Vincenzo Taccone hatte Taucheranzüge dabei: einen großen für Jack, einen etwas kleineren für sie. Sie tuckerten mit ihm an der Küste von Ischia entlang, eine leichte Brise wehte, und Vincenzo erzählte: über den CO2-Partialdruck, sinkende pH-Werte, den Henry-Koeffizienten und andere Faktoren, die sich hier vor der Küste von Ischia auf ganz natürliche Weise ergaben und den Prozess der Versauerung der Ozeane vorwegnahmen. Rückblickend musste Sofia feststellen: Sie hatte sich damals gefühlt wie vor einer Prüfung, bei der sie beweisen musste, dass sie in der Lage war, Theorie und Praxis miteinander zu verbinden. Und Jack – das hatte sie an seinem Gesichtsausdruck gesehen und daran, wie merkwürdig still er wurde – war es genauso gegangen.
Unweit der Küste warfen sie Anker. Vincenzo teilte ihnen ihre Ausrüstung zu – Tauchermaske, Atemluftflasche –, gab Anweisungen, kontrollierte die Verschlüsse und Ventile. Dann war es so weit. Auf sein Zeichen ließen sie sich nacheinander von der Reling rückwärts ins Wasser fallen.
Als die Wellen über ihr zusammenschlugen, fiel die Anspannung von ihr ab. Zum ersten Mal ging es beim Tauchen nicht darum, ziellos auf Entdeckungsreise zu gehen, sondern um ein konkretes Vorhaben, und Vincenzo übernahm die Führung.
Sie tauchten an den Felsen entlang, von denen Vincenzo jeden einzelnen zu kennen schien, glitten zwischen Spalten hindurch, gelangten in Felskammern, tauchten über Lichtungen, auf die von oben das Sonnenlicht schien, und unter ihnen wogte das Seegras, das sie noch nie so grün leuchten gesehen hatte wie hier. Sie schwammen mit den Fischen, silbrig schimmernde Schwärme, die auseinanderstoben und sofort wieder zueinanderfanden. Quallen zogen vorbei, Algen wucherten, und dann sahen sie die Bläschen glitzernd in endlosen Perlenketten aus dem Meeresboden treten und in zarten Windungen an die Wasseroberfläche steigen. Natürliche Kohlensäure, die vom vulkanischen Gestein in unendlichen Mengen immer neu produziert wurde.
Aus seiner Seitentasche zog Vincenzo ein Messer und begann behutsam, Schnecken vom Felsen zu schaben. Die Gehäuse aus Kalk, hatte er ihnen vorher erklärt, würden später im Labor auf Beschädigungen untersucht werden, um den Grad der Zersetzung, proportional zum Säuregehalt im Wasser, zu bestimmen. Die Fähigkeit, bei sinkenden pH-Werten Schutzhüllen und Innenskelette zu bilden, ließ bei den Meerestieren nach.
So weit die Theorie. In der Praxis war es gar nicht so leicht, die verdammten Schnecken vom Gestein loszubekommen, ohne das Material zu beschädigen. Zwei oder drei Proben hatte sie gerade mal genommen und im Gefäß am Gürtel gesichert, als Vincenzo das Zeichen zum Wiederaufstieg gab.
Als sie wieder im Boot saßen, erschöpft, aber zufrieden, und Vincenzo sie mit Tee aus der Thermoskanne bewirtete, bemerkte Sofia, dass Jack bisher kaum etwas gesagt hatte.
»Alles okay?«, fragte sie leise, aber er antwortete nur mit einer Kopfbewegung, mit der er sagte, dass sie ihn in Ruhe lassen solle.
Wenn Vincenzo etwas mitbekam, ließ er sich nichts anmerken.
»Ihr habt es nun mit eigenen Augen gesehen«, sagte er. »Wo Kohlensäure in dieser Konzentration vorhanden ist, gibt es Quallen, Seegras und Algen. Mehr nicht. Und wenn der Kohlendioxidgehalt in der Luft sich nicht bald verringert, wird der pH-Wert in den Weltmeeren in den nächsten Jahrzehnten auf durchschnittlich 7,8 sinken. Dann wird das Wasser um 150 Prozent saurer sein als vor zweihundert Jahren.«
Sie schwiegen deprimiert, bis Jack murmelte: »Und wir sitzen hier und trinken Tee.«
»Wäre dir Schampus lieber?«, fragte Vincenzo, aber der Scherz zog nicht. Jack runzelte verärgert die Stirn.
»Sieh es doch mal so«, sagte Vincenzo versöhnlich. »Du hast heute deinen ersten Schritt getan.«
»Welchen Schritt?«, fragte Jack. »Was habe ich denn getan?«
»Etwas Wichtiges für die Forschung«, antwortete Vincenzo. »So funktioniert nun mal unsere Arbeit: Im Labor untersuchen wir Proben, stellen Ergebnisse fest, veröffentlichen sie und teilen sie der Forschungsgemeinschaft mit, die ihrerseits weitere Untersuchungen anstellt. Aber ganz am Anfang steht die Probe, die wir vor Ort einsammeln müssen. Das haben wir heute getan. Nicht mehr und nicht weniger.«
Jack schwieg, und Vincenzo fügte hinzu, jeder dieser Schritte sei klein, das gebe er zu, aber sie würden in die richtige Richtung gehen, und nur darauf komme es an.
»Und was ist«, fragte Jack aggressiv, »wenn die Schritte zu keiner Lösung führen? Wenn das, was wir hier tun, am Ende nur Beschäftigungstherapie ist? Eine sinnlose Tätigkeit, damit wir uns gut fühlen und uns gegenseitig auf die Schulter klopfen?«
»Jack«, mahnte Sofia.
»Ist doch wahr!«, brach es aus Jack heraus. »Wir beobachten und dokumentieren in aller Ruhe die Zerstörung, aber im Grunde machen wir nichts anderes als Sterbebegleitung!«
»Jetzt hör mir mal zu.« Vincenzo legte wie zum Gebet seine Handflächen aneinander. »Noch einmal: Wir sind Wissenschaftler, und wir wissen, dass es für jedes Problem eine Lösung gibt. Auch wenn es nur in winzigen Schritten vorangeht, gehören Rückschläge immer dazu. Sie sind bitter, aber gleichzeitig ein Ansporn, weiterzumachen und nach einer anderen Lösung zu suchen.«
»Und die gibt es«, sagte Jack.
»Natürlich.« Vincenzo nickte. »Wir müssen sie nur finden.«
»Ich rede nicht von deiner langen, zermürbenden Suche«, sagte Jack. »Ich meine die große Lösung.«
»Die große Lösung?«
»Wir müssen das CO2 in den Meeren direkt neutralisieren. Mit Eisensulfat zum Beispiel.«
Vincenzo schüttelte den Kopf. »Das Verfahren ist überhaupt nicht ausgereift. Es würde außerdem nur indirekt wirken: Eisen würde die Phytoplanktonblüte anregen, und die Algen könnten dann das CO2 aus dem Wasser ziehen.«
»Aber die Resultate, die bisher erzielt wurden, sind vielversprechend«, erklärte Jack.
»Die Folgen für Flora und Fauna könnten verheerend sein.«
»Hör auf mit diesem Totschlag-Argument!« Jack schrie fast. »Welche Möglichkeiten bleiben uns denn? Die einzige Gewissheit, die wir haben, ist, dass uns die Zeit davonrennt.«
»Und deshalb sollen wir tonnenweise Eisensulfat ins Meer schütten und eine gigantische Algenblüte auslösen? Das Übel mit dem Übel bekämpfen? Entschuldige, Jack, das ist absurd und gefährlich. Die einzige Lösung, die es gibt, ist, weltweit den Ausstoß von menschengemachtem CO2 stark zu reduzieren und am besten ganz zu stoppen.«
»Das ist utopisch. Das wird nie funktionieren.«
»Es dauert nur so lange, bis alle es kapiert haben.«
Jack schüttelte den Kopf. »Die Menschen werden es nicht rechtzeitig kapieren. Wir müssen die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, ausschöpfen. Und dürfen keine Schranken im Kopf haben.«
»Du meinst, keine Scheu vor unorthodoxen Lösungen?«, fragte Vincenzo spöttisch.
»Wir sollten, zum Beispiel, über ein Verfahren nachdenken, wie wir das kalte Wasser aus der Tiefsee nach oben pumpen.«
»Okay. Jetzt also die Diskussion.« Vincenzo stellte seinen Becher ab. »Den Ozean als Speicher für CO2 missbrauchen. Weißt du, wie viel von den heutigen Emissionen sich dadurch kompensieren ließe? Zehn Prozent. Ein klitzekleiner Effekt für einen gigantischen Aufwand, ohne die Nebenwirkungen und Effekte zu kennen.«
»Aber immer noch besser als die klitzekleinen Schritte, die du vorschlägst und die zu gar nichts führen.« Jack schaute Vincenzo herausfordernd an.
Ein ungutes Schweigen trat ein. Vincenzo stand wortlos auf, balancierte an der Reling entlang und verschwand in der Kajüte. Sofia starrte erschrocken und überrascht vor sich hin. Sie hörte Jack zum ersten Mal so reden. Er kam mit Thesen, von denen sie noch nie gehört hatte, und die Ernsthaftigkeit, mit der Vincenzo sich ihnen widmete, verwirrte sie.
Jack schaute finster über das Meer, in seine Gedanken versunken. Wie Fremde saßen sie nebeneinander, und sein Schweigen machte sie wütend. Was zum Teufel war in ihn gefahren? Jack riskierte mit seinem Verhalten das Ende einer Zusammenarbeit mit Vincenzo, die noch gar nicht richtig begonnen hatte.
Der kam mit einer Flasche Weißwein und drei Bechern zurück. Wortlos drückte er jedem einen Becher in die Hand, dann stießen sie miteinander an, ohne zu sagen, worauf. Aber Sofia registrierte den prüfenden Blick, mit dem Vincenzo Jack taxierte. Da war keine Geringschätzung, keine Verärgerung, sondern – im Gegenteil – Respekt und Anerkennung. Dass Jack einen Streit vom Zaun gebrochen hatte und so hartnäckig diskutierte, schien Vincenzo zu imponieren.
Und plötzlich begriff Sofia: Genau das hatte Jack bezweckt. Wahrscheinlich sah er sich schon im Windschatten des angesehenen Meeresbiologen Vincenzo Taccone arbeiten, ausgestattet mit einem schönen Stipendium und Ausflügen um die Welt. Sie wäre nicht erstaunt gewesen, wenn er die Bewerbung um eine Stelle in Vincenzos Forschungsteam schon fertig in der Tasche hätte.
Während Vincenzo in versöhnlichem Ton darüber sinnierte, dass sich Menschen früher überhaupt nicht für Umweltthemen interessiert hätten, weil sie auch zu wenig darüber wussten, und dass sich das Bewusstsein erst seit den 1970er Jahren kontinuierlich entwickelte, war Sofia nicht bei der Sache.
Sie fragte sich, welche Rolle sie bei Jacks Überlegungen wohl spielte, ob er sie noch als Teil eines Teams betrachtete oder in Wahrheit schon als Konkurrentin.