch so ungeschickt benommen hatte. Sie setzte mich gleich vor sich hin und wusch mir die Haare — schauderhaft sehen sie aus, kommen Sie nur! — und dann erzählte sie mir, dass sie ein gefallenes Mädchen gewesen sei, ein feiner Portier hätte sie verführt und dass sie dann, nun, dass sie dann eben nie mehr selbstständig gewesen sei. Und dass sie Anette das ersparen wollte und sie deshalb ins Gymnasium geschickt hätte.
Sie schrie furchtbar, denn sie trocknete mir dabei das Haar mit dem Föhn und sah in alle Spiegel, um sich zu vergewissern, dass auch niemand im Geschäft sei. Es war Sonntagvormittag.
Bis dann plötzlich Anette hinter dem roten Polypenvorhang auftauchte. Sie trug eine ganz neue Armbanduhr, so eine dünne, flache, mit winzigen Brillanten ringsum.
Da weinte ihre Mutter, Anettes Mutter, die zinnoberrote Friseurin, und sie ließ sich von mir das Waschen der Haare nicht bezahlen. — Es ist ja Sonntag heute.
Ulla war empört, dass man Anette so ohne Weiteres hinausgeworfen hatte. Einen Eingriff in die persönliche Freiheit nannte sie das. Und sie ging in den nächsten Tagen demonstrativ mit Anette vor der Schule spazieren.
Grete hingegen errötete leicht, wenn von Anette die Rede war. Dabei war sie eigentlich am engsten mit Anette befreundet gewesen, hatte sie doch jahrelang neben Anette gesessen, seit jenem denkwürdigen Herbsttag, an dem sie plötzlich von mir abgerückt war. Hatte sie doch mit Anette getuschelt, Anettes »Geheimnisse« angehört, allerdings immer nur angehört, denn Frauen wie Grete sprechen nichts, sprechen nie — sie haben eine heisere Stimme und vielleicht auch ein heiseres Herz.
Grete sagte unlängst zu Ulla, wie schön, wie unerhört schön die Schwangerschaft sei. Wie göttlich, wie erhaben man sich fühle.
Kann man sich erhaben fühlen, wenn einem übel ist? Wenn man erbricht?
Die Horky hat sich sicher nie erhaben gefühlt oder gar göttlich, bei allen ihren acht Schwangerschaften, denn acht waren es, glaube ich, ein- oder zweimal ging es auch daneben.
Und schön — Ist es schön, wenn man einen Bauch hat, plumpe Beine und Ringe unter den Augen?
Nein, ich finde das nicht schön und er findet es auch nicht schön. Das fühle ich, als er mir unlängst im Park mit den Augen die Hüften entlang fuhr. Seit ich mit Ulla schwedisch turnen gehe, bekomme ich ebensolche Hüften wie sie, steil abfallend, Hüften, die mit den Beinen mithalten, wenn man rasch und sicher geht.
Ich fühle seine Augen die Hüften entlang fahren und musste an eine Reise denken, an ein Schiff mit hohen, strahlend weißen Segeln.
Es ist gut, es ist vor allem wichtig, dass ich dieses Buch schreibe, denn nun merke ich erst, wie schlecht ich bin, wie gemein. Ich will ihn haben, liebe ihn, bin verliebt in ihn, dürste nach ihm, weiß, dass er nach mir greifen möchte, greifen — so wie Männer nach Ulla greifen, wenn sie den weißen Ärztemantel abstreift und ihre langen kräftigen Arme auseinander schlägt — und er will mich auf ein Bett werfen, auf irgend ein Sofa, so wie man eine Anette hinwirft, irgend einmal — ich aber will ein Kind gebären, ein Kind von ihm — wie Grete.
Überhaupt, wir vier! Als die Matura überstanden war — bei Ulla ging es großartig, bei Grete recht jämmerlich, aber die Professoren lächelten sie an in ihrer sanften Schönheit, und bei mir — nun, ich bin eben auch durchgekommen, wie es war, weiß ich nicht mehr so genau — und Anette erwartete uns in einer Konditorei — Also, als die Matura überstanden war, da saßen wir einander an einem runden Marmortischchen gegenüber und aßen Eis. Es war eine furchtbare Hitze, die Straße draußen lag grell und tot, das Mädchen, das uns in weißer Spitzenschürze bediente, konnte sich kaum auf den Füßen halten, und unsere Sommerkleider klebten an den rotpolierten Stühlchen.
Ich weiß noch genau, was für Eis wir aßen: Grete Himbeer, Ulla Kaffee und Anette Schokolade mit Schlagsahne. Wir waren sehr ernst. Beinahe war es eine feierliche Handlung.
Und auf einmal sprachen wir von Doktor Alexander.
Mir wurde kühl bis in die Fingerspitzen. Ich dachte an sein braunes Gesicht mit den gelben verrauchten Zähnen, an seine windverwehten Haare, und mir fiel ein, dass er einmal mit einem Edelweiß im Knopfloch in die Klasse gekommen war.
Ulla sagte: — Ich bekam in Geschichte eine Frage aus der gewissen Schularbeit. Na, ihr könnt euch denken, dass ich da was gewusst habe. Dem verdanke ich wohl meine Auszeichnung.
Anette sagte: — Wenn wir ihn behalten hätten, meinethalben nur eine einzige Stunde in der Woche, ich wäre jetzt durch wie ihr und hätte keine Dummheiten gemacht.
Grete schwieg. In ihren langen braunen Augen spielten rote Lichter, der goldige Flaum im Nacken zitterte leicht, und sie legte den Löffel voll Himbeereis, den sie eben zum Mund führen wollte, wieder zurück auf das Glastellerchen.
Ich aber dachte an meinen Verrat und etwas tat mir weh, so wahnsinnig und unergründlich weh wie damals in der Bahn, als ich der Horky den Kuss verweigert hatte. Ich sah auf von mir, fort zu den andern.
Wir verabschiedeten uns dann auf dem blendenden, heißen Pflaster vor der Konditorei. Und dann sahen wir uns lang nicht mehr.
Ja richtig, Ulla ging noch ein Stück mit mir durch eine lange, sehr kühle Gasse. Und plötzlich sagte sie: — Wir vier, warum nur gerade wir vier? Eigentlich müsste ich mit Gerda Lange oder mit Liselotte Meller befreundet sein. Sie haben meine Interessen. Aber da kamen immer Grete und Anette dazwischen. Anette ist mir manchmal beinahe ekelhaft und Grete ist eine höhere Tochter. Und dann noch du — du —
Sie blieb stehen und starrte mich an mit ihren blauen Eiswasseraugen. Beinahe drohend.
— Du hast es immer gewollt. Du bist eigentlich schuld daran.
Ich erwiderte ausweichend: — Wir sind ja auch immer nebeneinander gesessen.
Da nickte sie mir zu und verschwand um die Ecke.
Ach, welche Angst ich hatte, sie könnte nun auch aus meinem Leben verschwinden, so wie Onkel Max an jenem grünschäumenden Sommernachmittag mit dem schwarzen Handköfferchen in seiner Rechten. Sie könnte verschwinden, Anette könnte verschwinden, Grete —
Das war nicht mehr Angst. Das war Todesangst.
Papa und Mama, die meinen Zustand merkten, hielten es für Überanstrengung. Man schickte mich fort, ich sollte eine Reise machen, zum ersten Mal allein. Nach dem Süden, ans Meer.
Ich war allein, ich war furchtbar allein. In den Hotels, in denen ich wohnte, hatten alle Kellner die gleichen Gesichter, nur die Stubenmädchen waren manchmal traurig und verweint.
Grete war gestern auch verweint. Grete! Sie kam zu mir, um mich zu fragen — oh Gott, das kann ich nicht niederschreiben, es ist zu grässlich —
Ich weiß überhaupt nicht, ob ich weiter schreiben soll.......
Ich antwortete ihr mit einer heiseren Stimme. Eine heisere Lüge.
Da wollte ich erzählen von mir, von mir allein, wie es war und wie alles gekommen ist, aber auf einmal sind die Tage zu hell, als wäre keine Luft zwischen mir und der Sonne, zwischen mir und den andern.
Die Gegenwart ist so nahe gerückt. Man braucht bloß die Hand auszustrecken, bloß —
Oh Gott, nur das nicht!
Ich weiß zu genau, was es heißt, verraten zu werden, wenn man schutzlos ist und alle Gefahren des Lebens, alle Gefahren des Todes in sich trägt in einem schwangeren Leib. Ich weiß es, und wenn er tausendmal mich hinüberziehen will in gesunde Freuden und gestohlenes Glück.
Weil er eben nichts, nichts, nichts davon versteht. Keine Ahnung hat. Keine Ahnung!
Ich weiß ja auch nichts von ihm. Wenn ich versuche, ihn zu verstehen, so muss ich immer an die Geschichte von dem Matrosen denken. Eigentlich war es wohl kaum ein Matrose, sondern ein Bettler. Aber das ist gleich.
Man hatte mich also auf eine Reise geschickt, davon sprach ich ja schon, allein auf eine Reise. Ich sollte mich von meinen Studien erholen.
Eines Nachmittags ging ich spazieren an einem italienischen Hafen. Das Meer war kochend blau und gerade gegenüber dem lustigen Café am Strand lag ein ungeheures schwarzes Kriegsschiff. Männer in grauen Kitteln — sie sahen aus wie Sträflinge — kletterten auf ihm herum. Im Café spielte die Kapelle eben »Holde Aida«.
Und die Mündungen der Kanonen waren gerade darauf gerichtet.
Ich ging langsam, es war sehr heiß und die Musik war mir unangenehm, es roch nach Teer und Fischen und Salz, und auf einmal war mir, als kröche ein Hund vor mir über die Straße. Ich wollte nicht hinsehen, wollte nicht, denn es war ein Mann, ein Mann und kein Hund, ein Mann ohne Beine auf einem winzigen rollenden Wägelchen, ein Mann mit einer Matrosenbluse, er sah mich an, sagte wohl auch etwas, sah mich an von unten herauf — Es war so etwas Triefendes in seinem Blick — da gab ich ihm ein paar Centesimi. Vorsichtig, um ihn nicht zu berühren. Er nahm sie und verfluchte mich.
Und ich ging weiter und die Kapelle spielte weiter und der Mann war fort, wie eben ein Hund, der über die Straße läuft, dunkel gelb brannte diese Straße und ich war allein, so allein als trüge ich keine Kleider am Leib.
Ich hätte ihm nicht die Centesimi geben sollen. Das wusste ich. Aber er war mir so fremd, als wäre er ins Meer gerollt und läge hunderte von Metern grün aufgequollen auf dem Grund.
Ich hätte ihn berühren müssen. Das wusste ich. Aber ich spürte es nicht. Spüre es heute noch nicht. Ich spüre nie, was ein Mann empfindet.
Auch heute nicht.
Nach dieser Sache hatte ich plötzlich Sehnsucht nach Onkel Max. Und deshalb sah ich ihn wohl am selben Abend in einer schlecht beleuchteten öldampfenden Straße vor mir in der Menge verschwinden. Natürlich war er es nicht, das ist auch nicht möglich, es waren nur Papas Schultern, sein hochmütiger Schritt.
Ein paar Weiber zankten sich, Kinder kreischten, die Luft war wie ein dunkles Bad, kurz darauf begann es wohl zu regnen .......
Nein, es war sicher nicht Onkel Max gewesen. Ich verstehe nicht, warum mich das heute noch in Aufregung bringt, ich verstehe nicht —
13. 5. Gestern Nacht hat Grete ein Kind geboren. Einen Sohn. Seinen Sohn.