Von der Halle führte eine Wendeltreppe hinauf zum Chef, der hier oben, wo es noch einmal ein paar Grad wärmer war, wie auf einer Kommandobrücke residierte. Wenn Signor Polito wollte, konnte er den ganzen Tag den Blick über seine Angestellten schweifen lassen, über die Männer, die die Waschmaschinen und Trockner beluden und die Blechwannen herumrangierten, und die Frauen, die an den Wäschemangeln schwitzten und pausenlos die Puppen an- und auszogen, die mit ihrem aufblasbaren Torso das Bügelbrett ersetzten. Viele Augenpaare folgten Rizzi, als er hinter Signora Polito die Stufen erklomm.

»Die Polizei ist da«, rief Signora Polito, kaum dass sie die Tür zum Glaskastenbüro aufgestoßen hatte, und ihr resoluter Ton lieferte eine Vorstel‌lung davon, wie sie mit den Mitarbeitern umzuspringen imstande war. »Erklär du dem Agente, dass Luigi nichts mit dem Tod von Jack zu tun hat!«

Signor Polito hatte seinen Schreibtisch so positioniert, dass er die Balkendiagramme an der Wand gegenüber im Blick hatte, Umsatzentwicklung, Maschinenauslastung und andere betriebswirtschaftliche Dinge, von denen Rizzi keine Ahnung hatte. Aber es bestätigte den Eindruck, den er von Anfang an gewonnen hatte: dass es sich bei Tutto um einen strukturierten, ef‌fizient arbeitenden Familienbetrieb handelte und nicht um irgendeine Klitsche.

Signor Polito schob in aller Ruhe seinen Kugelschreiber in die Brusttasche seines blütenweißen Kittels. Vielleicht hatte man ihm schon gesteckt, dass die Polizei im Haus war, vielleicht brauchte er ein paar Sekunden, um sich zu sammeln und auf das einzustellen, was jetzt auf ihn zukam. Während seine Frau für Rizzi ein offenes Buch war, konnte er bei diesem Mann schwer sagen, was in ihm vorging, und das lag vor allem an den Augen, die hinter dicken Brillengläsern zu unklaren blassen Flecken verschwammen, als würde zwischen Signor Polito und der Welt eine dicke Wand aus Glas stehen. Ausdrucksstark waren dagegen die Augenbrauen, die wie zottelige Raupen auf dem altmodischen Brillengestell saßen und sich nun über der Nasenwurzel aufrichteten. »Möchten Sie etwas trinken?«, fragte Signor Polito. »Wasser, Espresso?«

Rizzi bat um ein Glas Wasser und bekam von Signora Polito gleich eine ganze Flasche hingestellt. Etwas in der wortlosen Kommunikation der Eheleute schien ihr zu sagen, dass es besser wäre, sich etwas zu mäßigen.

»Nichts für ungut, Agente«, murmelte sie mit gesenktem Kopf und geballten Fäusten, »aber wir sind schon ganz krank vor Sorge.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Glauben Sie, Sie finden unser Mädchen?«

Bevor Rizzi antworten konnte, sagte ihr Mann leise: »Maddalena, es ist gut. Lass uns allein.«

Sie presste die Lippen aufeinander. »Bitte entschuldigen Sie mich«, erklärte sie mit erstickter Stimme, ohne Rizzi anzusehen. »Die Kunden. Ich muss wieder runter.«

»Luigi sticht nicht den Freund seiner Schwester nieder«, erklärte Signor Polito.

»Und wenn Jack die Ehre der Familie beleidigt hätte?«

»Das hätte er nie getan.«

»Ein Norditaliener weiß gar nicht, wie schnell das geht.«

»Noch einmal«, Signor Polito sprach mit Nachdruck, »wir sind nicht so.«

Rizzi dachte an das Verhör mit Luigi Polito und wie schnell dieser an die Decke gegangen war, als es um die Familie ging. »Wie sind Sie denn? Erzählen Sie es mir.«

»Wir sind einfache, ehrliche Leute. Wir zahlen unsere Steuern und kümmern uns um unser Geschäft. Schauen Sie sich um: Seit Luigi in den Betrieb eingestiegen ist, geht es wieder aufwärts. Expansion, lerne ich gerade, ist das neue Zauberwort. Wir eröffnen Ende August eine Filiale in Scario. Wissen Sie, die Gelegenheit ist gerade günstig. Viele Hotels, nicht nur die großen Ketten, leisten sich keine eigene Wäscherei mehr. Outsourcing nennt man das, um Kosten zu sparen. Aber der Preiskampf ist hart.« Er verstummte, legte die Hände flach auf den Schreibtisch und wirkte plötzlich ganz erschöpft. »In Gottes Namen: Führen Sie den Kerl, der Jack ermordet hat, seiner gerechten Strafe zu. Aber was mich, um ehrlich zu sein, mehr interessiert: Wo ist Sof‌ia? Haben Sie denn gar keine Spur?«

»Uns war nicht klar, dass es sich bei dem Toten von Capri um den Freund von Sof‌ia handelt.« Signor Polito fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Als wir es gemerkt hatten und Sof‌ia nicht erreichen konnten, wollte Luigi nachschauen, ob sie wirklich nicht zu Hause ist, da drüben auf der Insel. Und dann wäre er selbstverständlich zur Polizei gegangen.«

»Warum ist er dann abgehauen, als meine Kollegen ihn angesprochen haben?«

»Ich war nicht dabei und weiß nicht, wie das alles abgelaufen ist. Ich weiß nur, dass Luigi mit dem Mord nichts zu tun hat. Und ich bitte Sie inständig« – Signor Polito legte flehend seine Handflächen aneinander –, »verschwenden Sie nicht Ihre Zeit mit unnützen Verdächtigungen, sondern machen Sie jetzt verdammt noch mal Ihre Arbeit und finden Sie meine Tochter.«

»Ich fürchte, der Mord und das Verschwinden von Sof‌ia lassen sich nicht voneinander trennen.« Rizzi schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Darf ich ganz offen sein?«

»Ich bitte Sie darum.«

Er ging zum Fenster, in der Hoffnung, dass dort ein Lüftchen wehte. »Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte er,

»Und die zweite Möglichkeit?«, fragte Signor Polito. Seine Stimme klang heiser.

»Die zweite Möglichkeit«, begann Rizzi und schaute in den Hof hinunter. Zwischen zwei Bäumen hing eine verrostete Schaukel, wahrscheinlich ein Überbleibsel aus Luigis und Sof‌ias Kindheit.

Rizzi drehte sich zu Signor Polito herum. »Ihre Tochter ist auf der Flucht«, sagte er. »Die Frage wäre nur: Vor wem wollte sie flüchten? Vor dem Täter, weil sie die Tat beobachtet hat? Aber warum geht sie dann nicht zur Polizei? Oder flieht sie vor der Polizei, weil sie selbst die Täterin ist?«

Signor Polito sah Rizzi mit versteinerter Miene an. Rizzi fuhr fort: »Oder kennt sie den Täter und fühlt sich ihm irgendwie verbunden? Dann würde sie sich gerade in einem akuten Gewissenskonflikt befinden: Soll sie zur Polizei gehen und ihn anzeigen, oder will sie ihn decken und sich mitschuldig machen? Trägt sie vielleicht sogar eine Mitschuld, weil sie die Eskalation und Jacks Tod nicht verhindert, sondern mit ihrem Verhalten vielleicht sogar dazu beige‌tragen hat?«

Signor Polito schwieg und knetete nervös seine Hände.

»Ich brauche eine Liste mit den Namen aller Leute, mit

Signor Polito nahm seine Brille ab und rieb sich erschöpft die Augen. »Die Zeiten, wo wir wussten, mit wem sie Umgang hat, sind lange vorbei. Sie war ein Mal mit Jack hier bei uns in Sorrent. Können Sie sich das vorstellen? Ein einziges Mal. Für – ich würde mal sagen – drei Stunden.«

»Wie waren die beiden zusammen? Was hatten Sie für einen Eindruck?«

»Sie waren verliebt.«

»Mochten Sie Jack?«

»Er hat sie auf Händen ge‌tragen, und ihr hat das gefallen.«

Rizzi lehnte sich ans Fensterbrett. »Das ist auch eine Antwort.«

»Sof‌ia schien glücklich zu sein, alles andere war zweitrangig.«

»Ihre Frau sprach von einem Praktikum.«

»Sof‌ia hat uns davon erzählt, richtig, und es schien ihr sehr wichtig zu sein.«

»Hat sie erzählt, worum es da geht?«

»Ozeanologie, aber davon verstehen wir nichts.«

Rizzi trat näher an den Schreibtisch. »Oder war das Praktikum eher eine Umschreibung für ausgedehnte Ferien machen und nette Urlaubsbekanntschaften schließen?«

Signor Polito schüttelte unwillig den Kopf. »Sof‌ia hat immer einen genauen Plan, wann sie was tut und bis wann sie es geschaff‌t haben will. Hier, bitte.« Er setzte seine Brille

»Sie lenken ab.«

»Ich kenne meine Kinder und versuche nur, Ihnen zu erklären, wie sie sind. Wie sie ticken, würden Sie wahrscheinlich sagen.«

»Seit Sof‌ia ausgezogen ist, ist viel Zeit vergangen, Signor Polito.«

»Es war für sie nicht einfach, unser kleines Paradies hier zu verlassen und sich da oben im Norden zurechtzufinden.«

»Hat sie sich seither verändert?«, fragte Rizzi.

»Sie hat gelernt, sich durchzubeißen.«

»Sie hat Jack kennengelernt.«

»Ja, sie hat ihn gesucht und gefunden.«

»Statt nach Hause zu kommen zur Familie, hat sie sich mit Jack auf Capri niedergelassen und das Leben genossen. Vor Ihrer Nase.«

»Sie hatte andere Prioritäten. Es ging um dieses Praktikum, sie wollte forschen. Ihr sind Flügel gewachsen.«

»Sie ist Ihnen fremd geworden, und diesen Konflikt versuchen Sie schönzureden.« Rizzi schwitzte, das Hemd unter seiner Uniformjacke klebte. Auch Signor Polito standen die Schweißtropfen auf der Stirn.

»Besitzen Sie ein Boot?«, fragte Rizzi

Signor Polito schaute überrascht auf. »Nein.«

»Und der Bootsanhänger da unten, zwischen dem Gerümpel?«

»Wann?«

»Vergangenes Jahr.«

»Sorrent ohne Boot – warum?«

»Wir haben es nicht mehr benutzt. Die Zeit war vorbei. Und wenn etwas vorbei ist, soll man sich davon trennen.«

»Sagt wer?«

»Sof‌ia. Ihr Prinzip. Immer gewesen.«