Rizzi hatte Cirillo noch gewarnt: Nach dem Gewitter in der vergangenen Nacht würde das Meer aufgewühlt sein und das kleine Polizeiboot nichts anderes als eine tanzende Nussschale auf meterhohen Wellen. Und er hatte ihr vorgeschlagen, mit dem aliscafo zu fahren, das ganz anders auf dem Wasser lag. Doch die Kollegin hatte die Sache mit einer Handbewegung und der Bemerkung abgetan: »Wird schon nicht so wild werden.«
Zweimal hatte sie sich inzwischen übergeben und hing jetzt kreideweiß auf dem Notsitz, den Blick, wie er ihr geraten hatte, eisern auf den Horizont geheftet, so dass sie verpasste, wie das Castello Aragonese hinter ihr vorbeizog, die alte Festung auf dem Felsen vor Ischia, die schon für manchen Hollywood-Streifen eine spektakuläre Kulisse abgegeben hatte. Der Kollege Giorgio Schifino am Steuer hatte noch einmal das Tempo gedrosselt und schilderte mit weit ausholenden Bewegungen die dramatischen Ereignisse der vergangenen Nacht, als es blitzte und donnerte, dass man dachte, die Welt würde untergehen, und er zum dritten Mal Großpapa geworden war – ein prächtiger Junge, neun Pfund schwer, der seinen Namen tragen werde.
Eine Autofähre blockierte mit ihrem Wendemanöver die Einfahrt in den Hafen. Leute winkten vom Oberdeck, und Rizzi schaute hinauf zur ockerfarbenen Villa, die oberhalb des Hafens zwischen den Bäumen leuchtete: das Istituto di biologia marina Ischia, von den Einheimischen kurz IBI genannt. Vincenzo Taccone hatte beim ersten telefonischen Kontakt ohne Umschweife bestätigt, dass er dort zur Zeit tätig und mit Jack Milani und Sofia Polito insofern bekannt war, als sie bei ihm ein Praktikum absolviert hatten. Selbstverständlich würde er für alle Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellten, zur Verfügung stehen. Dass Lombardi hier schon von einem »Coup« gesprochen hatte, zeigte, wie groß die Not war, endlich Ergebnisse zu liefern.
Schifino manövrierte an den Steg und machte neben einem Boot fest, das mit dem Namen IBI zum Institut gehören musste. Rizzi bekam die Reling zu fassen und schabte mit seinem Schweizer Messer dort, wo der Lack abblätterte. Die weißen und blauen Splitter, die er in ein Tütchen rieseln ließ, würde er später nach Neapel schicken, wo die Kollegen sie analysieren und mit den Lackspuren vergleichen würden, die am Kahn mit dem Toten gefunden worden waren. Es war nicht ausgeschlossen, dass die Spuren von einer Kollision mit dem Boot des Täters stammten.
Schifino half von Bord und erklärte, er wolle, bevor er zurück nach Capri fuhr, noch kurz bei den Kollegen vorbeischauen (und wahrscheinlich mit seinem neugeborenen Enkelsohn prahlen). Er verabschiedete sich, und Rizzi stellte fest, dass es an der Eisenpforte zum Institut hinauf keine Klingel oder Gegensprechanlage gab und ihnen wohl nichts anderes übrigblieb, als den Umweg durch die Stadt anzutreten. Cirillo, noch etwas grün im Gesicht und nicht ganz sicher auf den Beinen, drehte am Knauf – und die Pforte ging auf.
»Bitte schön«, sagte sie. Eine steile steinerne Treppe führte den Hang hinauf. Wortlos machten sie sich an den Aufstieg.
Das Geräusch der Wellen, die unten am Hafen auf die Befestigungen trafen, wurde leiser und verhallte schließlich ganz. Nur ihre Schritte waren zu hören, das Knistern der trockenen Blätter unter ihren Sohlen, ihr Schnaufen und das Zirpen der Grillen. Über ihnen segelte eine Möwe und schien sie nicht aus den Augen zu lassen, als würde sie auskundschaften, wer sich hier in der Mittagshitze in voller Montur den Hang hinaufkämpfte.
»Warst du eigentlich schon mal auf Ischia?«, versuchte Rizzi ein Gespräch anzuknüpfen.
Cirillo verneinte kurzatmig, und Rizzi beließ es dabei.
Oben angekommen, schauten sie sich um. Der Boden war mit Laub bedeckt, mit braunen Nadeln, Pinienzapfen und Platten aus Waschbeton, zwischen denen kniehoch das Gras stand. Aus der Nähe betrachtet, wirkte die Villa weniger prächtig, als man es von unten erwartet hätte. Die Farbe blätterte vom Putz, und darunter kam ein Geäst aus feinen Rissen zum Vorschein, durch das im Winter die Feuchtigkeit ins Mauerwerk dringen würde. Die Fenster waren irgendwann einmal erneuert worden, und das Aluminium blitzte in der Sonne. Alles war verrammelt, auch die Hintertür.
Sie gingen um das Gebäude herum, an einem Schild vorbei, auf dem in verblichenen Buchstaben stand, dass das Betreten des Geländes strengstens verboten sei. Ein Gartenschlauch lag ordentlich aufgerollt auf der Erde, und neben der Eingangstür lehnte ein Besen. Sie klingelten, aber nichts geschah.
Während Rizzi zu klopfen begann und Cirillo ihr Telefon zückte, ging plötzlich die Tür auf, und eine Frau streckte misstrauisch ihren Kopf heraus.
Rizzi erklärte, sie hätten einen Termin mit Professor Taccone, und ergänzte, weil die Frau aussah, als hätte sie den Namen noch nie gehört: »Vincenzo. Er erwartet uns.«
Die Frau schien weder überrascht noch erschrocken und ließ sie eintreten. Ein alter Schreibtisch stand unter der Treppe, darauf ein ausrangierter Monitor und Kartons mit Elektroschrott.
»Vincenzo!«, gellte sie und meinte, als keine Antwort kam: »Geht einfach hoch. Erster Stock.«
Die Treppe führte auf eine Galerie und einen Flur, in dem ein Rennrad an der Wand lehnte. Gegenüber stand eine Tür offen. »Bin gleich bei Ihnen«, rief jemand, noch bevor sie um die Ecke geschaut hatten.
Vincenzo Taccone war mit einer Pipette dabei, eine gräuliche Flüssigkeit in Reagenzgläser zu füllen. In seinen kurzen Hosen, braungebrannt, mit blondem Drei-Tage-Bart, sah er eher aus wie ein Surfer als ein Professor. In aller Ruhe legte er die Pipette beiseite, stellte den Halter mit den Reagenzgläsern in einen Kasten aus Stahl, der aussah wie ein kleiner Safe, schloss die Tür und drehte an verschiedenen Rädchen. Er musterte die Anzeige, korrigierte die Einstellung – und schien zufrieden.
»Ich dachte schon, Sie kommen gar nicht mehr«, sagte er und streifte die Latexhandschuhe ab.
»Arbeiten Sie hier ganz alleine?«, fragte Cirillo, während Rizzi seinen Blick über die verschiedenartigen Glasgefäße im Regal schweifen ließ. Das Periodensystem an der Wand rief bei ihm ungute Erinnerungen an die Schulzeit hervor. Es roch nach Äther, Chlor und Staub.
»Wir sind nur ein kleines Team«, erklärte Taccone. Er verdrehte die Augen zur Decke und fing an, an einer Hand abzuzählen: »Gennaro arbeitet oben in der Dokumentation, Luca hat Urlaub, Loretta ist wahrscheinlich gerade in Mittagspause, und die Praktikantenstelle ist zurzeit vakant.« Er hob den Finger. »Und nicht zu vergessen: Gabriella, die Ihnen aufgemacht hat. Sie kommt zweimal in der Woche zum Putzen.«
»Und Sie«, fragte Cirillo, »sind hier der Chef?«
Taccone musterte Rizzis Kollegin, als amüsiere ihn diese Frage. »Ich bin Gast und darf hier eine Zeitlang arbeiten«, sagte er, und um seine Augen herum bildeten sich kleine Lachfältchen. »Und ich versichere Ihnen, es ist der schönste Arbeitsplatz, den man sich vorstellen kann.« Er warf die Handschuhe in den Müll und bat die Polizisten, ihm zu folgen.
Auf dem Weg durch ein Labyrinth aus Fluren und Treppen erklärte Taccone, bis Ende September sei er noch in der glücklichen Lage, sich vollständig auf das laufende Projekt konzentrieren zu können, ohne von seiner Lehrtätigkeit in Rom, den Studenten oder der leidigen Uni-Bürokratie abgelenkt zu werden. Und genau das sei auch die Idee hinter diesem Institut: Hier sollten Wissenschaftler für einen bestimmten Zeitraum andocken und ungestört arbeiten können.
»Und was ist das für ein Projekt, an dem Sie arbeiten?«, fragte Rizzi, der nur eine vage Erinnerung an den Artikel und das Interview im Mattino hatte.
Taccone zog im Vorbeigehen eine Tür zu und erklärte, es gehe darum, Meerestiere zu beobachten und zu untersuchen, wie der Säuregehalt im Wasser auf die Organismen wirke. Allerdings seien sie gerade bei Ischia-Ponte und in der Bucht von Citara auf CO2-Quellen gestoßen, die bisher noch gar nicht verzeichnet waren. Daher werde er nun einen Antrag stellen, das Projekt zu verlängern und, wenn möglich, auszuweiten und mit mehr Mitarbeitern auszustatten.
Auf Rizzis Frage, woher die finanziellen Mittel kämen und ob es da auch wirtschaftliche Interessen gebe, bestätigte Taccone, dass es neben einer Anschubfinanzierung, einem Sockelbetrag aus staatlichen Geldern, in der Tat auf die Höhe der Drittmittel ankomme, also auf Gelder aus der freien Wirtschaft, um ein Projekt in dieser Größenordnung durchzuführen.
Als sie auf dem letzten Treppenabsatz um die Ecke bogen, strömte ihnen warme Luft entgegen. Die Terrasse war von einer niedrigen Mauer umgeben und hing wie ein steinernes Nest mitten in den Baumkronen. Rizzi fragte Taccone, wie es denn dazu gekommen sei, dass Jack Milani und Sofia Polito ausgerechnet hier auf Ischia ein Praktikum absolviert hatten.
Taccone ließ seinen Blick über die Hänge wandern. Die Sonne hatte der Vegetation stark zugesetzt. Der Kontakt, erklärte Taccone, sei vor ungefähr einem halben Jahr an der Uni in Genua zustande gekommen, als er dort zu einem Gastvortrag eingeladen war. Er sollte einen Praxisbericht liefern, mit Bildern und allem Drum und Dran, aber weil das Auditorium vor allem aus Studienanfängern bestand, hatte er sich entschieden, überhaupt erst einmal darzustellen, was eigentlich die Arbeit eines Meeresbiologen beinhaltet, welches die gegenwärtigen Probleme sind und wo die zukünftigen Herausforderungen liegen.
Cirillo lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, wo es ein bisschen Schatten gab. »Was, glauben Sie, hat Jack und Sofia am meisten an dem Thema interessiert?«
Taccone fixierte Cirillo nachdenklich. »Ich denke, es ist das, was ich immer den Blick in die Zukunft nenne. Dazu kommt ein gewisser Suchtfaktor: Wenn Sie einmal in das Thema einsteigen, lässt es Sie nicht mehr los.« Er setzte sich auf die Mauer und erklärte: »Natürlich sind auch Meeresbiologen keine Hellseher. Aber die Situation hier auf Ischia ist eine ganz besondere, weil man es hier mit Vulkangestein zu tun hat und eine Versauerung des Meeres vor der Küste naturgegeben ist. Das bedeutet, dass sich an diesen Stellen die Auswirkungen ablesen lassen, wie sie in wenigen Jahrzehnten durch den von Menschen gemachten CO2-Ausstoß zu erwarten sind.«
»Sind die beiden nach Ihrem Vortrag zu Ihnen gekommen und haben gesagt: Übrigens, wir wollen bei Ihnen ein Praktikum machen?«, fragte Rizzi.
Taccone schien es nicht gewohnt zu sein, in seinem Vortrag unterbrochen zu werden. Er lächelte irritiert und erklärte, wenn er sich recht erinnere, sei das Wort »Praktikum« zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gefallen. Eigentlich habe Jack auf rührende Weise versucht, ihm auf Augenhöhe zu begegnen, und ihn wissen lassen, er sei immer mal wieder auf Capri, und wenn es sich ergäbe, vielleicht im Laufe der Sommersemesterferien, würden er und seine Freundin gerne mal an einem gemeinsamen Tauchgang vor Ischias Küste teilnehmen.
Okay, habe er damals gedacht: Capri, Sohn reicher Eltern, hier glaubt wohl jemand, dass er alles bekommt, was er will. Aber Jack sei verdammt hartnäckig gewesen und habe in den darauffolgenden Wochen einfach nicht lockergelassen, bis sie sich hier tatsächlich einmal zum Tauchen trafen und Taccone feststellte: Hey, die beiden meinen es wirklich ernst.
Alles andere sei dann Zufall gewesen: dass hier am Institut ein Praktikant kurzfristig abgesagt hatte und die beiden, weil sie nebenan auf Capri waren, recht schnell und unkompliziert nachrücken konnten. Taccone verstummte, starrte in die Ecke, wo ein Holzkohlegrill und ein Müllsack standen, und sagte: »Ich kann noch gar nicht glauben, dass er tot ist.«
»Was für ein Mensch war Jack?«, fragte Cirillo.
Taccone verschränkte die Arme vor der Brust. Es gebe zwei Sorten von Studenten, sagte er. Die einen – und das sei leider die Mehrheit – würden lernen und das Gelernte zum Prüfungstermin einfach brav wieder ausspucken. Die anderen – und die gab es zum Glück eben auch – würden nicht nur Fragen stellen, sondern auch Dinge in Frage stellen. Und so einer sei Jack gewesen. Fordernd, manchmal rechthaberisch und zuweilen eine echte Nervensäge, aber immer in großen Zusammenhängen denkend.
»Ein echter Weltverbesserer?«, fragte Cirillo.
Taccone verzog das Gesicht. »Ich glaube, je mehr Jack sich mit der Welt beschäftigt hat, desto weniger hat er geglaubt, sie verbessern zu können.« Er strich sich über das Kinn. »Und da ist er übrigens nicht der Einzige. Dieses Schicksal teilt er mit vielen Wissenschaftlern.«
»Warum haben Sie sich nicht sofort gemeldet, als Sie von dem Mord an Jack erfahren haben?«, fragte Rizzi.
Taccone schien von der Frage für einen Moment überrascht zu sein. Er ließ sich Zeit mit der Antwort und wägte seine Worte ab. »Vielleicht«, sagte er, »habe ich mich nicht gerührt, weil ich das Gefühl hatte, dass ich der Polizei nichts Substantielles mitzuteilen habe.«
»Ich glaube, Sie haben noch nicht ganz verstanden, in welcher Situation Sie sich befinden«, sagte Cirillo. »In diesem Meer hier, das Ihnen so wichtig ist, ist ein Mord passiert, und Sie hatten mit Jack bis kurz vor seinem Tod Kontakt. Dass Sie sich danach nicht gerührt haben, macht Ihre Lage nicht gerade besser.«
Taccone schaute Cirillo ungläubig an. »Und das reicht, um unter Mordverdacht zu geraten?« Er lachte. »Agente, ich bitte Sie!«
»Hatten Sie ein Problem mit Jack?«, hakte Cirillo nach.
»Moment mal.« Taccone hob die Hand. »Das geht mir hier gerade alles ein bisschen zu schnell. Damit eins klar ist«, er betonte jedes einzelne Wort, »ich habe mit dem Tod von Jack Milani nichts zu tun.«
»Was meine Kollegin meint«, mischte sich Rizzi ein: »Hatte Jack Feinde?« Er warf Cirillo einen Blick zu, der ihr signalisieren sollte, jetzt nicht die Geduld zu verlieren.
»Die Frage ist so absurd wie die ganze Situation hier.« Taccone fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Ich meine, Jack war Student. Welche Feinde kann ein Student haben?«
»Was ist mit Sofia Polito?« Cirillo sprach immer noch lauter als gewöhnlich. »Welchen Eindruck haben Sie von ihr?«
Taccone zuckte gleichgültig die Schultern. »Vielleicht tue ich ihr unrecht, aber im Vergleich zu Jack war sie ein schlichtes Gemüt. Wie soll ich sagen? Nicht so schnell im Kopf. Dafür insgesamt zäher, impulsiver und weniger sprunghaft als Jack.« Er überlegte – und schüttelte den Kopf. »Nein, ich kann wirklich nichts Schlechtes über sie sagen. Sie ist in ihrem Fach zwar keine Überfliegerin, aber sie ist ernsthaft bei der Sache.«
»Dass sie verschwunden ist, wissen Sie?«, fragte Cirillo.
»Ich habe es gelesen, ja. Kurz bevor Sie angerufen haben.«
»Und was sagen Sie dazu?«, fragte Rizzi. »Haben Sie eine Vorstellung, was passiert sein könnte oder wo sie sich aufhält? Hatten die beiden Streit?«
Taccone schaute angestrengt auf seine Sneakers, sagte aber nichts.
»Sie sind für uns ein wichtiger Zeuge«, erklärte Rizzi. »Sie haben die beiden im Praktikum erlebt. Irgendetwas muss Ihnen doch aufgefallen sein.«
»Ich glaube, sie hatte ihn ziemlich an der Kandare.«
»Was soll das jetzt wieder heißen?«, fragte Cirillo.
»Sie hat ihm gesagt, wo es langgeht: Tu dies nicht, tu das. Aber sie waren ein gutes Paar. Wahrscheinlich haben sie sich gut ergänzt.«
»Was ist denn ›ein gutes Paar‹?«, wollte Cirillo wissen. »Und wobei haben sie sich ›gut ergänzt‹?«
»Okay.« Taccone legte den Kopf in den Nacken. »Dann sage ich jetzt etwas: Sofia war eifersüchtig und hatte Angst, dass Jack ihr von der Leine geht. Keine Ahnung, ob diese Angst berechtigt war. Ich glaube, er hat sie geliebt, das hat er mir jedenfalls gesagt, aber sie muss ziemlich besitzergreifend gewesen sein, und wir Männer mögen das ja nicht immer.«
»Das heißt, er hat Ihnen sein Herz ausgeschüttet«, stellte Cirillo ironisch fest.
»Es waren Bemerkungen, die er nebenbei mal gemacht hat und die ich jetzt zusammenklaube. Zufrieden? Klatsch und Tratsch. Den ich an Ihrer Stelle allerdings nicht überbewerten würde.«
»Danke für den Tipp«, sagte Rizzi.
»Gern geschehen.«
»Wann hatten Sie zuletzt Kontakt zu den beiden?«, fragte Cirillo.
»Nach dem Praktikum habe ich nichts mehr von ihnen gehört.«
»Und wann endete das Praktikum?«, fragte Rizzi.
»Um den siebten August herum.«
»Heißt das etwa« – Rizzi warf Cirillo einen kurzen Blick zu – »das Praktikum war nach einer Woche schon wieder vorbei?«
»Kommt hin.« Taccone nickte.
»Was war los?«, fragte Rizzi. »Gab es Streit?«
»Ich muss Sie schon wieder enttäuschen.« Taccone lächelte. »Die beiden haben einfach gemerkt, dass das Praktikum nicht das ist, was sie sich vorgestellt haben. So etwas kommt vor. Studenten der Meeresbiologie haben oft eine falsche Vorstellung von der Praxis, versprechen sich mehr Abenteuer, dass sie ständig tauchen gehen und dabei alle paar Meter aufregende Entdeckungen machen. Aber der Alltag sieht leider anders aus. Am Ende sitzt man eben mutterseelenallein vor dem Computer, schreibt Berichte und füllt Tabellen aus.«
Rizzi notierte sich etwas, während Cirillo fragte: »Und wie erklären Sie sich Ihr Foto in der Via Tamborio?«
»Foto?« Taccone schaute sie verständnislos an.
»Bei Jack und Sofia an der Badezimmertür.«
»Da hängt ein Foto? Von mir?« Taccone schüttelte ungläubig den Kopf.
»Waren Sie mal in der Via Tamborio?«, fragte Rizzi.
»Einmal.«
»Wann?«
»Zur Vorbesprechung für das Praktikum.«
»Ist das üblich?«, fragte Rizzi. »Bespricht man so etwas nicht eher am Telefon? Oder, noch besser: vor Ort, hier am Institut?«
»Es war ihre Idee, und ich fand es nett.«
»Also war der Kontakt durchaus freundschaftlich?«, fragte Rizzi.
Taccone seufzte. »Ja.«
»Aber dann ist die Tatsache, dass die beiden nach einer Woche hinschmeißen und sich danach nicht mehr melden, doch umso enttäuschender.«
Taccone schaute Rizzi spöttisch an. »Aber deshalb bringe ich niemanden um. Verzeihen Sie, Agente, es war ein Praktikum, nicht mehr und nicht weniger.«
»Wo waren Sie in der Nacht vom elften auf den zwölften August?«, fragte Cirillo. »Zu Ihrer Erinnerung: Das ist die Nacht von Dienstag auf Mittwoch. In der Zeit zwischen zwei und fünf Uhr morgens.«
»Ich schätze, in meinem Bett.«
»Hier auf der Insel?«
»Ich habe eine Ferienwohnung an der Via Quercia, nicht weit vom Hafen.«
»Waren Sie allein?«
»Wenn ich gewusst hätte, dass Jack in der Nacht abgestochen wird, hätte ich mir jemanden aufgerissen, das können Sie mir glauben.« Er warf Cirillo einen herausfordernden Blick zu, den sie jedoch mit blitzenden Augen erwiderte.
»Das Boot unten am Anleger – gehört es dem Institut?«, fragte Rizzi.
»So ist es.«
»Das heißt, jeder, der hier arbeitet, kann es benutzen?«
»Richtig.«
»Wir brauchen eine Liste mit den Namen und Kontaktdaten aller Mitarbeiter«, erklärte Rizzi.
»Und Ihre genaue Wohnadresse auf Ischia und in Rom«, ergänzte Cirillo.
Taccone zog eine Visitenkarte aus dem Portemonnaie, kritzelte mit Bleistift Namen und Mailadressen seiner Mitarbeiter auf die Rückseite und reichte Cirillo das Kärtchen. »Gibt es sonst etwas, das ich für Sie tun kann?« Mit der Beflissenheit eines Kellners, der dabei ist, eine Bestellung aufzunehmen, schaute er von Rizzi zu Cirillo. »Wenn nicht, würde ich jetzt nämlich gerne wieder an meine Arbeit gehen.«
Rizzi bat, er möge den Institutsmitarbeitern mitteilen, dass sie für eine Befragung auf die Terrasse kommen sollten, am besten nacheinander und zuerst die Frau, die ihnen die Tür aufgemacht hatte.
Bevor Taccone verschwand, fragte Rizzi noch: »Kennen Sie eigentlich Melodia e note?«
Taccone war schon in der Tür und blieb stehen. »Nie gehört.« Er drehte sich um. »Was soll das sein?«
»Ein Musikgeschäft in Neapel.«
»Dachte ich mir – bei dem Namen. Aber ich bin leider total unmusikalisch.« Taccone zuckte die Schultern. »Tut mir leid.«
Als er weg war, trat Rizzi neben Cirillo an die Brüstung. Da drüben lag Procida. Die Insel schien so nah, als könne man mal eben schnell hinüberschwimmen.
»Glaubst du, Taccone lügt uns an?«, fragte er und stützte sich auf die Balustrade.
»Ich weiß nicht. Ich bin mir allerdings fast ganz sicher, dass er uns einen Teil der Geschichte vorenthält. Aber ich kann nicht sagen, welchen.«
Die Frau, die ihnen vor einer guten Stunde geöffnet hatte, betrat die Terrasse. »Der Professore sagt, Sie wollen mich sprechen?«
Ihr Name war Gabriella Mocnik, sie sei hier nur zum Putzen und habe mit den Praktikanten wenig zu tun. Mit Jack Milani habe sie einmal ein paar Worte gewechselt und ihm gesagt, er möge doch, wenn er zur Hintertür rausgeht, daran denken, diese immer fest hinter sich zuzuziehen. Ob man es glaube oder nicht, es sei nämlich schon vorgekommen, dass wildfremde Leute durchs Institut gegeistert seien, weil sie dachten, es sei ein öffentliches Gebäude, und dann würden die Leute plötzlich hier oben stehen und die Aussicht genießen. Was Sofia Polito angehe, mit der habe sie ein einziges Mal gesprochen, und wenn die Polizei es genau wissen wolle, sei es dabei um die Teetasse von Gennaro gegangen. Die dürfe nämlich nicht abgewaschen werden, was Sofia nicht wusste. So eine ganz Eifrige sei sie gewesen. Aber bei der Gelegenheit habe sie erzählt, sie stamme aus Sorrent, sei aber noch nie in ihrem Leben auf Ischia gewesen.
Als Nächstes erschien Loretta Teglio, eine Blondine im Jeansrock und mit braungebrannten Waden, die am Institut eine Teilzeitstelle als Laborantin hatte. Sie berichtete, dass sie Jack Milani immer morgens zu Gesicht bekommen habe, wenn sie zur Arbeit kam und er dabei war, die Ausrüstung hinunter ins Boot zu schleppen – die ätzendste Praktikantentätigkeit, die man sich vorstellen könne, habe er gefrotzelt, und sie habe darauf gesagt, das sei er ja schließlich auch: Praktikant. Wenn man so wolle, sei es ein Flirt gewesen, aber harmlos. Dass er tot war, habe sie jetzt erst mitbekommen, und natürlich sei sie geschockt und auch wütend, dass so etwas hier bei ihnen, in ihrer Gegend passiert, aber eine Erklärung oder einen Verdacht habe sie nicht.
Was seine Freundin, diese Sofia, angehe, sei sie mit ihr über ein paar freundliche Worte auf dem Flur nicht hinausgekommen. Sie habe immer ein bisschen verkniffen gewirkt, aber das sei natürlich subjektiv. Andere würden vielleicht sagen, sie sei ernsthaft.
Ernsthaft – genau so bezeichnete Gennaro Fioroni, der Letzte der Befragten, Sofia Polito, und damit meinte er vor allem die Art und Weise, wie sie ihr Praktikum angegangen sei. Sehr strukturiert und gut organisiert habe das Mädel gearbeitet. Umso überraschter sei er gewesen – und auch etwas enttäuscht –, als sie dann am Montag einfach nicht mehr auftauchte. Das sei keine Art, aber durchaus auch nichts Ungewöhnliches. Viele Praktikanten würden ihren Aufenthalt hier am Institut mit einem erweiterten Inselurlaub verwechseln und dann, wenn es ihnen zu anstrengend wurde, einfach wegbleiben. Allerdings hätte er gedacht, Sofia würde nicht zu dieser Sorte gehören. So könne man sich irren.
Zu dem jungen Mann, Jack, habe er keine Meinung, den habe er am ersten Tag einmal kurz gesehen, ihm die Hand geschüttelt und dann kaum noch zu Gesicht bekommen.
Cirillo notierte alle Angaben und Alibis, und Rizzi erklärte, dass die Institutsmitglieder sich für weitere Fragen, möglicherweise von der Mordkommission in Neapel, bereithalten sollten. Dann verabschiedeten sie sich und machten sich über die Treppe an den Abstieg zum Hafen.
Unten angekommen, sagte Cirillo, sie würde nicht mit dem Polizeiboot zurück nach Capri fahren, sondern das aliscafo nehmen und vorher noch einen kleinen Spaziergang machen. Sie wollte sich mal anschauen, wo Taccone wohnte.
»Soll ich mitkommen?«, fragte Rizzi leicht alarmiert.
»Nicht nötig.« Cirillo winkte ab. »Du kannst schon mal das Protokoll schreiben.«
Cirillo warf einen Blick auf den Umgebungsplan, der bei der Touristeninformation im Schaukasten hing, und stellte fest, dass die Via Quercia tatsächlich gleich um die Ecke war.
»Und das reicht, um unter Mordverdacht zu geraten?«, hatte Taccone gesagt. Der Satz ging Cirillo nicht mehr aus dem Kopf.
Es war interessant, denn weder sie noch Rizzi hatten gesagt, dass sie Taccone verdächtigten. Als Wissenschaftler konnte der Mann sich doch denken, wie man so etwas wie Ermitlungen anging und dass es zur Routine gehörte, das gesamte Umfeld abzuklopfen, noch dazu, wenn man es mit Mord zu tun hatte. Weshalb regte er sich also auf und warum so schnell?
Die Busse in der Haltebucht verpesteten mit ihren laufenden Motoren die Luft und machten sie noch heißer, als sie ohnehin schon war. Cirillo wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Dass Taccone ihr so auf die Nerven ging und sie sich beim Gespräch mit ihm zusammenreißen musste, lag nicht nur an ihm. Irgendwie erinnerte er sie mit seinem Aussehen und seinem Hipster-Gehabe fatal an Björn. Ihr Ex tat zwar immer so schwedisch cool und offen, aber eigentlich waren all diese Frauenversteher nichts anderes als Machos. Björn hatte sie bei jeder Gelegenheit betrogen, bis sie endlich die Reißleine gezogen und mit Oscar von Stockholm nach Bergamo in ihr altes Leben zurückgekehrt war.
Sie bog in eine kleine Gasse ab und presste sich mit dem Rücken an die Hauswand, damit das Auto vorbeikam. Der Opa am Steuer nahm weder das Gas zurück, noch bedankte er sich.
»Aber deshalb bringe ich niemanden um« war der zweite Satz von Taccone, der ihr nachhing. Was meinte er mit »deshalb«? Sie ärgerte sich, dass sie nicht sofort nachgehakt hatte. Und dass Rizzi, wann immer es ihm passte, das Gespräch an sich riss und in seine Richtung lenkte.
Und sie es auch noch zuließ! Obwohl sie in dieser Hinsicht deutlich mehr Erfahrung hatte. Nun gut, das sollte ja auch niemand wissen, und sie war Ispettore Lombardi dankbar, dass er tatsächlich sein Versprechen hielt und die Sache nicht ausplauderte. Sie wollte selbst bestimmen, ob und wann sie mit dieser Information herausrückte. Der Abstieg von einer Kommissarin zu einer Inselpolizistin war schließlich alles andere als schmeichelhaft.
»Komm schon, Mamma«, würde Oscar jetzt sagen. »Chill mal.«
Hausnummer 27 stand auf Taccones Visitenkarte. Das Gebäude befand sich am Ende der Kurve, war zweistöckig und in einem gewöhnungsbedürftigen Orange gestrichen. Die grünen Fensterläden waren geschlossen, aber die Haustür stand auf.
Cirillo sah einen Lappen am Ende eines Stiels über die gekachelten Stufen gleiten, dann Kopf und Oberkörper eines Mannes. Sie grüßte und fragte, ob hier ein gewisser Vincenzo Taccone wohne.
»Der Professore?« Der Mann klatschte den Lappen in den Eimer und wrang ihn aus. »Ist nicht da. Arbeitet. Da müssen Sie hoch zum Institut.« Er machte eine Kopfbewegung den Hang hinauf.
»Vielleicht können Sie mir auch weiterhelfen«, sagte Cirillo. »Es geht um die Nacht von Dienstag auf Mittwoch, vergangene Woche. Ist Ihnen da irgendetwas aufgefallen?«
»Aufgefallen? Was soll mir denn aufgefallen sein?« Mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen musterte der Mann Cirillo. Dann bückte er sich und fuhr fort zu putzen, allerdings eine Spur langsamer.
»War der Professore in der Nacht zu Hause«, fragte Cirillo, »oder war er unterwegs?«
»Nein, so einer ist er nicht«, schnaufte der Mann. »Der Professore kennt nur seine Arbeit. Geht früh schlafen und steht morgens früh auf. Warum fragen Sie?«
»Sie haben also nichts Ungewöhnliches bemerkt?«
»Wenn ich schlafe, schlafe ich.« Er wrang wieder den Lappen aus.
»Wohnen Sie allein?«, fragte Cirillo.
»Meine Frau ist vor zwei Jahren verstorben.«
Cirillo überlegte. »Können Sie denn hören, wenn in der Nacht jemand das Haus verlässt?«
Er ließ den Lappen auf den Boden fallen. »Ich bin nicht schwerhörig, wenn Sie das meinen. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss die Treppe fertigkriegen.« Er drehte sich um und fragte: »Warum wollen Sie das denn alles wissen?«
»Routine«, erklärte Cirillo leichthin. »Wir sprechen mit allen, die das Opfer kannten.«
»Opfer?« Der Mann schaute auf.
»Der Mann, den man vor der Küste von Capri tot im Boot gefunden hat.«
»Ich habe davon gelesen. Schlimme Geschichte.« Der Mann kratzte sich betroffen am Kopf. »Aber ich kannte den Mann doch gar nicht.«
»Aber der Professore kannte ihn«, erklärte Cirillo geduldig. »Wie ist er denn so als Mieter?«
»Ich kann nicht klagen.« Er stützte sein Kinn auf den Besenstiel. »Angenehm. Ruhig und zuverlässig. Zahlt im Voraus. Fragen Sie mal die Leute hier, das macht sonst niemand.«
»Warum macht er das?«
»Im Voraus zahlen?« Er zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Mir ist es recht, und ich stelle keine Fragen.«
»Aber was könnte es bedeuten?«
Der Vermieter schaute Cirillo fragend an, und sie schaute fragend zurück. Dann erklärte er: »Vielleicht, damit er nicht mehr dran denken muss? Die Sache aus dem Kopf hat?« Er hob den Zeigefinger. »Oder damit er das Geld nicht für etwas anderes ausgibt.«
»Haben Sie eine Idee, was das sein könnte?«
Der Mann horchte ins Treppenhaus. »Nun«, begann er zögernd, mit unterdrückter Stimme, »ich habe zufällig gesehen, dass er eine ganze Reihe sehr teurer Armbanduhren besitzt. Ich weiß nicht, ob Sie Bescheid wissen, aber der Professore geht tauchen, beruflich. Da braucht er wahrscheinlich solche teuren Instrumente.«
»Wo haben Sie die Uhren gesehen?«
Der Mann stellte sich gerade hin und sagte: »Ich mache einmal in der Woche bei ihm sauber. Das ist so abgesprochen. Seit meine Frau nicht mehr da ist, muss ich mich um alles kümmern.«
»Verstehe«, erklärte Cirillo trocken. »Bevor ich mit Signor Taccone spreche, würde ich gerne selbst einen kurzen Blick in seine Wohnung werfen.«
Der Mann schaute sie unsicher an.
»Wie gesagt«, fügte Cirillo hinzu, »reine Routine.«
Er wandte seine Augen gen Himmel, bekreuzigte sich und sagte flüsternd: »Drehen Sie sich mal um.«
»Wie bitte?«
»Wegschauen.«
Cirillo gehorchte, hörte Schritte, das Schwappen von Wasser, einen Schlüssel und wie eine Tür aufgesperrt wurde. Wieder Schritte, dann die Haustür, die ins Schloss fiel. Danach war es still.
Cirillo schaute in den glänzenden Flur. Die Wohnungstür auf dem ersten Treppenabsatz stand einen Spalt offen.
Von der winzigen Diele ging rechts ein Zimmer ab, in dem ein breites Bett stand. Links war ein Bad, geradeaus ein Raum mit Küche, Sofaecke und Bücherregal. Reiseführer für Ischia, zerfledderte Romane in englischer Sprache. Im Kühlschrank drei Flaschen Mineralwasser, sonst nichts. Im Bad stand eine Zahnbürste im Glas, daneben lag Rasierzeug. Keine weiteren persönlichen Gegenstände. Taccone schien tatsächlich nur zum Schlafen herzukommen.
Cirillo ging ins Schlafzimmer und öffnete den Schrank. Zwei T-Shirts, eine aufgerollte Krawatte. Wo hatte der Mann denn seine Klamotten? Sie schaute sich suchend um, als sie auf der Treppe Schritte hörte. Rasch schloss sie die Schranktür.
Sie wollte schon durchatmen, als ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Mit einem Satz sprang sie hinter die Schlafzimmertür, stolperte dabei über einen Koffer, als bereits die Wohnungstür aufging.
Mit angehaltenem Atem beobachtete sie durch den Spalt zwischen Türblatt und Zarge, wie Taccone im Flur stehen blieb und in die Wohnung horchte.
Während Cirillo noch überlegte, ob es nicht ratsamer wäre hervorzutreten, statt hier gleich hinter der Tür entdeckt zu werden, knallte er die Wohnungstür zu, zog sich das T-Shirt über den Kopf und warf das Kleidungsstück an Cirillo vorbei aufs Bett, ohne das Schlafzimmer zu betreten. Dann ging er ins Bad, ließ die Tür offen und klappte die Klobrille hoch.
Während er urinierte, überlegte Cirillo fieberhaft, was sie tun könnte. Sie hatte keinen Durchsuchungsbeschluss und keinen vernünftigen Grund, warum sie sich in seinem Schlafzimmer hinter der Tür versteckte. Warum brachte sie sich nur immer wieder in diese Situationen, die sie am Ende Kopf und Kragen kosteten?
Die Wasserspülung ging. Taccone trat zurück in den Flur und schien wieder in die Wohnung zu horchen. Cirillo stand keinen halben Meter von ihm entfernt, auf der anderen Seite der Tür, hielt den Atem an und fürchtete, er würde ihren Herzschlag hören.
Dann hörte sie, wie er ins Wohnzimmer ging, wie er zischend eine Flasche öffnete, als ihr Blick auf den Koffer fiel, der aufgeklappt vor ihren Füßen stand. Frische Unterwäsche lag darin, gefaltete Hemden, Jeans, Shorts, seine gesamte Garderobe. War er gerade erst angekommen, wollte er verreisen, oder lebte er aus dem Koffer?
Ein Quietschen war zu hören, ein quälend hoher Ton. Sie spürte einen Luftzug. Vorsichtig kam sie hinter ihrer Tür hervor, als sie Stimmen hörte, zuerst leise, dann lauter. Er hatte das Radio angestellt. Sie spähte um die Ecke, konnte den Wohnraum aber nicht überblicken. Taccone war zwar nicht zu sehen, aber es war ein Risiko.
Entschlossen ging sie durch den Flur und machte die Wohnungstür auf. Der Luftzug brachte irgendwo Papier zum Rascheln. Cirillo hörte noch, wie das Radio abrupt leiser gestellt wurde, und zog rasch und lautlos die Wohnungstür hinter sich ins Schloss.
Hastig lief sie die Treppe hinunter, verließ das Haus und drehte sich nicht mehr um.