Cirillo setzte den Helm auf und startete den Motor. Die Strecke von der Polizeiwache über die Serpentinen nach Anacapri fuhr sie inzwischen im Schlaf. Sie wusste, wo man überholen konnte und wo die Kurven waren, in denen man vom Gegenverkehr geschnitten wurde.
Zum ersten Mal war sie hier entlanggefahren, als Lombardi ihr nach dem Vorstellungsgespräch geraten hatte, sich einen Motorroller zu nehmen und einfach mal über die Insel zu gondeln, damit sie sich mit der Umgebung vertraut machen und vielleicht einige Vorurteile ablegen könnte. Sie war in Anacapri gelandet und hatte sofort entschieden, sich auf jeden Fall dort zum Wohnen niederzulassen. Die Leute in Anacapri kamen ihr weniger aufgeregt vor, und alles schien ein bisschen entspannter abzulaufen als in Capri.
Schon während sie den Roller parkte, sah sie die Frau, mit der sie verabredet war. Wie Caterina Agnesi im schneeweißen Kleid vor dem Vittoria-Denkmal wartete, so unbeweglich zwischen Buchsbaumhecken und Blumenrabatten, sah sie selbst aus wie eine Statue, ein Denkmal mit Hund, unbeeindruckt vom Trubel um sie herum.
Cirillo schlug vor, ins Café gegenüber zu gehen und sich reinzusetzen, wo sie mehr Ruhe hatten. Sie nahmen einen Tisch ganz hinten, bestellten Wasser und einen caffè shakerato, und Lando ließ sich zu ihren Füßen nieder, seine Schnauze platt auf dem Boden.
»Danke«, sagte Cirillo, »dass Sie die Zeit gefunden haben. Ich hätte Sie sonst auf die Wache bestellt.«
»Warum wollen Sie mich sprechen?« Agnesi streckte die Hand nach ihrem Hund aus. »Heute ist unser letzter Tag«, sagte sie, und der Hund wedelte einmal kurz mit dem Schwanz.
Cirillo schenkte vom Wasser ein, das der Kellner in einer Karaffe mit zwei Gläsern auf den Tisch gestellt hatte. »Ich glaube, dass Sie uns nicht die ganze Wahrheit gesagt haben.«
Überrascht schaute Agnesi auf. »Was meinen Sie?«
»Sie wissen doch, was ich meine.«
»Nein, ich weiß es wirklich nicht.«
»Ich möchte jetzt keine Zeit verschwenden. Sie haben Jack besser gekannt, als Sie uns erzählt haben, stimmt’s?«
Agnesis Augen füllten sich mit Tränen. Nach einigen Momenten fragte sie: »Woher wissen Sie das?«
»Reißen Sie sich bitte zusammen«, sagte Cirillo in ruhigem Ton, aber sie musste sich selber beherrschen. Diese Frau hatte etwas an sich, das sie reizte. »Erzählen Sie jetzt bitte die Wahrheit.«
Agnesi nickte. »Wo soll ich anfangen?«
»Am Anfang.«
Agnesi nahm einen Schluck des schaumigen Eiskaffees, stellte das Glas wieder ab und überlegte. »Es war am ersten August«, begann sie.
»Sprechen Sie bitte weiter und auch ein bisschen lauter.«
Agnesi räusperte sich. »Ein Samstag. Der erste Morgen nach unserer Anreise und noch ganz früh, ich schätze, es war vier, vielleicht halb fünf Uhr morgens. Lando war so unruhig, und da habe ich gesagt, okay, okay, dann packe ich eben jetzt schon meine Schwimmsachen. Wir gingen los in Richtung Punta Carena, immer an der Hauptstraße entlang. Lando ist dann die ganze Zeit wie wild auf den Felsen oberhalb des Wassers herumgesprungen, und plötzlich war er verschwunden. Einfach weg. Ich rief ihn – nichts. Das Erste, was ich dachte: Er ist abgerutscht und ins Meer gefallen, und jetzt kommt er nicht mehr raus. Vielleicht ist er verletzt und wird gerade von der Strömung ins Meer hinausgezogen. Normalerweise bin ich nicht so ängstlich, aber in dieser Situation, auf der fremden Insel, da bekam ich Panik.« Agnesi umklammerte mit beiden Händen ihr Wasserglas und starrte geradeaus auf den Tisch. »Dann irgendwann hörte ich ein Jaulen. Ganz erbärmlich hörte es sich an. Ich konnte nicht orten, woher es kam. Ich kletterte über die Steine, schrie mir die Seele aus dem Leib, ›Lando!‹, rief ich. Und dann endlich fand ich ihn. Ich war so erleichtert. Er bellte etwas an, das ich nicht sehen konnte. Vielleicht eine Schlange, dachte ich, oder ein totes Tier. Er war wie hypnotisiert und reagierte überhaupt nicht auf mein Rufen. Also kroch ich auf allen vieren über den steilen Felsen.«
Agnesi stockte, als würde ihr die Erinnerung an das, was sie dort gesehen hatte, wieder den Atem verschlagen.
»Ich sah zuerst nur die nackten Füße.«
Weil Agnesi wieder stockte, hakte Cirillo nach: »Sie sahen Füße?«
Ohne Vorwarnung brach Agnesi in Tränen aus. »Wie gestern auf dem Boot«, schluchzte sie. »Die Beine lang ausgestreckt, das Hemd aufgeknöpft.«
»Beruhigen Sie sich bitte. Heißt das, wir reden hier von Jack?«
Agnesi nickte.
»Was war los? War er verletzt?«
»Ich habe buongiorno gesagt, aber er hat nur die Hand gehoben.«
»Und dann?«
»War ich erst mal damit beschäftigt, Lando zu beruhigen. ›Lando, beruhige dich‹, sagte ich und entschuldigte mich bei dem Mann, aber er hatte gar keine Angst.«
»Hat er Ihnen seinen Namen gesagt?«
»Nur seinen Vornamen. Jack.«
»Sind Sie mit ihm ins Gespräch gekommen?«
»Er war in einer seltsamen Stimmung, so melancholisch. Vielleicht war er bekifft.«
»Worüber haben Sie gesprochen? Bitte überlegen Sie. Jede Kleinigkeit ist wichtig.«
Agnesi schniefte. »Er sagte, er sei enttäuscht.«
»Enttäuscht? Wovon?«
»Von den Menschen, die er am meisten schätzt.«
»Hat er irgendwelche Namen genannt?«
Agnesi schüttelte den Kopf. »Er sagte, alle würden ihn ausnutzen. Alle. Er hat keinen speziellen Namen genannt. Aber ich muss sagen, es gab gleich eine Verbindung zwischen uns, so etwas ganz Tiefes.« Agnesi schaute auf die Straße hinaus, wo der Kellner, mit der Kamera in der Hand, ein Foto von den Leuten am Tisch machte.
»Sein voller Name war Jack Milani«, erklärte Cirillo. »Sagt Ihnen der Nachname etwas?«
Agnesi schüttelte den Kopf.
»Wie ging es weiter?«, fragte Cirillo. »Hatten Sie Sex?«
Agnesi errötete. »Nein!«
»Was passierte dann?«
Agnesi hob die Schultern. »Er ist aufgestanden, hat gesagt: ›Wir sehen uns wieder, Baby‹, und ist gegangen.«
Cirillo schnaubte verächtlich und lehnte sich über den Tisch, um Agnesi besser in die Augen sehen zu können. »Ist das jetzt die ganze Wahrheit?«
»Ja.«
»Sie haben nicht wieder etwas ausgelassen?«
»Ich war im Schock, gestern«, stammelte Agnesi. »Wie Jack dalag, im Boot, das hat mich total daran erinnert, wie ich ihn hinter den Felsen gesehen hatte.«
Cirillo ließ Agnesi nicht aus den Augen.
»Er lag genau so da, in derselben Haltung, das war total gespenstisch.«
»Und Ihre Begegnung mit ihm auf der Via Camerelle, von der Sie gestern erzählt haben – die hat tatsächlich so stattgefunden?«
»Ja, das war noch am selben Abend.« Agnesi senkte den Blick. »Ich dachte: Das gibt’s doch nicht! Das ist der Typ, den ich am Morgen auf den Felsen kennengelernt habe. Steht da mit seiner Gitarre.«
»Und neben ihm eine Frau«, fügte Cirillo hinzu.
»Ja.«
»Waren Sie enttäuscht?«
Agnesi zuckte die Achseln. »Nicht wirklich. Er hat den Blickkontakt mit mir gesucht, und das war irgendwie ein Abturner. Tut mir leid, so eine bin ich nicht. Ich bin dann weg, wie ich es Ihrem Kollegen erzählt habe.«
»Und wo haben Sie den Mann das nächste Mal gesehen?«
»Überhaupt nicht. Erst gestern, als er tot im Boot lag.«
»Sie sind ihm die ganze Woche nicht begegnet?«
»Wenn ich es Ihnen doch sage!«
Agnesi schloss die Augen, und plötzlich hatte Cirillo das Gefühl, dass die Frau die Aufmerksamkeit aus vollem Herzen genoss.
Cirillo lehnte sich zurück und musterte Agnesi. »Wissen Sie, was ich glaube? Sie erzählen mir hier wieder nur die halbe Wahrheit.«
Agnesi verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen zusammen.
»Ich glaube«, fuhr Cirillo fort, »dass Sie seit Ihrer ersten Begegnung jeden Morgen nach Punta Carena gepilgert sind und dass Sie Jack dort jeden Morgen getroffen haben.«
»Unsinn! Wie kommen Sie darauf?«
»Ein herrlich spannender Urlaubsflirt war es, stimmt’s? Aber als sich der Urlaub dem Ende näherte und Sie sich wünschten, dass es immer so weiterginge, sagte er Ihnen: ›Es ist vorbei.‹«
»Quatsch. Ich hätte Ihnen gar nichts erzählen und einfach meine Klappe halten sollen.«
»Sie waren verletzt und gekränkt, weil Ihnen plötzlich klarwurde, dass Sie für Jack genau das sind, was Sie auf keinen Fall sein wollten: eine Urlaubsaffäre, die mit Ihrer Abreise automatisch endet.«
»Das ist nicht wahr!«
»Und dann sind bei Ihnen die Sicherungen durchgebrannt.«
Agnesi schaute Cirillo entsetzt an: »Sie verdächtigen mich?«
»Vielleicht mit dem Messer, das er dabeihatte, für das Frühstück danach?«
»Nein!« Puterrot im Gesicht, versuchte Agnesi, Cirillos Blick standzuhalten.
»Okay«, sagte sie plötzlich. »Wenn sich die Gelegenheit geboten hätte, hätte ich vielleicht tatsächlich etwas mit Jack angefangen. Aber dazu ist es nicht gekommen. Das müssen Sie mir glauben. Er hat sich die ganze Woche über nicht am Strand blicken lassen. Kein einziges Mal, ich schwöre es Ihnen.«
»Dennoch«, erklärte Cirillo, »muss ich Ihnen sagen, dass Sie die Insel vorerst nicht verlassen dürfen.«
»Was?«
»Erst muss ich Ihre Aussage zu Protokoll nehmen und Rücksprache mit dem Ispettore halten.«
»Aber ich muss zurück«, stammelte Agnesi. »Ich muss arbeiten.«
»Das hätten Sie sich früher überlegen müssen.« Cirillo nahm das Telefon und drückte auf die Kurzwahltaste.
Zwanzig Minuten später stieg Cirillo die Außentreppe zu ihrem Apartment hinauf, schloss die Tür auf, gab ihr hinter sich einen Tritt und fiel zwei Schritte weiter wie erschossen aufs Bett, wo sie mit dem Gesicht nach unten liegen blieb.
Das Gespräch mit Caterina Agnesi, die Hitze, ihre Uniform und dieser Fall machten sie fertig. Sie war im Moment nicht in der Lage zu beurteilen, ob sie dabei war, sich zu verrennen, oder ob diese Frau wirklich fähig war, im Affekt einen Mord zu begehen.
Sie drehte sich auf den Rücken, starrte an die Decke und versuchte, sich vorzustellen, wie Caterina Agnesi nach der Tat panisch das Messer von sich schleuderte und alles, was sich sonst im Boot befand, ins Wasser warf, wie sie selbst hinterhersprang und an Land schwamm.
Cirillo tastete nach dem Schalter des Tischventilators. Der Wind brachte etwas Erfrischung. Sie rappelte sich auf, ging zum Kühlschrank, holte die angebrochene Flasche Rosato Vesuvio heraus und schenkte sich ein halbes Glas ein. Das musste jetzt sein.
Ihr Blick fiel auf die Ansichtskarte, die am Wasserkocher lehnte. So oft hatte sie die Sätze gelesen, dass sie sie auswendig kannte.
»Ciao mamma«, stand da in Oscars noch nicht ganz ausgereifter Handschrift. »Hoffe, du hast dich inzwischen gut eingelebt auf Capri. Sehen wir uns irgendwann mal wieder in Stockholm? Un abbraccio, tuo Oscar.«
Irgendwann, schrieb er. Vielleicht war es dieses Wort, was sie am traurigsten machte.
Am liebsten hätte sie ihren Sohn bei sich. So ging es jeder Mutter. Aber es war nicht möglich, damit musste sie sich abfinden, und das konnte sie ja auch. Aber irgendwann war nicht weit entfernt von nie.
Es gab ja sowieso nur diese begrenzte Zeit, in der man zusammen sein konnte. Und irgendwann würde der Moment kommen, in dem man sich voneinander verabschieden musste und alles vorbei war. Manchmal kam er unerwartet schnell. Cirillo mochte gar nicht daran denken, wie den Eltern von Jack Milani die Nachricht vom Tod ihres Sohnes überbracht werden würde, das Schlimmste, was Eltern passieren konnte.
Ihr Telefon klingelte. Es war die Durchwahlnummer von Teresa Villa. Cirillo ließ sich zurück aufs Bett fallen und schloss die Augen. Ihre Glieder fühlten sich bleischwer an.