»Bist du wach?«, rief Barbara aus dem Badezimmer.

Rizzi streckte den Arm aus und tastete nach seiner Armbanduhr. Es war 7.55 Uhr, und es roch nach Kaffee.

»Ich habe um neun einen Termin am Verwaltungsgericht.« Eine Schranktür knallte zu. »Wann geht dein aliscafo? Wenn du willst, kann ich dich am Hafen absetzen.«

Das Sofa, auf dem er lag, hing in der Mitte durch und war eine Hinterlassenschaft von Barbaras Ex, Samantha. Zoe, die Neue, hatte sich jedoch schon gut in Position gebracht, indem sie drüben auf dem Küchenschrank, für alle gut sichtbar, schon mal eine nagelneue Espressomaschine platziert hatte.

Rizzi hatte Zoe nun doch nicht zu Gesicht bekommen, aber, den Fotos nach zu urteilen, war sie extrem hübsch und, wie Barbara sich ausdrückte, »auch nicht so schrecklich kompliziert«. Barbara war – was ihr Liebesleben betraf – ständig am Umräumen, aber nie am Aufräumen oder gar am Saubermachen, und das meinte er durchaus auch wörtlich und hatte es ihr gestern beim Pastakochen auch gesagt. Als Bruder habe er das Recht dazu, fand er, worauf Barbara ihm vorwarf, die Nummer könne er bei seiner Gina abziehen, obwohl – da würde er wahrscheinlich kuschen,

Rizzi angelte nach dem Telefon in seiner Uniformjacke und wählte die Durchwahl von Commissario Serra. Am anderen Ende meldete sich die Zentrale. Der Commissario, hieß es, sei noch nicht am Platz.

»Können Sie mir sagen, wann er reinkommt?« Rizzi stopf‌te sich das Hemd in die Hose. Unter dem Fenster rumpelte es, als würden Fässer über die Straße gerollt.

»Wie war Ihr Name?«, fragte die Stimme am anderen Ende.

»Rizzi. Agente Enrico Rizzi. Vom Polizeiposten Capri. Ich bin gerade in Neapel.«

»Versuchen Sie es später noch einmal.« Die Verbindung wurde beendet.

Barbara trug bereits ihr Büro-Outfit, ein dunkles Kostüm, war aber noch barfuß und stellte ihm einen Espresso hin. »Du willst den Commissario jetzt doch treffen?«, fragte sie. »Wegen der Stelle?«

»Ich muss mit ihm über den Fall sprechen«, entgegnete Rizzi. Er blies vorsichtig auf seinen heißen Espresso und fragte: »Sag mal, was redet man bei euch eigentlich so über Commissario Serra?«

»Ich habe nichts mit dem Mann direkt zu tun.« Barbara riss sich von einem Cornetto ein Stück ab. »Aber was ich so mitbekomme, gibt es zwei Lager: Die einen meinen, Serra sei ein Schwätzer, ein Blender, der vor allem große Töne spuckt. Wo den Worten niemals Taten folgen werden. Und die anderen glauben, dass er tatsächlich etwas verändern

»Und was denkst du?«

»Er steht unter Druck. Er muss liefern.«

»Und über ihn persönlich?«

Barbara überlegte. Die dunklen Locken standen so wild vom Kopf ab, dass ihr zartes Gesicht noch zarter erschien. »Er ist ehrgeizig, kein Zweifel, und er will an die großen Fälle ran. Die Frage ist nur, ob man ihn lässt.«

»Die großen Fälle«, wiederholte Rizzi. »Was soll das eigentlich heißen? Gibt es bei Mord große und kleine Fälle? Und wenn ja, bedeutet es, dass ein Toter auf Capri ein kleiner Fall ist?«

»Das hast du jetzt gesagt.« Barbara stand auf.

»Jack Milani hat hier in Neapel, zwei Tage bevor er ermordet wurde, jemanden getroffen.« Rizzi stellte seine Tasse ab. »Und seine Freundin, diese Sof‌ia, ist seit der Tatnacht spurlos verschwunden. Vielleicht ist sie auch tot.«

»Oder sie ist die Täterin«, rief Barbara aus dem Flur.

»Und ihre Flucht ist ein Schuldeingeständnis?« Rizzi zog sich die Stiefel an.

»Was sonst?«

»Wenn eine Frau ihren Mann umbringt, was könnte sie dann für ein Motiv haben?«, fragte er.

»Frauen kennen nur ein Motiv.« Barbara blieb in der Tür stehen und schaute sich suchend um. »Hast du meine dunkelblauen Schuhe irgendwo gesehen?«

»Welches Motiv meinst du?«

»Eifersucht.« Barbara bückte sich und zog ein Paar

*

Von der Via Toledo kommend, bahnte Rizzi sich einen Weg zwischen den Verkaufsständen hindurch – Krawatten, Smartphone-Hüllen, Heiligenbildchen und anderer Krimskrams aus China – und lief über die Piazza Carità, entlang den riesigen Verwaltungsgebäuden, die ihm wie Kulissen vorkamen, von Mussolini in den dreißiger Jahren errichtet. Das neue Zentrum sollte einmal für technischen Fortschritt, Ef‌fizienz und eine neue Ordnung stehen. Heute benutzten Rentner, Geflüchtete und andere bedürf‌tige Menschen die große Treppe als Auslage für Hausrat und Familienschmuck, den sie in ihrer Not versuchten zu Geld zu machen. Rizzi warf einem afrikanischen Bettler eine Münze in den Pappbecher und ging zum Eingang der Questura.

Obwohl die Tür zur Loge offen stand, schaltete der Pförtner hinter der Glasscheibe seine Gegensprechanlage ein. »Zu wem wollen Sie?«

»Zu Commissario Serra.«

»Und Sie sind …?«

»Agente Enrico Rizzi.«

»Abtei‌lung?«

»Vom Polizeiposten Capri.«

Der Mann griff zum Hörer, legte aber gleich wieder auf. »Sie kennen den Weg?«, fragte er. »Dritter Stock, links. Zimmer 301

Rizzi nahm die Treppe, die in der hohen Halle im

Im dritten Stock klopf‌te er, wartete und öffnete. Ein Blatt Papier segelte im Luftzug vom Schreibtisch und landete vor seinen Füßen. Es war ein Urlaubsan‌trag.

Er legte das Formular auf den Schreibtisch zurück, der mit Aktenordnern beladen war, während der Arbeitsplatz gegenüber akribisch aufgeräumt war. Durch das Fenster drang fast gar kein Licht, weshalb unter der hohen Decke eine Neonröhre brummte und die Wandfarbe in ein undefinierbares Grün verwandelte. An der Stirnwand hing ein Stadtplan von Neapel, in dem verstreut Fähnchen steckten. Die Karte hörte da auf, wo Capri anfing. Gegenüber, neben dem Waschbecken, stand ein Garderobenständer, an dem ein Geschirrtuch hing. Die Tür zum Nebenraum war halb geöffnet.

»Buongiorno«, rief Rizzi.

Drüben wurde ein Stuhl gerückt, und kurz darauf erschien ein Mann im Anzug mit Dreitagebart. Er schaute Rizzi fragend an. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich möchte zu Commissario Serra.« Rizzi nahm seine Mütze ab. »Agente Enrico Rizzi. Aus Capri. Es geht um den Mordfall Jack Milani.«

Der Mann ergriff zerstreut Rizzis Hand. »Wir hatten

Ein zweiter Kriminalbeamter, einen halben Kopf größer als der erste, erschien, über dem karierten Hemd ein Schulterhalf‌ter mit Pistole. »Haben Sie einen Termin?«, fragte er.

Rizzi verneinte und berichtete, dass im Fall Milani eine Spur nach Neapel führte und er deshalb in der Gegend gewesen sei.

»Aha«, meinte der größere von beiden und sagte zu seinem Kollegen: »Capri? Gab es da nicht gerade eine Festnahme?«

»Caterina Agnesi?«, fragte Rizzi. »Die Frau mit dem Hund?«

Der Beamte schüttelte den Kopf. »Die haben wir gestern gleich wieder nach Hause geschickt.«

»Tatsächlich?« Rizzi nickte überrascht. »Dann kann es sich eigentlich nur um Nino Ravelli handeln. Ich weiß nicht, wie ihr den Fall einschätzt, aber ich halte den Mann für unschuldig. Es sei denn, er hat sich die Wunde am Hinterkopf selbst beigebracht, aber das ist ziemlich unwahrscheinlich. Außerdem ist da noch die Aussage von dem Nachbarn. Kennt ihr das Protokoll? Signor Benedetti hat ganz klar gesagt, dass er eine zweite Person gesehen hat.«

Der Commissario trat ins Zimmer. »Schau an«, sagte er. »Agente Rizzi.«

Serra machte eine Handbewegung, und die beiden Beamten verschwanden im Nebenzimmer und schlossen hinter sich die Tür.

»Nehmen Sie doch Platz.« Serra zeigte auf den Stuhl,

Rizzi berichtete, dass er gestern noch besagten Zeugen getroffen hatte, Alessandro Pago, ein Steward, der auf der Strecke Capri–Neapel arbeitete und bei einer Überfahrt am vergangenen Montag die Bekanntschaft mit Jack Milani gemacht hatte.

»Verstehe«, sagte der Commissario mit einem Seitenblick zum Computer. Er verströmte den Duft von gutem Rasierwasser und eine Gelassenheit, als gäbe es keine ungelösten Kriminalfälle und keine Aktenberge auf dem Schreibtisch. »Sie hatten gestern ja schon so etwas erwähnt.« Er streckte den Arm aus und bewegte die Maus. Auf dem Bildschirm erschien das Mailprogramm.

Rizzi fuhr fort zu berichten, wie ihn Pagos Aussage in die Via dei Tribunali zur Musikalienhand‌lung Melodia e note geführt habe. Dort sei ihm bestätigt worden, dass Jack Milani sich tatsächlich – wie der Zeuge Pago angegeben hatte – nach einem Verstärker erkundigt hatte, bevor er jemanden auf der Straße sah, den er kannte.

Serra klickte sich in seine Mails. »Und?«, fragte er. »Ich höre.«

Rizzi fuhr mit der Hand in seine Innentasche. »Die Zeugin, die das alles beobachtet hat, heißt Manuela Bianchi.« Er legte ihre Visitenkarte auf den Tisch und dazu die von Melodia e note.

»Theoretisch könnte Milani seinem Mörder begegnet sein«, sagte Rizzi – und in die Stille hinein: »Und wo ich schon mal hier bin, Commissario, dachte ich, könnten Sie mich gleich auf den neuesten Stand bringen.«

»Fünf Messerstiche.« Serra schnalzte mit der Zunge. »Einer davon direkt ins Herz. Todeszeitpunkt zwischen zwei und vier Uhr morgens.«

»Und die Tatwaffe?«

»Klinge von zwölf Zentimetern. Keine Fingerabdrücke und – bevor Sie fragen – auch sonst keine verwertbaren Spuren. Und dann natürlich der Kerzenständer. Das Blut daran stammt, wie zu erwarten, von Ravelli.«

»Und die Angehörigen? Sind sie benachrichtigt?«

»Die Angehörigen?«, murmelte Serra und rief nach nebenan: »Wann kommen noch mal die Turiner?« Als keine Antwort kam, sagte er: »Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Termin in der Gerichtsmedizin für morgen um 13 Uhr angesetzt ist.«

»Morgen?«, fragte Rizzi. »An ferragosto

»Es geht nicht anders«, sagte Serra. »Danach wollen sie, wenn ich richtig informiert bin, nach Capri.«

Rizzi überlegte. »Vielleicht wäre es angebracht, wenn ich die Leute auf der Insel in Empfang nehme. Immerhin haben sie dann gerade ihren Sohn identifiziert.«

»Gute Idee, Rizzi.« Serra schaute ihn nachdenklich an. »Ich werde veranlassen, dass die Angehörigen rübergefahren und Sie rechtzeitig informiert werden.« Serra lehnte sich zurück und verschränkte die Hände am Hinterkopf. »Aber

»Sie meinen, Ihr Angebot?« Rizzi zögerte. »Ich muss noch darüber nachdenken.«

Serra schnellte vor und wandte sich wieder seinem Computer zu. »Tun Sie das«, sagte er. »Und was die Festnahme angeht, halten Sie mich auf dem Laufenden. Aber bitte« – er fasste sich kurz an die Nase – »halten Sie den Dienstweg ein. Das heißt: Ab sofort alle Informationen über Lombardi.«

»Selbstverständlich, Commissario.«

In der Tür drehte Rizzi sich um und fragte verwundert: »Entschuldigung, von welcher Festnahme sprechen Sie?«

»Wollen Sie mich verschaukeln?« Serra starrte in den Computer. »Der Mann, der heute Morgen an der Via Tamborio aufgetaucht ist.«

Alarmiert holte Rizzi sein Telefon hervor. Ein verpasster Anruf und eine Kurzmittei‌lung von Teresa Villa. Er öffnete die Nachricht.

»Das gibt’s doch nicht!«, entfuhr es ihm. »Luigi Polito, der Bruder der vermissten Sof‌ia!« Rizzi schaute auf die Uhr. Das 11.30-Uhr-aliscafo könnte er gerade noch schaffen.

»Dann mal los«, sagte Serra. »Ich erwarte, dass Sie den Fall nun auch rasch zum Abschluss bringen.«