Um sich einen Überblick über die Ereignisse zu verschaffen, las Rizzi auf der Überfahrt nach Capri das Protokoll, das Cirillo angefertigt und Teresa ihm auf sein Telefon geschickt hatte.
8.50 Uhr, Eingang Anruf Andrea Benedetti, Anwohner Via Tamborio, der vom Nachbargrundstück der Familie Milani (Via Tamborio 228) eine unbekannte Person gesichtet hat. Einsatz durch A. Cirillo, M. Savio.
9.15 Uhr, Eintreffen am Objekt. Ansprache der verdächtigen Person. Nach Fluchtversuch vorläufige Festnahme bei erheblichem Widerstand.
10.05 Uhr: Polizeiposten Capri, Arrestzelle wg. Widerstands, Befragung in Handschellen.
Festgestellte Personalien: Polito, Luigi Raimondo, 26 J., geb. in Neapel. Familienstand: ledig. Wohnhaft: Sorrent, Corso Italia 417, nach eigenen Angaben im Hause der Eltern, welche an selbiger Adresse eine Wäscherei betreiben (noch unbestätigt).
Ergebnis Leibesvisitation: Personalausweis, Smartphone, Schlüsselbund, 1 Fahrschein Sorrent–Capri, EC-Karte, Kreditkarte, 1 Rolle Zitronendrops. Geldbörse, Inhalt: 78,25 Euro (Scheine und Münzen).
10.40 Uhr: Abbruch der Befragung nach fortgesetzter Beschimpfung der diensthabenden A. Cirillo (»Freiheitsberaubung«, »Fotze«, »Arsch bewegen«).
Gez. A. Cirillo, 14. August, 12.20 Uhr.
»Warum habt ihr mich nicht sofort angerufen?«, fragte Rizzi, als er um kurz vor ein Uhr in die Wache geeilt kam. »Ich stand bei Serra im Büro wie der letzte Trottel.«
»Niemand konnte wissen, dass du in Neapel eine Privataudienz beim Commissario hast«, antwortete Teresa. »Der Ispettore ist auch etwas irritiert. Du scheinst ja einen guten Draht zu Serra zu haben.«
»Ich habe ermittelt.« Rizzi betrachtete auf dem Monitor die Bilder, die die Überwachungskamera aus der Arrestzelle übermittelte. Luigi Polito saß vornübergebeugt auf der Pritsche, trug Jeans, T-Shirt, Turnschuhe, und mit den Geheimratsecken und der hohen Stirn hätte Rizzi ihn mindestens auf Mitte dreißig geschätzt. »Und wieso schafft es Agente Cirillo nicht, ihn zum Reden zu bringen?«, fragte er.
»Hör auf, auf ihr herumzuhacken.«
»Habt ihr sein Smartphone gecheckt? Gibt es da vielleicht ein Bild von seiner Schwester?«
»Da.« Teresa bewegte die Maus, und auf dem Bildschirm erschien die Frau, die sie seit drei Tagen suchten: Sofia Polito. Sie hatte glatte braune Haare und einen blassen Teint. Obwohl sie lachte, war der Ausdruck ihrer Augen ernst. Als hätte sie für das Foto ein fröhliches Gesicht aufgesetzt, wäre aber in Gedanken ganz woanders gewesen. Niemand wusste bis jetzt, was sie getan hatte und was mit ihr geschehen war, ob sie noch lebte oder ob sie eine Mörderin war.
»Von wann ist das Foto?«, fragte Rizzi.
Teresa öffnete die Datei-Info. »5. Mai, 0.27 Uhr. Es ist das aktuellste.«
»Habt ihr es schon nach Neapel geschickt? Es muss so schnell wie möglich an die Presse.«
»Lombardi will erst die Ergebnisse aus dem Verhör abwarten.«
»Wozu? Und was ist mit ihrem Mobiltelefon? Der Bruder muss doch ihre Nummer haben. Wir brauchen eine Ortung.«
»Alle Informationen gebündelt nach Neapel. Befehl vom Ispettore.« Teresa zuckte die Achseln.
Rizzi tippte auf den Monitor. »Und wenn er nicht das Maul aufmacht?«
»Genau das sollst du ja jetzt ändern.«
Rizzi stand auf.
»Wer soll es denn sonst richten?«, rief Teresa ihm hinterher, und Rizzi überhörte den sarkastischen Unterton.
Die Arrestzelle befand sich auf der Rückseite des Polizeigebäudes, auf der anderen Seite des Parkplatzes. Rizzi war kaum eingetreten, da sprang der Mann auf und schrie: »Was habe ich getan? Bin ich ein Verbrecher? Habe ich jemanden umgebracht?«
»Beruhigen Sie sich«, rief Savio.
»Ich will einen Anwalt. Das ist mein Recht. Hört ihr? Ich habe das Recht auf einen Anwalt!«
Rizzi bat Savio, die Tür offen zu lassen. Die Luft hier drinnen war zum Schneiden, und in der Wärme roch es süßlich, weil die Besoffenen sich hier immer auskotzten, bevor sie auf Staatskosten ihren Rausch ausschliefen.
»Macht man das so auf eurer Scheißinsel?«, schimpfte der Mann. »Geht man hier so mit Menschen um?« Eine Ader an seiner Schläfe war angeschwollen. »Erst einsperren – und dann eine beschissene Frau auf einen loslassen, die sich einbildet, mir sagen zu können, was ich zu tun und zu lassen habe!«
»Bist du fertig?« Rizzi nickte Kollegin Cirillo zu, die an der Wand lehnte. »Wir ermitteln im Mordfall Jack Milani«, erklärte er ruhig, »und wir müssen aufklären, warum du dich auf dem Grundstück des Opfers herumtreibst und Widerstand gegen die Staatsgewalt leistest.«
»Verdammt, ich habe es schon tausendmal gesagt: Ich suche meine Schwester!«
»Wenn du dich normal verhältst, können wir dich auch normal behandeln, verstanden?« Rizzi wurde nun auch laut.
Der Mann sank auf die Pritsche. »Ich lasse mich hier nicht zum Mörder stempeln«, zischte er. »Und schon gar nicht von der da.«
»›Die da‹ ist Agente Cirillo«, sagte Rizzi, »und du reißt dich jetzt gefälligst zusammen. Jack Milani wurde getötet, und deine Schwester ist seither verschwunden. Wenn du ihr helfen und verhindern willst, dass ihr etwas zustößt, egal, was sie getan oder nicht getan hat, solltest du jetzt kooperativ sein. Verstanden?«
Im Gesicht von Luigi Polito arbeitete es, seine Kiefermuskeln mahlten, und der kleine Mund in dem weichen Gesicht schien noch ein bisschen kleiner zu werden.
»Okay«, sagte Rizzi – und zu Savio: »Nimm ihm die Handschellen ab.« Er zog sich den Hocker heran und beauftragte Cirillo, Gläser, eine Karaffe Wasser und einen Ventilator zu holen.
Seine Kollegin starrte ihn an.
»Bitte«, fügte Rizzi hinzu und sagte: »Bitte hol uns Gläser, Wasser und einen Ventilator.« Dann wandte er sich an den Festgenommenen, der sich – von den Handschellen befreit – die Handgelenke rieb. »Also«, begann Rizzi. »Wann hattest du zuletzt Kontakt mit deiner Schwester?«
»Diese Frau ist die Pest«, sagte Polito, nachdem Cirillo den Raum verlassen hatte.
»Antworte. Wann hattest du das letzte Lebenszeichen von Sofia?«
»Das ist Ewigkeiten her.«
»Ich brauche es schon ein bisschen präziser.«
»Mehrere Wochen. Ich schätze, drei.«
»Und wann hast du gemerkt, dass sie verschwunden ist?«
»Vorgestern.« Sein Bein zuckte unaufhörlich. »An ihrem Geburtstag. Wir haben versucht, sie anzurufen. Den ganzen Tag und seitdem immer wieder.«
»Vorgestern, am Zwölften, war Sofias Geburtstag?«, fragte Rizzi überrascht.
»Korrekt.«
Cirillo stellte Gläser und eine Flasche Wasser ab.
»Weißt du, ob sie ihren Geburtstag feiern wollte?«, fragte Rizzi. »Hatte sie vielleicht Freunde eingeladen oder irgendetwas Besonderes geplant?«
»Was glauben Sie, was meine Eltern und ich uns schon den Kopf zerbrochen haben? Wir wissen es nicht.«
Rizzi schenkte Wasser ein, während Cirillo den Ventilator ausrichtete. »Ich fasse noch einmal zusammen«, sagte Rizzi. »In den frühen Morgenstunden, zwischen zwei und vier Uhr, dem Geburtstag deiner Schwester, wird Jack Milani auf einem Boot mit fünf Messerstichen getötet. Von deiner Schwester fehlt seither jede Spur.«
»Ich verstehe nicht, was Sie damit sagen wollen. Wenn Sofia lebt und gesund ist, würde sie sich melden. Ihr ist etwas zugestoßen.«
»Dafür gibt es bisher keine Anzeichen.«
»Die Sache ist völlig klar. Warum begreift ihr das nicht? Warum sitzen wir hier herum? Tut endlich etwas!«
»Könnte deine Schwester etwas mit dem Tod von Jack zu tun haben?«
»Blödsinn! Sofia ist unschuldig.« Polito hielt Rizzis Blick nicht stand und wandte den Kopf ab.
»Was für eine Beziehung hatte deine Schwester zu Jack?«
»Sie hat ihn geliebt.«
»Hat sie sich in der letzten Zeit verändert?«
»Ich weiß nicht.« Polito schüttelte fahrig den Kopf. »Sie ist, wie sie ist.«
»Wie ist sie denn?«
»Klug. Sie wägt ab. Überlegt bei allem lange und gründlich.«
»Und Jack? Was war er für ein Mensch?«
Polito trank sein Glas Wasser in einem Zug aus und stellte es ab. »Ich habe ihn nur zweimal gesehen. Keine Ahnung.«
»Aber besonders geschockt, dass er tot ist, bist du nicht. Schau mich an, wenn ich mit dir rede.«
»Was wollen Sie hören? Soll ich in Tränen ausbrechen?«
»Er war der Lebensgefährte deiner Schwester. Aus wohlhabender Familie, gebildet, Musiker. Was noch?«
»Norditaliener«, sagte Cirillo.
»Richtig.« Rizzi blieb vor Luigi Polito stehen. »War er arrogant? Hat er auf dich herabgeschaut?«
»Und wenn?« Polito biss auf seinem Daumennagel herum. »Sofia hat diesen Mann geliebt, das ist das Einzige, was zählt. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
»Hat Sofia sich vor Jack vielleicht wegen ihrer Herkunft geschämt?«
»Wie kommen Sie darauf?«, rief Polito empört. »Im Gegenteil. Sofia ist stolz auf das, was unser Papà aufgebaut hat. Wir sind schließlich auch Unternehmer.«
»Na ja.« Rizzi wollte Polito jetzt aus der Deckung holen. »Ihr wascht für andere Leute die dreckige Wäsche.«
Als würde etwas in ihm explodieren, sprang Luigi Polito auf, wollte sich auf Rizzi stürzen, der geschickt auswich und Polito mit einem Griff zu Fall brachte.
»Was habt ihr mit meiner Schwester gemacht?«, heulte Polito und krümmte sich wie ein Kind. »Wo ist sie?«
»Steh auf!« Savio holte die Handschellen hervor.
»Lass«, bat Rizzi, und Savio ließ überrascht von Polito ab.
Polito rappelte sich hoch und ließ sich erschöpft auf die Pritsche fallen. »Ich verbiete euch, so über meine Familie zu reden.«
»Entschuldige«, sagte Rizzi. »Ich habe mich im Ton vergriffen, das war nicht in Ordnung.« Er schenkte ihm ein neues Glas Wasser ein. »Wir versuchen nur, uns ein Bild von deiner Schwester zu machen«, erklärte er. »Das ist wie ein Puzzle. Wenn die Puzzleteile falsch sind, musst du uns die richtigen liefern.«
»Warum sind Jack und Sofia überhaupt nach Capri gekommen?«, schaltete sich Cirillo ein, die wieder auf ihrem Platz an der Wand stand. »Deine Schwester hätte mit Jack doch auch nach Sorrent fahren können.«
»Sie sind wohl ganz schlau, was?«, schnaubte Polito verächtlich.
»Spar dir deine Bemerkungen«, sagte Cirillo.
»Sofia hat studiert«, begann Polito, den Blick auf den Boden gerichtet. »In Genua. Klar, das ist eine andere Welt. Und da hat sie Jack kennengelernt. Aber der hatte keine Ahnung. Der konnte nur schwätzen. Ein echter Klugscheißer.«
»Hast du ein Beispiel?«, fragte Cirillo.
»Ich verstehe nicht, warum ihr das wissen wollt.« Polito hob müde den Kopf. »Was spielt das für eine Rolle?«
»Antworte«, sagte Savio.
»Okay, regt euch ab!« Luigi Polito fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. »Zum Beispiel die Geschichte mit dem Waschmittel«, sagte er. »Total lächerlich. Jack sitzt bei uns am Küchentisch und fängt plötzlich damit an, dass wir welches benutzen müssten, das ökologisch abbaubar ist. Aber habt ihr schon mal gesehen, wie Hotelwäsche aussieht, wenn sie bei uns ankommt? Da brauchst du die chemische Keule. Und Sofia weiß das.«
»Ist sie dir bei der Diskussion zur Seite gesprungen?«, fragte Cirillo.
»Ich diskutiere nicht.«
»Was soll das heißen?«
»Ganz einfach. Das heißt: Ich diskutiere nicht. Und mit so einem Schnösel schon gar nicht.«
»Wie ist das Foto entstanden?«, fragte Rizzi.
»Das Foto?« Polito schaute Rizzi verständnislos an.
»Das du am fünften Mai von deiner Schwester gemacht hast. Um halb eins in der Nacht.«
»Das war auf dieser Party. Ich dachte, es wäre ein Essen, aber es war eine Party.«
»In der Via Tamborio? Wer war außer dir noch da?«
»Unter anderem der Typ, den ihr eingebuchtet habt. Was ist eigentlich mit dem Kerl? Weiß er vielleicht, wo Sofia ist? Habt ihr ihn gefragt? Hat er ihr etwas angetan?«
»Wie kommst du darauf?«
»Er ist immer um sie herumscharwenzelt. Und Jack war es scheißegal.«
»Wurden Drogen genommen?«
»Sofia und ich waren, glaube ich, die Einzigen, die keine genommen haben.«
»Hast du noch mehr Fotos von der Party?«
»Da war nichts, von dem ich dachte, dass ich es fotografieren müsste.«
»Außer deiner Schwester.«
»Es war – wie soll ich sagen?« Polito überlegte. »Es war wie ein Andenken.«
»Ein Andenken?« Rizzi trat näher.
»An Sofia. Weil ich das Gefühl hatte« – er betrachtete seine Fingernägel –, »dass ich sie jetzt länger nicht mehr sehen werde.«
»Wollte sie auf eine Reise gehen?«, fragte Cirillo.
Polito schüttelte den Kopf. »Was ich damit sagen will: Diese Leute, Capri – das ist nicht meine Welt. Null. Aber Sofia war da voll drin. Wegen Jack. Also: Abschied.«
»Wo warst du in der Nacht vom elften auf den zwölften August?«, fragte Rizzi.
»Wie bitte?«
»Antworte.«
»Zu Hause.«
»Gibt es dafür Zeugen?«
»Verdammte Scheiße. Was soll das?«
»Ich frage dich noch einmal: Gibt es Zeugen, die bestätigen können, dass du in der Nacht vom elften auf den zwölften August zu Hause gewesen bist?«
»Meine Eltern.«
»Sonst niemand?«
Polito schüttelte den Kopf.
Rizzi schaute fragend zu Cirillo, die fast unmerklich mit den Schultern zuckte, dann aber nickte.
»Also gut«, sagte Rizzi. »Du kannst gehen.«
Polito schaute überrascht auf. »Und meine Sachen?«
»Werden dir ausgehändigt. Dein Telefon bleibt vorerst beschlagnahmt.«
»Komm«, sagte Cirillo.
Der Mann erhob sich.
»Noch eine Frage«, sagte Rizzi.
Polito drehte sich um.
»Als du die Party deiner Schwester verlassen hast, am fünften Mai, gegen null Uhr dreißig, wohin bist du dann gegangen?«
»Keine Ahnung. Zum Hafen.«
»Hast du ein eigenes Boot?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil um die Zeit kein Schiff mehr fährt.«
»Ich habe mich an den Strand gelegt.«
»Und dann?«
»Habe ich um sieben das aliscafo zurück aufs Festland genommen.«