Rizzi hatte Commissario Serra noch nie leibhaftig zu Gesicht bekommen und stellte fest, dass der Mann, der da im Besucherstuhl an Lombardis Schreibtisch saß, ganz anders aussah als auf den Fotos im Internet, viel hagerer, fast asketisch. Die Haare trug er millimeterkurz, er hatte einen großen Mund und wache Augen, mit denen er Rizzi musterte. Es hieß, Commissario Serra sei angetreten, um in Neapel den Saustall auszumisten, aber das hatten vor ihm schon ganz andere gesagt.

»Sie sind also Agente Enrico Rizzi«, sagte Serra, ohne Anstalten zu machen, die Hand zu ergreifen, die Rizzi ihm hinstreckte.

»Wir haben schlechte Nachrichten«, erklärte Lombardi, der als schwarze Silhouette vor dem Panoramafenster stand. »Das Siegel an der Terrassentür der Villa Milani wurde beschädigt.«

»In der Via Tamborio? Wie kann das sein?« Rizzi schaute überrascht von Lombardi zum Commissario und wieder zurück.

Lombardi trat vor und lehnte sich über den Tisch. »Das frage ich Sie!« Rasch strich er sich die Haarsträhne zurück, die sich in der Erregung von seiner Glatze gelöst hatte. »Wurde das Objekt nicht bewacht?«

»Natürlich übernehmen Sie die«, meldete sich Commissario Serra. »Aber im Moment nützt uns das wenig. Wir müssen davon ausgehen, dass der Eindringling alle relevanten Spuren beseitigt hat.«

»Was eine Katastrophe wäre!«, wie Lombardi überflüssigerweise hinzufügte.

Rizzi ließ seine Mütze von einer Hand in die andere wandern. »Wie gesagt, der Kollege ist noch nicht lange im Dienst. Ich hätte ihn mit der Aufgabe nicht allein lassen dürfen. Es tut mir leid.«

»Setzen Sie sich, Agente«, sagte Commissario Serra und deutete auf den Stuhl zu seiner Rechten.

Rizzi gehorchte. »Was ist mit dem Mann, den wir in der vergangenen Nacht festgenommen haben?«

»Nino Ravelli?«, fragte Serra.

»Genau. Hat er noch eine Aussage gemacht?«

»Er wird in diesen Minuten dem Untersuchungsrichter vorgeführt«, erklärte Lombardi und fügte, an Commissario Serra gewandt, in einem versöhnlichen Tonfall hinzu: »Und wenn er den Mord gesteht, lieber Commissario, würde das den Einsatz von Agente Rizzi natürlich in ein ganz anderes Licht rücken. Ich meine, dann würde die Panne doch gar nicht mehr so sehr ins Gewicht fallen. Sie müssen nämlich wissen, Agente Rizzi ist mein bester Mann.«

Serra nestelte an seiner E-Zigarette, schlug ein Bein über das andere und schaute Rizzi prüfend an. »Sie haben sich in der vergangenen Nacht doch einen Eindruck von Ravelli

»Für mich ist der Mann unschuldig«, erwiderte Rizzi. »Ich weiß nicht, ob Sie den Kerzenhalter gesehen haben, der unter dem Sofa lag. Ich denke, es wird sich herausstellen, dass das Blut daran Ravellis Blut ist, und damit ist der Fall klar.«

»Nämlich?«

»Meine Theorie lautet folgendermaßen«, sagte Rizzi: »Der Mörder von Jack Milani – und ich rede jetzt nicht von Nino Ravelli – verschaff‌te sich in der Nacht nach der Tat Zugang zum Haus seines Opfers, um Material zu beseitigen, das ihn belasten könnte. Wobei ich keine Ahnung habe, was genau. Vielleicht ein Laptop?«

»Und weiter?«, fragte Serra.

»Dann wäre die Sache doch klar«, fuhr Rizzi fort. »Der Mörder wird beim Entfernen unliebsamer Spuren von Ravelli überrascht, greift zum Kerzenhalter, zieht Ravelli eins über und ergreift die Flucht.«

»Interessante Theorie«, sagte Serra. »Und was hatte Ravelli im Haus zu suchen?«

»Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass Jack Milani tot ist, und Ravelli wollte bei der hinterbliebenen Freundin den Witwentröster spielen. Er wusste anscheinend noch nicht, dass sie verschwunden ist.«

»Und das kaputte Siegel«, fragte Serra, »wie erklären Sie sich das?«

»Es ist ein Hinweis darauf, dass der Täter – oder sagen wir: der mutmaßliche Täter – zurückgekommen ist.«

»Ein zweites Mal?«

»Und warum«, fragte Serra, »sollte der Täter ein solches Risiko eingehen?«

»Na, den Mann möchte ich sehen, der solche Nerven hat«, meldete sich Lombardi zu Wort.

»Allerdings«, stimmte Rizzi zu. »Der Mann hat Nerven. Aber vielleicht hatte er keine Wahl. Vielleicht musste er nach dem Zusammenprall mit Ravelli und der überstürzten Flucht noch dringend die Fingerabdrücke am Kerzenhalter beseitigen. Oder, weil er gestört worden war, noch weiteres Beweismaterial aufspüren und beiseiteschaffen. Es gibt viele Gründe. Und dass wir ihn nicht daran gehindert haben und der Mann freie Bahn hatte, wie gesagt, das ist unverzeihlich.«

Der Commissario schaute nachdenklich aus dem Fenster. In der Stille, die sich im Raum ausbreitete, war ein Klopfen zu hören. Kurz darauf ging die Tür auf, und Teresa Villa streckte ihren Kopf herein. Die Brille, die sie bei der Arbeit am Computer trug, war ihr nach vorne auf die Nasenspitze gerutscht.

»Was ist denn?«, schnauzte Lombardi ungeduldig. »Ich habe doch gesagt: Wir wollen nicht gestört werden.«

»Ich wollte nur mitteilen, Savio ist nach Anacapri unterwegs, um Caterina Agnesi herzubringen.«

»Wen?«, fragte Lombardi unwillig.

»Die Frau, die den Toten in Punta Carena gefunden hatte.«

»Und was will sie? Jetzt lassen Sie sich doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!«

»Ich kann nur wiedergeben, was Agente Cirillo am

»Wunderbar.« Commissario Serra steckte sein E-Zigarettenetui ein und erhob sich. »Dann überstellen wir diese Frau jetzt nach Neapel – wie war ihr Name?«

»Die Zeugin? Caterina Agnesi.«

»Und Sie« – Serra machte eine Handbewegung, die Rizzi, Lombardi und Teresa Villa umfasste – »finden heraus, wie es dazu kommen konnte, dass da gestern Nacht jemand einfach so in die Villa an der Via Tamborio spazieren konnte.« Wieder übersah er die Hand, die Rizzi ihm entgegenstreckte. »Noch so ein Patzer, Agente, und die Sache wird Konsequenzen haben.«

*

Als Rizzi neben Teresa die Treppe zum Büro hinunterging, sagte sie zu ihm: »Mach dir nichts daraus. Hätte Cirillo genauso passieren können.«

Rizzi nahm sich ein Glas Wasser und setzte sich an den Schreibtisch. Cirillos Platz gegenüber war leer. »Wo ist sie eigentlich?«, fragte er.

»Keine Ahnung.« Teresa wühlte in ihrer Ablage.

»Und was heißt das?«

»Es ist ja nicht das erste Mal, dass sie zwischendurch abtaucht«, erklärte sie. »Und was sie dann treibt, weiß niemand.« Sie reichte ihm einen Zettel mit einer

Alessandro Pago, las Rizzi. Den Namen hatte er noch nie gehört. »Hat er gesagt, worum es geht?«

»Nur, dass er mit dir sprechen will. Arbeitet unten am Hafen, wenn ich ihn richtig verstanden habe.«

Rizzi wählte die Nummer, aber niemand nahm ab. »Wo ist eigentlich der Neue?«, fragte er und steckte den Zettel ein.

»Tiziano?« Teresa hörte auf zu tippen. »Den habe ich nach Hause geschickt.«

Rizzi schaute auf die Uhr. »Es ist halb eins.«

Sie drehte sich zu Rizzi herum. »Der Junge war hundemüde. Er stand sich fast sieben Stunden lang an der Via Tamborio die Beine in den Bauch.«

Rizzi stand auf. »Wenn er ausgeschlafen hat, soll er sich bei mir melden, und zwar schleunigst.« Er nahm seine Dienstwaffe und setzte seine Mütze auf. Teresas Parfüm war heute nicht zum Aushalten. »Ich gehe runter zum Hafen.«

An der Standseilbahn, der funicolare, war um diese Zeit, Richtung Hafen, nicht viel los. Fünf, sechs Leutchen in kurzen Hosen und Käppis warteten im Schatten der überdachten Station. Rizzi grüßte Fortunata Parisi im Kassenhäuschen, die wie immer ein paar Worte mit ihm wechselte und ihn diesmal nach einem Fliesenleger fragte, und beobachtete durch seine Sonnenbrille, wie zwei Spanierinnen die Treppe zur Bahn hinunterstiegen.

Seine Kollegin Antonia Cirillo schien ehrgeiziger zu sein, als er gedacht hätte. Und das, wo man doch munkelte,

»Nimm Pasquale«, sagte er zu Fortunata. »Aber bezahl ihn richtig.«

Ihm war es egal, was Cirillo machte, solange sie ihm nicht in die Quere kam. Er war müde nach der kurzen Nacht und hätte jetzt eigentlich am liebsten unterm Walnussbaum etwas Schlaf nachgeholt.

»Hörst du mir eigentlich zu?«, fragte Fortunata aus ihrem Kassenhäuschen. »Da will jemand etwas von dir.«

Rizzi drehte sich um.

Commissario Serra trug eine Sonnenbrille mit roséfarbenen Gläsern und, passend zum Leinenanzug, einen Strohhut mit kleiner Krempe. »Ich dachte, Sie wären schon auf dem Weg nach Neapel«, sagte Rizzi überrascht.

Serra schaute sich um. »Ich wollte einen Happen essen gehen«, sagte er. »Leisten Sie mir Gesellschaft?«

Es hörte sich nicht nach einer Frage an, eher nach einem Befehl.

»Kommen Sie.« Der Commissario schob sich den Hut aus der Stirn, was ihn plötzlich ganz verwegen aussehen ließ.

Auf dem Weg die Via Vittorio Emanuele hinunter war es unmöglich, ein Gespräch zu führen. Gepäckwagen hupten, und Leute schnatterten in allen Sprachen dieser Welt. Und Serras Miene ließ keine Schlüsse zu.

Wo die Via Camerelle, die Vittorio Emanuele und die Serena zusammenkamen, stand das Hotel Quisisana mit

Bevor er etwas sagen konnte, tauchte ein Herr im dunklen Anzug auf, am Kragenaufschlag die gekreuzten goldenen Schlüssel des Empfangschefs. Er schüttelte Serra die Hand und sagte: »Wie schön, Commissario, dass Sie uns mal wieder beehren.« Während er sich nach dem Wohlbefinden erkundigte, brachte er mit einer knappen Geste den Oberkellner auf Trab, streckte dann lächelnd den Arm aus und sagte: »Signori, wenn Sie mir bitte folgen möchten?«

Der Platz befand sich auf der Terrasse, am Ende einer langen Flucht aus weißgedeckten Tischen, an denen die Gäste entspannt miteinander plauderten, als gäbe es keine Sorgen und schon gar kein Verbrechen, nur Beistelltische, Weinkübel und Schmuck, und wenn etwas knallte, war es ein Champagnerkorken, begleitet von einem perlenden Lachen.

»Martini?«, fragte Serra und signalisierte dem Kellner mit Zeige- und dem Mittelfinger: zwei.

»Commissario«, sagte Rizzi, »ich bin im Dienst, und unten am Hafen wartet jemand, der eine Aussage machen möchte.«

»Ihr Pfl‌ichtbewusstsein ehrt Sie«, sagte Serra, »aber der rennt Ihnen schon nicht weg. Und die cozze alla marinara sind hier ganz ausgezeichnet.«

Rizzi dachte, dass die Meeresfrüchte in der Brasserie an der Via Bof‌fe in Anacapri den hiesigen wahrscheinlich

»Das kann man so nicht sagen«, entgegnete der Commissario zerstreut. Er ließ seinen Blick über die Speisekarte schweifen und diktierte dem Kellner das Menü. »Sie sind doch einverstanden?«, fragte Serra, nachdem der Kellner sich mit einer knappen Verbeugung zurückgezogen hatte.

»Commissario«, entgegnete Rizzi, »worum geht es?«

Serra nahm seine E-Zigarette in Betrieb und betrachtete Rizzi nachdenklich. Vielleicht, schoss es Rizzi durch den Kopf, wollte der Commissario einen Deal machen: Rizzi durf‌te, trotz der Panne, an den Ermittlungen beteiligt bleiben, musste im Gegenzug aber Informationen über den hiesigen Polizeibetrieb liefern, Interna, die Serra von Lombardi nie bekommen würde.

Noch einmal zog Serra an seiner Zigarette und sagte beim Ausatmen, jedes Wort von Dampf unterlegt: »Bei allem Respekt, Rizzi, was machen Sie hier eigentlich?«

»Wie bitte?«

»Warum sind Sie hier?«

»Sie meinen, warum ich hier mit Ihnen Martini trinke?«

Serra schüttelte den Kopf. »Sie verstehen mich völlig falsch.«

»Was die Panne angeht«, sagte Rizzi, »heute Morgen, dass da jemand im Haus war, ohne dass wir etwas davon mitbekommen haben: Ich konnte mit dem Kollegen noch nicht sprechen.

»Jetzt entspannen Sie sich mal.« Serra schaute ihn wieder mit diesem Blick an, den Rizzi nicht einordnen konnte.

»Ich bin hier geboren, Commissario.«

»Das ist kein Grund. Leute wie Sie gehen dorthin, wo sie gebraucht werden, wo vielleicht größere Aufgaben warten als hier auf dieser …«, er suchte nach einem passenden Ausdruck, fand aber nur ein Wort: »… Insel.« Aus seinem Mund hörte es sich wie ein Schimpfwort an.

Rizzi nippte an seinem Martini und überlegte, ob er den Commissario daran erinnern musste, dass auf dieser Insel vor weniger als achtundvierzig Stunden ein Mord verübt worden war.

»Jetzt gucken Sie nicht so, Rizzi. Oder kapieren Sie immer noch nicht, worum es hier geht?« Serra schob Teller und Besteck beiseite und beugte sich vor. »Ich bin nun seit fast einem Jahr Leiter der Mordkommission in Neapel«, sagte er und senkte dabei seine Stimme, was der ganzen Unterhaltung von einem Moment auf den anderen etwas Konspiratives gab. »Fast ein Jahr, Rizzi, das müssen Sie sich mal vorstellen, und ich bin immer noch damit beschäftigt, mir eine schlagkräftige Truppe aufzubauen. Verstehen Sie? Ich suche fähige Leute mit Biss, Leute wie Sie, die selbständig denken, mutig sind und sich von Hierarchien oder vermeintlichen Autoritäten nicht so schnell beeindrucken lassen.« Er fixierte Rizzi. »Wie alt sind Sie?«

»Zweiunddreißig«, antwortete Rizzi.

»Verheiratet?«

Rizzi schüttelte den Kopf.

»Wenn Sie es genau wissen wollen«, Rizzi schenkte sich Wasser nach, »ich war verheiratet, aber unsere Ehe hat nicht gehalten. Aus verschiedenen Gründen. Aber irgendwann, in nicht allzu ferner Zukunft, will ich eine eigene Familie gründen.«

»Und wie lange sind Sie schon hier auf der Insel – ich meine, beruf‌lich?«

»Seit sechs Jahren. Und auch wenn Sie einen anderen Eindruck bekommen haben sollten: Wir sind ein gutes Team. Ispettore Lombardi lässt mir weitgehend freie Hand, und mit unserer Aufklärungsquote liegen wir – im Vergleich zu Ischia und Procida – drei beziehungsweise vier Prozent über dem Durchschnitt.«

»Aufklärungsquote?« Serra schaute ihn ausdruckslos an. »Aufklärungsquote – wovon?«

Die Miesmuscheln wurden serviert. Serra schlug die Serviette auf, als handelte es sich um ein Stück Wäsche. »Worum geht es in Ihrem Alltag, in Ihrer beruf‌lichen Routine?«, fragte er, während er eine Zitronenhälfte nahm und den Saft über das orange schimmernde Fleisch träufelte. »Pfeffer?«, fragte er.

Rizzi nickte.

»Korrigieren Sie mich«, fuhr der Commissario fort, »aber wahrscheinlich haben Sie es hier auf Capri vor allem mit Drogen- und Eigentumsdelikten zu tun und natürlich haufenweise mit Anzeigen, stimmt’s? Der Großteil davon anonym, hauptsächlich wegen Verstößen gegen die Parkordnung und weil jemand ein Mäuerchen versetzt hat. Und Sie müssen jeder verdammten Anzeige nachgehen.«

Der zitronig-salzige Geschmack mit der Prise frischem Pfeffer passte perfekt zu dem eiskalten Falanghina. Rizzi stellte sein Glas ab. »Neben allem, was Sie genannt haben, haben wir immer wieder mit Körperverletzung zu tun, vor allem mit häuslicher Gewalt, Tendenz steigend. Ich weiß nicht, woran es liegt, diese Verrohung.« Er signalisierte dem Kellner, dass er nicht mehr nachgeschenkt bekommen wollte. »Und bitte vergessen Sie nicht, Commissario«, fuhr Rizzi fort, »wir haben es hier auf Capri seit gestern mit einem Mord zu tun. Die Freundin des Toten, eine gewisse Sof‌ia, wird vermisst, und wir wissen nicht, was passiert ist, ob wir sie demnächst tot aus dem Wasser ziehen oder ob sie etwas mit dem Mord zu tun hat.«

»Was ich nur sagen wollte«, erklärte Serra. »Ich kenne Ihren Alltag rauf und runter. Ich habe mich in meiner Zeit als Agente selbst zur Genüge mit diesen Bagatellen herumschlagen müssen, und ich erinnere mich daran mit Grauen.«

»Wo waren Sie?«, fragte Rizzi.

»Roccabianca. Ein Kaff in der Poebene, am Arsch der Welt. Danach bin ich nach Florenz gekommen, da war es dann schon etwas besser.«

»Verheiratet?«

»Glücklich geschieden. Zweimal.« Serra hielt sich die Serviette an den Mund.

»Kinder?«

»Wie alt?«

»Achtzehn.«

»Dann haben Sie aber früh angefangen.«

»Nicht so früh, wie Sie vielleicht denken.« Er starrte in die Ferne, und seine Augen bekamen plötzlich einen melancholischen Ausdruck. »Ich gebe zu«, sagte er, »im Privaten ist bei mir nicht alles so gelaufen, wie ich es mir gewünscht hätte.« Serra nippte am Wein. »Aber was das Beruf‌liche angeht, kann ich sagen, bin ich mit meinen fünfundvierzig Jahren da angekommen, wo ich seit je hinwollte. Und Sie, mein lieber Rizzi, sollten sich auch fragen, wo Sie in – sagen wir – zehn Jahren sein wollen. Wollen Sie dann immer noch als Agente Parktickets verteilen, Fahrzeughalter aufspüren und springen, wenn der Ispettore mit den Fingern schnippt?«

Rizzi schwieg. Commissario Serra hatte einen Punkt getroffen, über den er auch immer mal wieder nachdachte. Andererseits war seine Devise immer gewesen, dass sich schon alles zum rechten Zeitpunkt finden würde.

Und wenn das hier jetzt der besagte Zeitpunkt war? Die Chance, die er nicht ungenutzt verstreichen lassen durf‌te?

Als sie sich vor dem Quisisana voneinander verabschiedeten, sagte Commissario Serra: »Mein Angebot steht jedenfalls. Kommen Sie zu uns, und ich verspreche Ihnen, dass Sie in meinem Team nicht ganz unten anfangen müssen. Ich verhelfe Ihnen zu einem interessanten Job und zu einer Karriere.« Er legte Rizzi die Hand auf die Schulter. »Überlegen Sie, aber überlegen Sie nicht zu lange. Es warten große, komplizierte Fälle auf uns, Rizzi, und es täte mir

Serra setzte seine Sonnenbrille auf, während ein Trupp Fotografen vorbeihastete und sich an die Fersen einer langbeinigen, schönen Frau setzte, die einen runden Strohhut und Pilotensonnenbrille trug und in Begleitung eines jungen bärtigen Mannes in Flipflops war. »Heidi«, riefen die Fotografen, »schau mal hierher!«

Der Commissario drehte sich um und richtete seinen Finger wie eine Pistole auf Rizzi. »Unser Treffen und was wir besprochen haben, behandeln Sie natürlich vertraulich.« Er gab Rizzi die Hand, tippte sich an den Hut und verschwand zwischen den Leuten.

Es war kurz nach drei Uhr. Rizzi trat in den Schatten der Hauswand und versuchte noch einmal, telefonisch den Mann zu erreichen, der eine Aussage machen wollte – vergeblich. Rizzi steckte das Telefon weg und überlegte.

Fünfzehn Minuten später trat er an der Via Cristoforo Colombo an einen der Ticketschalter und erkundigte sich, ob hier ein Alessandro Pago bekannt sei.

»Alessandro Pago«, wiederholte die Frau hinter der getönten Scheibe. »Wer soll das sein?«

»Er arbeitet hier am Hafen«, sagte Rizzi.

»Für uns?«

»Keine Ahnung. Ich habe nur seine Mobilnummer, aber da geht niemand ran.«

»Alessandro Pago«, rief die Frau über ihre Schulter, wo zwei Mitarbeiter am Computer saßen und aufschauten.

»Verzeihung, wir warten hier schon etwas länger.« Ein

»Bitte.« Rizzi trat einen Schritt zur Seite. »Ich will Sie nicht aufhalten.«

»Sie müssen zuerst nach Sorrent«, erklärte die Frau dem rotgesichtigen Mann und tippte auf das Schild an der Scheibe, »und dann mit dem Bus weiter. Zweimal?«

Rizzi kontrollierte sein Telefon und bemerkte, wie jemand an seiner Uniformjacke zupf‌te: ein Junge in Badehose, spindeldürr, dessen Geschäftsmodell wohl darin bestand, mit seinen samtigen braunen Augen zu den Leuten aufzuschauen und auf das Wechselgeld zu hoffen, das sie beim Fahrkartenkauf herausbekamen.

»Was willst du?«, fragte Rizzi.

»Ich kenne Alessandro«, sagte der Junge.

»Alessandro Pago?« Rizzi musterte den Jungen. »Willst du bloß Geld, oder kennst du ihn wirklich?«

»Kommen Sie!«

Der Junge lief los, rannte barfüßig zwischen den Reisenden an der Mole hindurch, sprang über Koffer, schaute sich nach Rizzi um und rief: »Agente, mach schnell!«