Es war ihr erster Praktikumstag gewesen. Sofia hatte noch genau vor Augen, wie sie wie die Idioten am Hafen von Ischia Porto herumirrten und nicht das grüne Gartentor fanden, das Vincenzo ihnen beschrieben hatte. »Haltet euch einfach links, immer an der Mole entlang, dann könnt ihr es gar nicht verfehlen«, hatte er gesagt.
Aber da waren nur Mülltonnen und Restaurantterrassen mit Leuten, die auf die Segelboote im Hafen starrten, und von einem biologischen Institut hatte hier noch niemand etwas gehört.
Dann verstand Jack, dass sie bis ans Ende mussten, an allen Tischen vorbei, und da war tatsächlich die Gittertür, grün und verrostet, wie Vincenzo gesagt hatte. Istituto di biologia marina Ischia stand auf einem kleinen Schild an der Mauer. Vincenzo kam die Treppe herunter, und seine kurze Hose hatte dieselbe Farbe wie die vermoosten Stufen.
Es war ihre erste Begegnung nach dem gemeinsamen Abend auf der Terrasse, über den keiner von ihnen je ein Wort verloren hatte. Als wären sie alle drei stillschweigend übereingekommen, dass alles, was da stattgefunden hatte, nicht der Rede wert war: die Ausgelassenheit, das Tanzen, diese seltsame Vertrautheit, bis Jack entschieden hatte zu verschwinden. Vielleicht war er gar nicht auf die Idee gekommen, dass zwischen Vincenzo und ihr etwas gewesen sein könnte?
Für Vincenzo schien die Sache abgeschlossen und das Thema erledigt zu sein. Das Istituto, berichtete er auf dem Weg zur Villa hinauf, sei ursprünglich als Ferienhaus für eine reiche Familie gebaut und erst Ende der siebziger Jahre zu einer Forschungsstation umfunktioniert worden.
In der dunklen Eingangshalle standen Kartons und ein ausrangierter Schreibtisch. Jack schien ganz ergriffen zu sein, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und betrachtete die Decke, als gäbe es dort eine Malerei, die nur er sehen konnte.
Sie folgten Vincenzo über eine Treppe in den ersten, dann in den zweiten Stock, traten durch eine Flügeltür auf eine kleine Terrasse hinaus, erklommen noch eine Stiege und standen schließlich auf dem Dach. »Bitte schön«, sagte Vincenzo und breitete die Arme aus.
Sie drehten sich einmal um die eigene Achse. Allem entrückt, gab es hier oben keinen Autolärm, kein Kindergeschrei, nur den Wind, Vogelgezwitscher, den blauen Himmel, das Grün der Bäume und das Meer. Sofia musste plötzlich an ihre Familie denken, an die Wäscherei, die Hitze und den Lärm und daran, wie privilegiert sie war, dass sie all dem entkommen und ihr Leben vielleicht tatsächlich der Forschung widmen und mithelfen konnte, den Planeten wieder sauberer zu machen. Sie trat an die kleine Mauer, die hier oben die Terrasse einfasste, und empfand ihr Glück in diesem Moment in einer solchen Intensität, dass ihr fast die Tränen in die Augen stiegen – als sich plötzlich eine Hand schwer auf ihre Schulter legte.
»Wenn man da hinunterfällt«, sagte Jack, »ist man auf der Stelle tot.« Er legte den anderen Arm um Vincenzo und zwang sie beide, sich mit ihm gemeinsam über die Brüstung zu beugen und hinunter in die Tiefe zu schauen, auf Bäume, Felsen und Buschwerk.
»Hör auf.« Sofia machte sich los. »Ich würde jetzt gerne mit der Arbeit anfangen.«
Auf dem Weg über die verschachtelten Treppen und Flure berichtete Vincenzo, dass er auf der anderen Seite von Ischia, bei Citara, eine neue Kohlendioxidquelle entdeckt habe und dass er heute einen Tauchgang unternehmen und sich die Sache mal anschauen wolle. Für die Exkursion brauche er einen Assistenten. Er schien kurz zu überlegen, dann schlug er vor, dass Sofia mitkommen solle. Jack sei dann das nächste Mal dran und könne heute schon mal die Gelegenheit nutzen, sich mit der Laborarbeit vertraut zu machen.
Er öffnete die Tür zu einem Raum, der im Halbdunkeln lag. Die Bäume vor den Fenstern schluckten so viel Licht, dass an einem der beiden Labortische die Schreibtischlampe brannte. Neben einem Schrank, vollgestopft mit Akten und alten Zeitungen, hingen vergilbte Schaubilder an der Wand, eine Tafel mit verwischten chemischen Gleichungen und an einem schwarzen Brett verschiedenfarbige Zettel und unzählige Polaroids. Es roch muffig und gleichzeitig nach Chemikalien, nach Äther und Chlor. Erst jetzt bemerkte Sofia eine Gestalt, halb verdeckt von einem Computerbildschirm. Der kahlköpfige Mann saß unbeweglich und über ein Mikroskop gebeugt.
Das sei Gennaro, erklärte Vincenzo, das Gedächtnis dieses Instituts. Er arbeite hier schon seit Jahrzehnten, sei über alle Projekte und Forschungsarbeiten im Bilde, die jemals an diesem Institut stattgefunden hatten und aktuell stattfanden, und wann immer man eine Frage habe, sei man bei ihm bestens aufgehoben.
»Cool«, sagte Jack und ging mit ausgestreckter Hand auf den Mann zu, der etwas widerwillig aufschaute und den Gruß zögernd erwiderte.
Vincenzo erklärte, Jack solle sich nun im Labor umsehen und erste Arbeiten übernehmen, die Gennaro ihm erklären werde, während Sofia und er zum Tauchen gingen. Sofia war plötzlich wie gelähmt. Die Vorstellung, mit Vincenzo in ein Boot zu steigen, die Insel zu umrunden, mit ihm tauchen und danach wahrscheinlich mittagessen zu gehen, verursachte ihr zwar keine Panik, aber es war exakt die Situation, die sie gerade am Anfang des Praktikums verhindern wollte.
Sie stammelte, sie würde gerne die Laborarbeit übernehmen, und schob – als sie Vincenzos fragendes Gesicht sah – hinterher, sie fühle sich heute für einen Tauchgang nicht gut genug, sie habe Kopfschmerzen.
Jack und Vincenzo zogen los, und sie räumte für den Rest des Tages Erlenmeyerkolben, Messzylinder und Glasflaschen aus den Laborschränken, wischte die Regale aus, räumte alles wieder ein, in ihrer Nervosität fiel ihr ein Satz Reagenzgläser zu Boden, so dass sie noch den ganzen Laborraum fegen musste – alles unter den Augen von Gennaro, der ihr nur das Nötigste erklärt hatte und wortlos fortfuhr zu mikroskopieren.
Am zweiten Tag reinigte und ordnete sie die Pinzetten, Pipetten, Impfösen, und Scheren, flammte die Gefäße ab und kennzeichnete alles, was sie sterilisiert hatte, mit Indikatorband, während die Männer draußen im Meer Proben nahmen, Schnecken und Seeigel einsammelten, die eine Mitarbeiterin katalogisierte und behutsam in Aquarien setzte. Sie kamen überein, dass es sinnvoll wäre, wenn Jack diesen Zyklus mit Vincenzo zu Ende brachte und weitere Proben entlang der Küste nahm. Der Grad der Versauerung des Wassers war schwankend, und Vincenzo vermutete, dass es dort noch mehr unentdeckte Quellen mit natürlichem Kohlendioxid gab.
Sofia war erleichtert. Das Praktikum und die Zusammenarbeit funktionierte und führte sogar zu einer Normalisierung in den Beziehungen. Jack machte keine zweideutigen Bemerkungen mehr, sondern neckte sie liebevoll, dass sie so in ihrer Laborarbeit aufging. Wenn sie nicht aufpasse, meinte er, würde sie eines Tages noch eine richtige Labormaus werden.
Mit Vincenzo hatte sie in dieser Zeit fast gar nichts zu tun. Sie sah ihn eigentlich nur morgens, wenn er ihr einen Kaffee an den Labortisch brachte, während Jack damit beschäftigt war, die Ausrüstung ins Boot zu schleppen, und abends, wenn er kurz hereinschaute, um zu sehen, was sie den Tag über gemacht hatte, und sich zu verabschieden. Sie lernte mit Messzylinder, Feinwaage und pH-Meter umzugehen und den Säurewert von wässrigen Lösungen zu bestimmen, und begann, unter Gennaros Anleitung zu dokumentieren, wie bestimmte Meerestiere auf pH-Veränderungen reagierten. Es war faszinierend zu beobachten, dass eine weibliche Krabbe im Wasser mit normalen pH-Bedingungen (pH 8.1) nach Zugabe eines Geruchsstoffs wie wild mit dem Schwanzende ventilierte, in einem versauerten Medium jedoch kaum reagierte. Und als sie die Krabbe in Wasser mit dem Säuregrad von 7.7 pH aussetzte, der in den Weltmeeren in etwa siebzig Jahren erreicht sein würde, gab es auf den Signalstoff gar keine Reaktion mehr. Schwanzende und Fühler standen völlig still.
Sie lernte, dass Geruchsmoleküle auf eine bestimmte Weise angeordnet waren, damit die Krabbe über ihre Rezeptoren Signalstoffe wahrnehmen konnte – also jene Moleküle, die Gerüche zu den Rezeptoren transportierten, die sich bei der Krabbe am Schwanzende und an den Fühlern befanden. Auf diese Weise war die Krabbe in der Lage, Nahrung zu finden, Feinde zu erkennen oder herauszufinden, wo der sicherste Ort war, um Eier abzulegen. Wenn die Struktur der Moleküle sich im versauerten Medium veränderte, verloren sie für die Krabbe ihre Funktion als Signalstoff. Ohne Signalstoff keine Reaktion und keine Orientierung. Die Folge wäre, dass die Krabbe und mutmaßlich andere Meerestiere aussterben würden.
Als Vincenzo zum Feierabend bei ihr im Labor vorbeischaute und sie ihm diese Dinge auseinandersetzte, beflügelte sie sein Lob, auch wenn es sie irritierte, dass er, um ihre Aufzeichnungen anzusehen, wie zufällig ihren Arm streifte. Aber vielleicht bildete sie es sich auch nur ein. Was zählte, war, dass er sie bestärkte und ihr Forschungsberichte in einschlägigen Fachzeitschriften zur Lektüre empfahl.
Es war seltsam: Je tiefer sie in die Materie einstieg und das Gefühl hatte, komplexe Prozesse wenigstens in Teilen zu durchschauen, umso mehr verlor Vincenzo von seiner Aura. Er schien nicht mehr ganz so unfehlbar zu sein, wie sie anfangs gedachte hatte, war in manchen Formulierungen ungenau oder verlor sich, wenn sie nachfragte, in Allgemeinplätzen, statt einfach zu sagen: Keine Ahnung, tut mir leid, ich weiß es nicht.
Gennaro in seiner trockenen Art, seiner Akribie und Genauigkeit erschien ihr zuverlässiger und auch seriöser. Während er still vor sich hinarbeitete und sie ihr Mittagbrot verzehrte, fiel ihr Blick auf die Wand mit den vielen Zetteln und Polaroids, auf denen ihre Vorgängerpraktikantinnen und -praktikanten sich verewigt hatten, und sie fragte sich, wie viele von den Mädels, die teilweise aussahen wie Models, sich wohl von Vincenzo während ihrer Zeit hier am Istituto di biologia marina hatten flachlegen lassen, betört von seinen blauen Augen, seinem Wuschelhaar und seiner warmen Stimme, mit der er ihnen die Welt erklärte – wenn er nicht bedeutungsvoll schwieg und seinen Ich-verzweifele-an-der-Welt-Blick aufsetzte –, und der Gedanke, dass nach Ablauf des Praktikums auch von ihr dort ein Foto an der Wand hängen könnte, war ihr unerträglich.
Nach Ablauf der ersten Woche bestand Jack darauf, ihren Einstand zu feiern und alle Mitarbeiter für einen Umtrunk aufs Dach zu bitten. Die Abendsonne schickte ihre Strahlen schräg über den Monte Epomeo, es wehte ein angenehmer Wind, und Jack bedankte sich – auch in ihrem Namen – für die freundliche Aufnahme. Sie seien an ihrem ersten Tag total aufgeregt gewesen und jetzt überglücklich, schon so etwas wie ein Teil dieser wunderbaren kleinen Forscherfamilie zu sein. Er fand, wie immer, wenn er wollte, die richtigen Worte. Ein Korken knallte, jemand stellte Musik an, und Gennaro prostete ihr vom anderen Ende der Terrasse zu. Sie wollte zu ihm rübergehen, als ihr einfiel, dass sie etwas vergessen hatte. Während die Kollegen begannen, sich zur Musik in den Hüften zu wiegen, stellte sie ihr Glas ab und verschwand unbemerkt durch die Tür.
Unten im Keller wartete ihre Krabbe bewegungslos und hungrig in ihrem Aquarium. Das Tier war ihr durch die Arbeit schon richtig ans Herz gewachsen. Nacheinander ließ sie ein paar Moosbälle ins Wasser fallen und beobachtete, wie die Krabbe sich in Bewegung setzte und sich mit ihren Scheren daran machte, die kleinen Pakete zu zerteilen, als sie hörte, wie hinter ihr die Tür ging. Erschrocken drehte sie sich um.
»Störe ich?«, fragte Vincenzo.
»Ich komme gleich«, antwortete sie.
Zusammen beobachteten sie, wie ihre Krabbe, als hätte sie einen Hüftschaden, seitwärts über den Grund des Aquariums lief.
»Gehst du mir aus dem Weg?«, fragte Vincenzo.
»Wie kommst du darauf?«, fragte sie zurück und spürte, wie ihr Herz klopfte. Im Plauderton berichtete sie, ihrer Krabbe eventuell einen Namen geben zu wollen, wisse aber, dass diese Vermenschlichung von Lebewesen in der Wissenschaft eigentlich keine gute Idee war – und verstummte. Außer dem Summen der Kühlaggregate war nichts mehr zu hören.
»Ich vermisse dich«, sagte Vincenzo leise und fuhr mit dem Finger über ihren Arm.
Sie wandte sich ab und stellte die Tüte mit den Moosbällen zurück in den Kühlschrank. »Ich bin doch hier«, antwortete sie munter. »Wir sehen uns jeden Tag.«
Er trat näher. »Du weißt genau, was ich meine«, sagte er und strich ihr zärtlich eine Strähne aus dem Gesicht.
Rasch drehte sie ihren Kopf zur Seite. »Ich bin froh, dass wir drei hier so gut zusammenarbeiten«, sagte sie. »Und das soll auch so bleiben.«
Er stand so dicht bei ihr, dass er mit seinem Oberkörper sanft ihre Schulter berührte. Sie roch das Salzwasser in seinen Haaren und spürte die Wärme seines Körpers.
»Es war schön mit dir neulich«, murmelte er.
»Ja.« Vorsichtig versuchte sie, seitlich an ihm vorbeizukommen. »Und dabei sollten wir es belassen.«
»Hat es dir denn nicht gefallen?«, flüsterte er ihr ins Ohr.
»Wir waren betrunken.« Sie wich seinen Lippen aus, spürte seinen heißen Atem und stieß rückwärts an den Tisch.
Vincenzo drückte sie an sich und hob sie hoch. Für Sekunden hatte sie keinen Boden unter den Füßen, strampelte und versuchte, die aufkommende Panik zu unterdrücken. »Lass mich«, bat sie.
»Komm schon.« Wie einen Gegenstand setzte er sie auf den Tisch und fuhr mit der Hand unter ihr Kleid.
Sie versuchte, seine Hände festzuhalten, und presste ihre Beine zusammen. »Wenn du nicht sofort aufhörst«, stieß sie hervor, »schreie ich das ganze Institut zusammen.«
»Jetzt hab dich nicht so.«
»Ich warne dich!« Sie versuchte ihn von sich zu drücken.
»Dann schrei doch.« Er packte sie und umklammerte ihre Handgelenke. »Na los. Hier hört dich sowieso keiner.«
Als sie zurück auf die Terrasse kam, drehte Jack sich zu ihr um. »Alles in Ordnung?«, fragte er.
Sie nahm ihm das Glas aus der Hand, trank es in einem Zug aus und sagte: »Nichts ist in Ordnung.«