Je weiter Sof‌ia mit ihren Aufzeichnungen kam und Seite um Seite füllte, desto größer wurde ihre Nervosität. Unaufhaltsam näherte sie sich der Nacht, in der ihr Leben explodiert und ihr um die Ohren geflogen war. Warum hatte sie die Zeichen nicht gesehen? Warum hatte sie nicht erkannt, dass ihre Beziehung zu Jack ein Pulverfass geworden war? Vor allem im Schlaf verfolgten sie die Bilder: Jack im Boot, sein wutverzerrtes Gesicht. Ihr Streit, das Messer.

Sie musste weiterschreiben, Zeile für Zeile, Wort für Wort, musste Klarheit gewinnen und die Sache zum Abschluss bringen. Sie blätterte durch die Seiten und alles, was sie bisher geschrieben hatte, strich das Papier glatt und griff zum Stift.

Elf‌ter August. Der Tag vor ihrem Geburtstag. Jack war seit dem Vormittag unterwegs gewesen, und sie hatte keine Ahnung gehabt, wo er sich herumtrieb, ob er am Strand war, für den Abend ein Essen plante oder was sonst anstand. Er hatte ihr verboten, ihn anzurufen oder ihm hinterherzuspionieren (was sie ohnehin niemals getan hätte). Sie sollte nichts anderes tun, als ausruhen und sich am Abend bereithalten.

Es war heiß gewesen. Sie war mit geschlossenen Augen auf dem Bett gelegen. Die Hunde hatten aufgehört zu

Jack konnte es zuerst gar nicht glauben, als sie ihm von dem Erlebnis berichtete und dabei in Tränen ausbrach. »Er wollte dir wirklich an die Wäsche?«, fragte er immer wieder, als ob die Vorstel‌lung völlig absurd gewesen wäre. »Bist du dir sicher?«

Natürlich hatte sie keine Zeugen, und die Erkenntnis, nichts gegen Vincenzo in der Hand zu haben, ihm nichts beweisen zu können und selbst vor Jack als jemand dazustehen, der im Verdacht stand, sich möglicherweise in etwas hineinzusteigern oder die Situation am Ende vielleicht noch selbst provoziert zu haben, verursachte ihr Übelkeit.

Am Tag vor ihrem Geburtstag war das Erlebnis vier Tage her, und sie wollte nicht mehr daran denken. Sie ging duschen, bereitete in der Küche eine Kanne Eistee, stellte vorsorglich zwei Gläser aufs Tablett, aber Jack war immer noch nicht zurück. Sie streif‌te ihr Kleid über, nahm eine Tasche und ging zum Supermarkt, um für den Abend wenigstens eine Flasche Spumante zu besorgen.

Vor dem Eingang saß die alte Frau, die hier wie fast jeden Tag vor sich hindämmerte. Aber es war seltsam: Als Sof‌ia ihr wie immer das Wechselgeld gab, hob die Alte plötzlich

»Pass auf dich auf, Mädchen«, sagte die Alte.

Verwirrt ging Sof‌ia weiter. Noch nie hatte sie die Frau reden hören oder gesehen, dass sie mit jemandem im Gespräch war.

Jack tauchte am frühen Abend auf, verschwitzt und tatendurstig, und fragte: »Hast du um Mitternacht schon etwas vor?«

Sie musste lachen. Nein, sie hatte nichts vor. Natürlich nicht.

Er führte sie ins Restaurant Castiglione. Von der Terrasse sah man die Faraglioni-Felsen und kleine Boote, die dazwischen kreuzten. Jack diktierte dem Kellner das Menü und rutschte, als das erledigt war, nervös auf seinem Stuhl herum, als ob er eine Ankündigung zu machen hätte, aber als sie ihn fragte, schüttelte er den Kopf und schwieg. Er schien noch nach den richtigen Worten zu suchen oder auf den passenden Augenblick zu warten.

Plötzlich tastete er nach ihrer Hand und erklärte, während er sie festhielt: Dass sie heute Abend hier zusammensaßen, habe einen Grund. Es habe nicht nur mit ihrem Geburtstag zu tun, sondern mit einer Reihe von Entscheidungen, die sie in der Vergangenheit gemeinsam getroffen hätten: Dass sie sich damals in Genua auf der Straße, wo er Gitarre spielte und sang, zu ihm gestellt habe, dass sie zusammen nach Capri gegangen seien, das Praktikum auf Ischia und so weiter und so fort. Und während er redete und ihre Hand umklammerte, als wolle er sie nie wieder

Jack verstummte, schaute ihr tief in die Augen, als sie abgelenkt wurde. Ein Mann in Shorts und weißem Hemd betrat die Terrasse. Es war Vincenzo Taccone.

Er war in Begleitung einer jungen Frau, schaute sich suchend nach einem freien Tisch um, als sich für den Bruchteil einer Sekunde ihre Blicke kreuzten, und sein Mundwinkel zuckte. Sie sah es genau. Aber er tat, als wäre nichts, machte allerdings einen albernen Umweg, um nicht an ihrem Tisch vorbeizukommen, und ließ sich schließlich am anderen Ende der Terrasse nieder. Das Mädel, das bewundernd zu ihm aufschaute, schätzte Sof‌ia auf höchstens achtzehn.

»Wahrscheinlich seine neue Praktikantin«, mutmaßte Jack. »Schau mal«, lästerte er, »wie er mit ihr redet. Der Wissenschaftler erklärt ihr die Welt. Glaubst du, er hat sie schon gebumst?«

Sie beschlossen, auf das Dessert zu verzichten und unauf‌fällig zu verschwinden. Sie hatten keine Lust auf eine Begegnung.

Jack winkte dem Kellner, der dabei war, eine Frau abzuwimmeln. Anscheinend ging es um ihren Hund, der nicht mit auf die Terrasse durf‌te.

»Geht’s noch?«, empörte sich die Frau. »Er ist doch total brav!«

»Nicht hingucken«, mahnte Jack, als die Frau schon quer über die Terrasse rief: »Hey, Jack! Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?«

»Ich dachte schon, du wärst gar nicht mehr auf der Insel.« Die Frau begrüßte Jack wie einen alten Bekannten.

»Hi«, sagte sie mit einem kurzen Blick zu Sof‌ia und wandte sich wieder an Jack: »Was ist denn los? Hättest dich ruhig mal bei mir melden können.«

Jack erwiderte schroff, es sei alles in bester Ordnung und im Übrigen befinde er sich gerade im Gespräch.

»Okay«, sagte die Frau, »komm, Lando«, drehte sich um und ging davon, ohne Sof‌ia oder den Kellner eines weiteren Blickes zu würdigen.

»Wer war das?«, fragte Sof‌ia.

»Ich glaube, sie heißt Caterina.« Er stand auf und legte einen Arm um Sof‌ia. »Die ist ein bisschen durchgeknallt. Quatscht überall die Leute an.« Er gab ihr einen Kuss. »Nicht der Rede wert.«

Sie gingen über den Parkplatz. Die Frau und ihr Hund waren verschwunden, als plötzlich jemand hinter ihnen rief: »Bleibt doch mal stehen!« Es war Vincenzo.

Jacks Griff um Sof‌ias Taille wurde fester.

»Wollte nur mal fragen« – Vincenzo war etwas atemlos –, »sehen wir uns nachher auf einen Drink? Vielleicht am Strand?«

»Auf einen Drink?«, wiederholte Jack. »Am Strand?« Er ging auf Vincenzo zu. »Glaubst du im Ernst, dass wir noch irgendeinen Wert auf deine Gesellschaft legen?«

»Komm«, bat Sof‌ia. »Lass uns gehen.«

Vincenzo hob die Hände. »Vergesst es einfach. Ich will mich nicht aufdrängen.«

»Hast du irgendein Problem?«, fragte Vincenzo.

»Du weißt genau, wovon ich rede.«

»Keine Ahnung.« Vincenzo grinste. »Ich weiß nicht, was Sof‌ia dir erzählt hat, aber nur fürs Protokoll: Es ist nicht meine Schuld, wenn sie sich mir aufdrängt.«

Jack packte Vincenzo am Hemd. »Ich habe gesehen, was im Keller passiert ist, und kann alles bezeugen. Und ich schwöre dir: Damit kriegen wir dich dran. Deine Karriere kannst du vergessen.« Jack ließ Vincenzo los und gab ihm einen Schubs.

»Hör auf«, sagte Sof‌ia. »Er ist es nicht wert.« Sie zog ihn am Arm davon.

»Scheißtyp«, sagte Jack und spuckte aus.

Als sie mit dem Roller über die Serpentinen fuhren und Sof‌ia ihre Arme fest um seinen Körper schlang, spürte sie, wie Jack immer noch vor Wut bebte. Es ging auf 22 Uhr zu, als sie die letzte Kurve nahmen und den Roller auf dem Parkplatz von Punta Carena abstellten.

Jack holte einen Picknickkorb aus der Transportbox. In der Strandbar tanzten die Leute, lachten und unterhielten sich lautstark. Unten, am Wasser, lag ein Boot bereit, das Jack ebenfalls organisiert und auf dem er unter dem Sitz eine Kühlbox versteckt hatte, in der Gläser und eine Flasche Spumante waren, und langsam schwante Sof‌ia, womit Jack den ganzen Tag beschäftigt gewesen war.

Sie legten ab und tuckerten langsam aus der Bucht. Musik wehte herüber, und über allem kreiste das Licht des Leuchtturms.

Sie küssten sich, zogen sich gegenseitig die Kleidungsstücke vom Leib, sprangen ins Wasser, lachten, kreischten übermütig und schwammen um die Wette. Als er sie eingeholt hatte, klammerten sie sich aneinander. Jack küsste ihr die Wassertropfen von der Haut, zog sie zurück ins Boot, wo sie sich liebten. Als Sof‌ia danach in seinen Armen lag und in den Sternenhimmel schaute, dachte sie, dass ihr Glück vollkommen war und diese Nacht vielleicht die schönste ihres Lebens.

Ohne auf die Uhr zu schauen, ließen sie den Spumante-Korken knallen. Sie tranken, fütterten sich mit Oliven, Salami und Kuchen, erzählten sich Geschichten, bis sie irgendwann schwiegen, überwältigt vom Sternenhimmel und der Natur, die schon immer da gewesen war und auch nach ihnen immer noch da sein würde. Sof‌ia war jetzt fünfundzwanzig Jahre alt, sie hatte ihre Berufung gefunden und ihren Mann, und alles war untrennbar miteinander verbunden. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände. Es war der perfekte Moment. Jetzt würde sie es tun. Sie würde ihm einen Heiratsan‌trag machen.

Als ob er es gespürt hätte, senkte er den Blick. »Sof‌ia«, sagte er. »Ich muss dir etwas mitteilen.«

»Es ist nämlich so«, begann er und rückte ein wenig von ihr ab. »Ich habe Kontakt zu meinem Vater aufgenommen.«

»Aber das ist doch wunderbar.« Sie berührte seinen Arm.

»Er ist krank«, fügte Jack hinzu. »Er wird nicht mehr lange leben.«

»Das tut mir leid«, flüsterte sie. »Warum hast du mir das nicht erzählt?«

»Ich war ziemlich verwirrt und durcheinander«, erklärte Jack. »Er hat mir eine Mail geschickt. Vor einigen Wochen.« Er berichtete, wie er tagelang mit sich gehadert hatte, ob er seinen Vater nach all den Jahren anrufen sollte. Aber dann hatte er es getan. Zum ersten Mal seit Jahren – oder überhaupt zum ersten Mal – hatten sie miteinander gesprochen, nur sie beide, und er hatte festgestellt, dass der alte Stinkstiefel, dieser Tyrann und Besserwisser, jetzt – kurz vor dem Tod, ans Bett gefesselt, zum Nachdenken verdammt – ganz verändert war.

»Das freut mich.« Sof‌ia wollte Jack umarmen, aber irgendetwas hielt sie davon ab. Verunsichert schaute sie ihn an. »Heißt das, ihr habt euch versöhnt?«, fragte sie. »Ich würde deinen Vater gerne noch kennenlernen.«

Jack rührte sich nicht und sagte in die Stille hinein: »Es ging in unseren Gesprächen vor allem um die Firma. Er hat eine Stiftung gegründet.«

Das Licht des Leuchtturms eilte über die Insel und verlor sich in der Dunkelheit über dem Wasser. Jack berichtete, sein Vater, dem immer alles scheißegal gewesen war außer seiner Firma, mache sich plötzlich Sorgen um die Zukunft, redete von Enkeln, die er nie kennenlernen und nicht mehr

Er erzählte seinem Vater von Forschungseinrichtungen, in denen kluge Köpfe daran arbeiteten, den Planeten sauberer zu machen, und Jack gab zu, dass es ihm schmeichelte, dass sein Vater ausgerechnet ihn, seinen nichtsnutzigen Sohn, um Rat fragte und wissen wollte, wo Jack – wenn er könnte – Geld investieren würde. Stundenlang diskutierten sie, entwarfen Strategien, rangen um Lösungen.

»Lösungen?«, erkundigte Sof‌ia sich irritiert. »Für welches Problem?«

Jack berichtete, er habe seinen Vater überzeugt, dass es sinnvoll wäre, das Geld in die Forschung zu stecken – mit dem Ziel, eine Chemikalie zu entwickeln, die CO2 im Wasser neutralisiert. Mit Olivin zum Beispiel wurde schon experimentiert, da würde sich weitere Forschung definitiv lohnen, aber es gebe sicherlich noch andere chemische Verbindungen, die mit CO2 reagieren. Natürlich sei es bis zur Lösung noch ein weiter Weg, aber es sei machbar und der Golf von Neapel ein ideales Versuchslabor.

Während Sof‌ia fassungslos zuhörte, berauschte sich Jack an seinem Projekt, sprach von Ursachen und Wirkungen, die sich innerhalb weniger Wochen entfalten könnten, sprach von bestimmten Jahreszeiten und perfekt messbaren Strömungsverhältnissen, die es ermöglichten, Chemikalien so auszubringen, dass sie drei Wochen lang im Golf von Neapel verblieben, bevor sie ins Mittelmeer hinausgetrieben würden.

Sof‌ia war wie betäubt. »Jack«, stammelte sie, »du kannst doch nicht ernsthaft darüber nachdenken, das Meer mit Chemie vollzupumpen, ohne die Folgen zu kennen. Du könntest eine Katastrophe auslösen.«

Rückblickend konnte Sof‌ia nicht mehr sagen, wie lange das, was nun folgte, gedauert hatte. Fünf Minuten? Dreißig Minuten? Mehrere Stunden? Während es zunächst noch um die Sache ging, wurde der Ton von Minute zu Minute härter. Jack warf ihr vor, bei ihrem Engagement gegen die Umweltzerstörung voreingenommen zu sein, beeinflusst von Vincenzo, und immer alles mit diesen bescheuerten Scheuklappen zu sehen. Sie fühlte sich getroffen und missverstanden und warf Jack ihrerseits vor, dass es ihm wohl weniger um eine Lösung von schwersten Umweltproblemen als um die finanzielle Zukunft des väterlichen Konzerns ging.

»Sei ehrlich«, sagte sie, »die Entwicklung einer solchen Chemikalie ist ein riesiges Investment und wirft möglicherweise gigantische Gewinne ab, stimmt’s?«

Der Glanz in seinen Augen widerte sie an.

»Du verrätst alle unsere Ideen. Du bist wie dein Vater«, stieß sie verächtlich hervor.

»Weil du ihn mir nie vorgestellt hast, den Teufel in Menschengestalt.«

Jack verbot ihr, so über seinen Vater zu reden (dass es einmal seine eigenen Worte gewesen waren, hatte er offenbar vergessen), warf ihr Arroganz vor, dass sie weltfremd sei und sich schön bequem in ihrem Elfenbeinturm eingerichtet habe. Was wäre denn so schlimm daran, ökologische Probleme zu lösen und gleichzeitig Geld damit zu verdienen? Je wütender und ausfallender Jack wurde, desto ruhiger wurde sie.

»Gut«, sagte sie. »Dann ist es jetzt wenigstens raus und die Sache klar.«

»Was willst du damit sagen?« Jack starrte sie an.

»Es hat keinen Zweck. Wir trennen uns.«

Wütend sprang er auf und schleuderte seine Serviette ins Meer. »Dann geh doch zu Vincenzo!«, schrie er. »Du kannst es doch gar nicht abwarten. Schon damals, in der Vorlesung, und vorhin wieder, auf dem Parkplatz. Du hättest dich mal sehen sollen!«

»Mach dich nicht lächerlich.«

»Lächerlich?« Er umklammerte ihre Handgelenke. »Du warst immer scharf auf ihn und bist es immer noch. Gib es wenigstens zu. Habt ihr es am Abend auf unserer Terrasse getrieben?«

»Du meinst den Abend, als du plötzlich verschwunden bist und mich in diese Scheißsituation gebracht hast?«

»Ich wusste es. Ich schätze, die Situation auf der Terrasse war so scheiße wie die Situation im Keller«, höhnte Jack.

»Was für ein mieses Schwein du bist«, schrie Sof‌ia. Sie wusste nicht, wie es passierte, aber plötzlich hatte sie ein Messer in der Hand.

»Was willst du tun?«, fragte Jack und ging mit erhobenen Händen auf sie zu. »Zustechen?« Er präsentierte ihr seinen Brustkorb. »Na los. Trau dich! Stich zu!«