Das aliscafo aus Neapel lief pünktlich um 12.20 Uhr in Marina Grande ein und machte an Kai zwölf zwischen den Schiffen aus Ischia und Sorrent fest. Leute mit sonnenverbrannten Gesichtern hasteten über die Mole, zerrten riesige Koffer und kleine Kinder hinter sich her, während Pärchen reihenweise vor den großen Yachten für ein Abschieds-Selfie posierten.
Rizzi und Cirillo hielten sich abseits. Kein Aufsehen erregen, hatte Ispettore Lombardi ihnen mit auf den Weg gegeben und daran erinnert, dass jemand unter Mordverdacht, möglicherweise bewaffnet und mit zwei Polizisten konfrontiert, in Panik geraten könnte. Was aber niemand auf dem Schirm hatte: dass alle Ankömmlinge Sonnenbrille trugen – eine größer als die andere.
Rizzi zückte sein Telefon und wählte die Nummer von Alessandro Pago. Der Steward war sofort dran.
»Ihre Personenbeschreibung – buntes Kleid, Sneakers, Strohhut – damit kommen wir nicht weiter«, sagte Rizzi. »Hat die Frau nicht irgendetwas Besonderes, woran wir sie erkennen können, etwas Auffälliges?«
»Haben Sie sie verloren?«
»Wir haben sie noch gar nicht gefunden.«
»Sie haben doch gesagt, ich soll sie nicht ansprechen.«
»Völlig richtig.«
»Damit sie keinen Verdacht schöpft.«
»Beruhigen Sie sich, und überlegen Sie.«
»Etwas Auffälliges«, wiederholte Pago. Es war zu hören, wie er hektisch mit einem Schlüsselbund hantierte.
»Ein Tuch?«, versuchte Rizzi ihm auf die Sprünge zu helfen. Nicht zu fassen, wie schwerfällig der Mann war.
»Ein Tuch«, echote Pago. »Ja, Sie haben recht, sie hatte ein Tuch, aber das hatte sie abgelegt.«
»Was noch? Eine Tasche?«
»Natürlich hatte sie eine Tasche.«
»Was für eine?« Rizzi ließ seinen Blick über die Leute wandern, die auf dem Weg zur Standseilbahn waren und sich vor dem Drehkreuz stauten.
»Eine Reisetasche«, erklärte Pago aufgeregt. »So eine altmodische. Also nichts mit Rollen.«
»Hat das Tuch eventuell schwarze Punkte?«, fragte Rizzi.
»Schwarze Punkte?« Für Sekunden herrschte am anderen Ende Stille. »Ja, richtig. Das Tuch hat schwarze Punkte!«
»Danke!«
Rizzi rannte los, Cirillo hinterher, an den Taxifahrern vorbei, zwischen den Tischen und Stühlen hindurch, zum Eingang der funicolare.
Die Frau war schon hinter dem Drehkreuz verschwunden, ging den Bahnsteig entlang und stieg in den vorderen Wagen. Das Abfahrtssignal ertönte.
Rizzi schubste, erwischte die Tür vom letzten Wagen, drückte sie auf und zwängte sich mit Cirillo hinein. Sofort schlug die Tür hinter ihnen zu, und die Bahn setzte sich ruckelnd in Bewegung.
Wie die Ölsardinen standen sie beieinander. Cirillo pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht.
»Alles in Ordnung?«, fragte er, während er versuchte, durch die große Scheibe einen Blick in den vorderen Wagen zu werfen. Die verdächtige Person war fast vollständig von einem Typ mit Rastalocken und Rucksack verdeckt.
Die Bahn zuckelte den Hang hinauf, ließ Häuser und Gärten hinter sich. Ab einer bestimmten Höhe waren der Hafen zu sehen, die Mole, die Ausfahrt zum Meer und weiße Schiffe, die – aus allen Richtungen kommend – auf Marina Grande zusteuerten. Der Rucksacktyp lehnte sich mit der Stirn gegen die Scheibe und gab den Blick auf die Frau frei, von der ein Schiffssteward behauptete, dass es sich um Sofia Polito handelte.
Ihr Gesicht war von der Hutkrempe verschattet und von einer riesigen Sonnenbrille verdeckt. Rizzi suchte nach Ähnlichkeiten mit der Person, die er vom Foto kannte. Er hätte nicht gedacht, dass die Frau so groß war, und etwas runder hatte er sie sich auch vorgestellt.
Als hätte Cirillo seine Gedanken erraten, sagte sie halblaut neben ihm: »Wenn sie die Falsche ist – dann: gute Nacht.«
»Ein Tuch mit Punkten, hat Pago gesagt«, antwortete Rizzi, war sich aber auch unsicher – zumal Cirillo behauptete, Frauen mit solchen Tüchern habe sie an der Mole mindestens drei gesehen.
Die Bahn kam zum Stehen, die Türen gingen auf, und die Leute quollen auf den Bahnsteig. Während die meisten zum Aufzug gingen, setzte die Frau sich ab und bahnte sich zügig einen Weg zum anderen Ende, wo sich die Treppe befand.
Während sie ihr folgten, erklärte Rizzi Cirillo das weitere Vorgehen: Sobald sie oben waren, würden sie die Frau beiseite nehmen und auffordern, sich auszuweisen. Der heikle Moment war, wenn sie ihre Tasche öffnete, um ihre Papiere herauszuholen. Wie gesagt, sie mussten damit rechnen, dass sie bewaffnet war.
Auf der Treppe hatte sie einen Vorsprung von ungefähr zwanzig Stufen und verschwand, oben angekommen, für ein paar Sekunden aus ihrem Blickfeld.
Auf der Aussichtsplattform machten Leute Fotos, Pärchen posierten, und Kinder spielten Fangen. Suchend schaute Rizzi sich um.
Die Frau stand im Café an der Theke, hatte ihre Tasche neben sich auf den Barhocker gestellt und fächelte sich mit der Getränkekarte Luft zu.
»Am besten, du bleibst hinter mir«, befahl Rizzi, »und lässt mich machen.«
Die Frau trank ihren Espresso, legte zwei Münzen auf den Tresen und nahm ihre Tasche. Rizzi trat ihr in den Weg.
Hinter ihren dunklen Gläsern waren keine Augen zu erkennen. Ihre Lippen waren nur ein Strich, während sie den Riemen ihrer Tasche auf der Schulter zurechtrückte.
»Entschuldigung.« Rizzi schob sich die Mütze aus der Stirn. In diesem Moment traf ein Sonnenstrahl ihren Oberarm und brachte ein kleines Tattoo zum Leuchten.
»Ich wollte nur sagen« – Rizzi bückte sich und überreichte ihr das gepunktete Tuch, das auf den Boden gefallen war –, »das haben Sie verloren.«
»Danke, sehr aufmerksam.« Sie drapierte den Stoff um ihre Schultern, bedeckte das Tattoo und ging.
Cirillo schaute ihr hinterher, drehte sich zu Rizzi herum und fragte: »Warum überprüfen wir nicht ihre Personalien?«
»Nicht nötig«, erklärte Rizzi. »Sie ist es. Sie hat zwei Buchstaben auf ihrem Oberarm. J und S. Jack und Sofia.«
Cirillo starrte ihn verständnislos an. »Und warum nehmen wir sie dann nicht fest?«
»Weil ich wissen will, was sie vorhat«, sagte Rizzi.
Sie folgten Sofia Polito im gemessenen Abstand. »Wir schauen, was sie tut und wo sie uns hinführt.«
»Das ist gegen die Anweisung«, widersprach Cirillo. »Die Person da vorne ist nicht nur eine wichtige Zeugin, sondern steht auch unter Tatverdacht.«
Sie beobachteten, wie Sofia Polito die Stufen zum Delikatessenladen hinaufstieg.
»Kapier doch«, beharrte Rizzi. »Mit allem, was sie jetzt tut, verrät sie uns mehr, als sie jemals in einer Verhörsituation erzählen würde.«
»Dass sie gerne Oliven isst«, spottete Cirillo, »möglicherweise nicht nur die grünen, sondern auch die dunklen?«
Sofia Polito kam mit einer Tüte heraus, bog in die Via Longano und verschwand im Spirituosengeschäft. Sie beobachteten, wie sie in aller Ruhe die Etiketten auf den Spumante- und Champagnerflaschen studierte. Rizzi verstand es nicht und fragte sich, warum sie ausgerechnet jetzt auf die Insel kam, wo überall ihr Foto zu sehen war.
Möglicherweise waren sie für einen Moment unaufmerksam oder durch den Trubel um sie herum abgelenkt. Als Rizzi wieder in den Laden schaute, um sich zu vergewissern, wo die Frau so lange blieb, war sie verschwunden.
Er fluchte, und auch Cirillo hatte nichts gesehen. Sofia Polito konnte eigentlich nur in die Via Sopramonte abgebogen sein, eine lange, aber übersichtliche Gasse, und in einem der Geschäfte verschwunden sein.
Cirillo übernahm die linke Seite, Rizzi die rechte. Er spähte in den Supermarkt, aber zwischen den Regalen war niemand, nur ein paar Hausfrauen, und die Kassiererin schüttelte bedauernd den Kopf. Polito war weg. Er musste sofort Ispettore Lombardi informieren. Das war natürlich sehr unangenehm. Womöglich musste der jetzt eine Großfahndung auslösen. Rizzi mochte gar nicht daran denken. Jedes aliscafo, das Marina Grande verlassen würde, müsste gefilzt werden, ebenso die Boote in Marina Piccola. Aber von wem? Von ihren paar Leuten?
Rizzi überlegte. Eine letzte Möglichkeit gab es noch.
»Wer ist eigentlich die alte Frau vor dem Supermarkt?«, fragte Cirillo, als sie ihm im Laufschritt die Via Matermania hinunter folgte. Er konnte nicht fassen, dass sie so ruhig blieb.
»Giuseppina?« Er legte noch einen Schritt zu. »Sie war mal das schönste Mädchen von Capri.«
Er war schweißgebadet, als sie in die Via Tamborio einbogen. Wenn sie hier auch kein Glück hatten, hatte er ein ernstes Problem.
Er stieß die Pforte auf, drückte den Klingelknopf und wartete. Nichts geschah. Cirillo sagte jetzt gar nichts mehr.
Sie gingen ums Haus herum und betraten die Terrasse. Die Schiebetür war geschlossen, das Siegel entfernt, die Gardine zugezogen. In den Blumenkübeln lagen Zigarettenstummel, aber die halfen ihnen auch nicht weiter.
Rizzi lehnte sich erschöpft an die Tür. »Okay«, sagte er. »Ich hab’s versaut.«
Er scrollte nach Lombardis Nummer, um Bericht zu erstatten und seine Niederlage einzugestehen, als er bemerkte, dass die Schiebetür hinter ihm nachgab. Oder bildete er sich das nur ein?
Er betätigte den Riegel. Die Tür bewegte sich – und ging auf. Er steckte sein Telefon ein. Fast gleichzeitig zogen Cirillo und er ihre Pistolen.
Er signalisierte ihr, dass sie hinter ihm bleiben und aus der Schusslinie gehen sollte. Dann schob er mit einem Ruck die Gardine zurück.
Der Esstisch war immer noch übersät mit Büchern und Zeitschriften. Der gläserne Schreibtisch stand jetzt schräg, und auf dem Sofa türmten sich Klamotten, als hätte jemand die Schränke ausgeräumt. Aber niemand war zu sehen.
Mit erhobener Waffe rückte Rizzi zum Kamin vor. Lauschte. Alles war still. Weiter in die Küche. Von dort in den Flur. Nacheinander kontrollierte er die Schlafzimmer, zuletzt das Badezimmer. Aber auch hier war niemand, und es sah auch nicht so aus, als ob irgendetwas in der letzten Zeit in Benutzung gewesen wäre. Er lauschte noch einmal – und steckte die Pistole wieder ein.
Cirillo stand im Wohnzimmer und betrachtete das kleine Familienfoto, das eingerahmt auf dem Schrank stand. Jack Milani – der Junge mit dem breiten Grinsen, die Mutter mit getönten Brillengläsern, der Vater, starr auf die Kamera fixiert, den Arm besitzergreifend um seine Familie gelegt.
Cirillo stellte das Bild zurück, wollte eine Bemerkung machen, aber Rizzi hob die Hand.
War da nicht ein Geräusch? Als würde vor der Haustür eine Flasche abgestellt. Rizzi und Cirillo rührten sich nicht.
Ein paar Sekunden lang war alles wieder still, dann stocherte jemand mit einem Schlüssel im Haustürschloss herum.
Rizzi machte Cirillo ein Zeichen. Rasch verzogen sie sich hinter den Kamin, aber die Haustür blieb zu, kein Geräusch war zu hören.
»Hallo?«, rief eine weibliche Stimme. An der Terrassentür tauchte im Gegenlicht ein Schatten auf, ein dunkler Umriss neben der Gardine. »Jack?« Eine Tasche wurde abgestellt, Papier raschelte. »Du liebe Güte«, flüsterte die Stimme.
Rizzi zog die Waffe und trat vor. »Polizei«, rief er. »Keine Bewegung.«
Erschrocken drehte Sofia Polito sich um.
»Heben Sie langsam die Hände.«
Sie gehorchte und kam im Zeitlupentempo der Aufforderung nach.
Cirillo ging zu ihr, klopfte sie ab – und nickte.
»Was geht hier vor?«, stammelte die Frau.
Rizzi steckte seine Waffe ein. »Sie sind Sofia Polito?«
»Ja. Bin ich. Was wollen Sie?«
»Ich muss Sie bitten mitzukommen.«
Polito fuhr herum. »Wo ist Jack?«
»Wo ist Jack, fragen Sie so ganz locker. Sie müssen uns hier kein Theater vorspielen«, erklärte Cirillo. »Die Mordkommission in Neapel hat ein paar Fragen an Sie.«
Sofia Polito starrte sie an und sah für einen Moment aus, als wollte sie gleich loslachen.
»Wissen Sie denn nicht, was passiert ist?« Rizzi forschte in ihrem Gesicht.
»Nein, sagen Sie es mir!«
»Jack ist tot.«
»Wie bitte?«
»Er wurde umgebracht.«
Zuerst dachte er, die Nachricht sei gar nicht bei ihr angekommen. Sie reagierte nicht. Dann, zeitverzögert, weiteten sich Mund, Augen und Nasenlöcher, eine groteske Verzerrung, die lautlos vorwegnahm, was dann kam: Sofia Polito schrie.