Teresa Villa informierte Neapel, dass die Festnahme um 14.30 Uhr erfolgt war, dass es sich bei der verdächtigen Person um Sof‌ia Polito handelte und sie sich nun am Polizeiposten vorübergehend in Gewahrsam befand.

Die Kollegen teilten zwanzig Minuten später mit, zwei Beamte würden sich auf den Weg machen, um Sof‌ia Polito abzuholen und nach Neapel zu bringen.

Der Fall war also Chefsache, und Ispettore Lombardi schien mit dem Verlauf der Aktion höchst zufrieden. Er ordnete an, Sof‌ia Polito in der Arrestzelle mit allem Nötigen zu versorgen und bis zum Eintreffen der Kollegen nicht aus den Augen zu lassen. Während Cirillo sich auf den Weg machte, um Wasser und einen zweiten Ventilator zu besorgen, bezog Rizzi Posten in der Arrestzelle.

Was er von der Frau halten sollte, die wie ein Denkmal auf dem Stuhl unter dem vergitterten Fenster saß, wusste er nicht. Erst war sie im Haus in der Via Tamborio mit einem Weinkrampf zusammengebrochen, aber kaum hatte er einen Arzt rufen wollen, hatte sie sich beruhigt und war widerstandslos mit auf die Wache gekommen. Nun kam sie ihm fast apathisch vor und anscheinend entschlossen, alles über sich ergehen zu lassen. Aber vielleicht war sie auch

»Ich habe übrigens Ihre Eltern benachrichtigt«, sagte Rizzi, und seine Stimme hallte im Raum. »Ihre Familie weiß also Bescheid, dass Sie wohlauf sind.«

»Danke, sehr aufmerksam.« Ihre Stimme klang erstaunlich selbstbewusst. »Dann würde ich sie jetzt gerne selbst anrufen.« Ohne ihn anzusehen, streckte sie ihren Arm aus. »Geben Sie mir bitte Ihr Telefon?«

»Tut mir leid, hier wird nicht telefoniert«, sagte er. »Das hätten Sie sich früher überlegen müssen.«

»Warum sollte ich hier nicht telefonieren dürfen?«, erwiderte sie feindselig. »Bin ich Ihre Gefangene? Bin ich verurteilt?«

»Sie sind vorübergehend festgenommen.«

»Und trotzdem habe ich ein Recht zu telefonieren.« Sie stand auf.

»Über Ihre Rechte wird der Commissario Sie noch aufklären. Setzen Sie sich.«

»Das ist Freiheitsberaubung.«

Rizzi trat näher. »Wissen Sie eigentlich, was hier los war? Ihr Lebensgefährte wurde mit fünf Messerstichen in der Brust tot aufgefunden, und Sie verschwinden von der Bildfläche, sind tagelang wie vom Erdboden verschluckt. Niemand wusste, wo Sie abgeblieben sind und ob Sie überhaupt noch leben.«

»Ich habe keine Ahnung, was passiert ist.«

»Das können Sie dem Commissario alles in Ruhe auseinandersetzen.«

»Hinsetzen, habe ich gesagt! Sonst muss ich Ihnen Handschellen anlegen.«

Sie gehorchte. Obwohl ihr Atem heftig ging und ihre Brust sich hob und senkte, zwang sie sich, nun ruhig zu sprechen. »Als ich Jack zuletzt gesehen habe«, stieß sie gepresst hervor, »war er jedenfalls noch höchst lebendig.«

»Und wann war das?«

»In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, die Nacht zu meinem Geburtstag.«

»Die Nacht, in der er getötet wurde«, stellte Rizzi fest.

»Wir sind mit dem Boot rausgefahren, wollten feiern, ganz allein, nur wir beide. Ehrlich gesagt, dachte ich …« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Cirillo kam herein und stellte Ventilator und Wasser ab.

»Was dachten Sie?«, fragte Rizzi.

»Ich dachte«, schluchzte Polito, »er macht mir einen An‌trag.«

Rizzi griff zur Wasserflasche. »Jetzt mal der Reihe nach«, sagte er und schenkte ein. »Was ist in jener Nacht passiert?«

»Wir haben gestritten.«

»Worüber?«

»Ihnen das zu erklären würde jetzt zu weit führen.«

»Sie haben offenbar noch nicht verstanden, in welcher Lage Sie sich befinden. Beim Commissario werden Sie sich zu dem Punkt etwas einfallen lassen müssen.«

»Es war etwas Grundsätzliches. Ich habe plötzlich

»Darunter geht’s wohl nicht«, sagte Rizzi.

»Darunter bringt es nichts«, korrigierte sie, »verstehen Sie? Uns läuft die Zeit davon. Je mehr Menschen das endlich kapieren, desto besser.«

Sie trank einen Schluck Wasser. »Jack war superengagiert und bewundernswert konsequent – dachte ich. Und plötzlich kommt heraus, dass er ein doppeltes Spiel gespielt hat. Er hat heimlich die Fronten gewechselt, neue Pläne gemacht. Er wollte auf einmal mit Chemie arbeiten, und dabei Geld verdienen. Das ist ziemlich genau das Gegenteil von dem, wofür wir mal kämpfen wollten. Jack begann unsere Ideale zu verraten. Da habe ich die Konsequenzen gezogen und Schluss gemacht.«

Rizzi lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ist das jetzt nur so ein Geschwurbel von Ihnen, weil Sie nicht sagen wollen, dass es eigentlich um etwas ganz anderes, viel Banaleres ging? Zum Beispiel darum, dass Jack eine Affäre mit einer anderen Frau hatte?«

»Eine Affäre?« Polito schaute hoch zur Decke. »Glauben Sie mir, damit hätte ich leben können.«

»Und was ist dann passiert?«, fragte Cirillo.

»Nach dem Streit? Bin ich an Land geschwommen.«

»Und Jack blieb allein im Boot zurück?«

»Bleiben wir erst einmal bei Ihnen.« Rizzi fächelte sich mit der Mütze Luft zu. »Sie springen ins Wasser, schwimmen an Land – nach Punta Carena, nehme ich an?«

Sie nickte und schneuzte sich.

»Und dann? Wo sind Sie hingegangen?«

»Nach Hause. In die Via Tamborio.«

»Zu Fuß? Wie lange ist man da unterwegs? Zwei Stunden?«

»Keine Ahnung. Ich hatte keine Uhr dabei.«

»Hat Sie jemand gesehen?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe auch nicht darauf geachtet. Ich war völlig durcheinander.«

»Und als Sie in der Via Tamborio ankamen?«

»Habe ich ein paar Sachen zusammengepackt, nur das Nötigste, damit es schnell geht, und bin zum Hafen. Ich wollte Jack nie wiedersehen.« Sie schaute hoch, ihre Augen waren ganz rot. »War er zu dem Zeitpunkt denn schon tot? Wo haben Sie ihn überhaupt gefunden? Hat ihm jemand am Strand aufgelauert?«

»Er war im Boot«, sagte Cirillo. »Mit Shorts und Hemd bekleidet. Er hatte nichts bei sich.«

»Und all unsere Sachen?«, fragte Polito. »Wir hatten ein Picknick dabei. Mein Strandkleid, mein Telefon – das war alles im Boot.«

»Sie waren jetzt also am Hafen«, fuhr Rizzi fort. »Wo sind Sie hingefahren? Nach Neapel?«

»Und von dort nach Ventotene. Es war ein spontaner Entschluss. Das Schiff fuhr gerade ab. Die kleine Insel, so schön abgelegen, es passte.«

»Was haben Sie auf Ventotene gemacht?«

»Ich wollte nachdenken, über mein Leben und was ich eigentlich will.«

»Und was hier los war – davon haben Sie nichts mitbekommen?«

»Wie gesagt, mein Telefon war im Boot geblieben, und das war mir ganz recht. Ich wollte Ruhe haben, alles auf null stellen und überdenken.«

»Zeitung, Internet?«, fragte Rizzi etwas ungeduldig. »Nichts gelesen, nichts gehört?«

Sie schüttelte den Kopf, und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.

»Aber wollten Sie denn niemandem Bescheid sagen?«, fragte Cirillo ungläubig. »Sie hatten Geburtstag. Sie wussten, dass Ihre Familie Sie anrufen und sich vermutlich Sorgen machen würde, wenn Sie nicht zu erreichen sind.«

»Ich dachte, Jack würde meinen Eltern und Luigi schon irgendeine Geschichte auf‌tischen, die sie beruhigt.«

»Wo sind Sie untergekommen?«, fragte Rizzi.

»Ein Typ am Hafen hat mir den Tipp für ein Ferienapartment gegeben. Lello heißt der Mann.«

»Und Ihr Vermieter?«

»Silvana.«

»Weiß ich nicht.«

»Telefonnummer?«

»Ich habe keine Telefonnummer.« Wütend strich Polito sich mit dem Handrücken über die Wange. »Ich bin einfach hingegangen.«

»Und da haben Sie dann also nachgedacht«, wiederholte Rizzi. »Eine Woche lang. Von morgens bis abends.«

»So ist es. Und ich habe viel geschrieben. Ich brauchte das.«

»Sie sagten, Sie hatten bei Ihrer nächtlichen Bootsfahrt ein Picknick dabei.« Rizzi setzte seine Mütze wieder auf. »Auch ein Messer?«

Polito schaute hoch. »Ja«, sagte sie, »auch ein Messer.« Sie wurde rot.

Rizzi trat näher. »Kann es sein, dass Sie den entscheidenden Teil Ihrer Geschichte unterschlagen haben? Sie haben sich gestritten. Er hat Ihnen mit seinem Geständnis den Boden unter den Füßen weggezogen. Er hat Sie ›verraten‹ – Ihre Worte. Und plötzlich hatten Sie dieses Messer in der Hand. Und haben zugestochen.«

»Ich habe ihn nicht umgebracht.« Sie zitterte. »Ich könnte so etwas niemals tun. Es war jemand anderes.«

»Warum haben Sie Ihr Praktikum am Istituto di biologia marina so schnell beendet?«, fragte Rizzi.

Sie starrte ihn an, als hätte sie ein Gespenst gesehen. »Vincenzo Taccone«, sagte sie. »Er war es. Er hat Jack umgebracht.«

»Wie bitte?«

»Alles andere ergibt keinen Sinn.«

»Ich bin mir ganz sicher. Jack hat ihm gedroht. Er wollte ihn fertigmachen.«

»Jack hat gedroht?«, wiederholte Rizzi. »Womit? Und wieso wollte er Taccone fertigmachen?«

»Vincenzo hat mich bedrängt.« Sof‌ia Polito sprach leise und hastig. »Und nach diesem Erlebnis im Keller konnte ich das Institut nicht mehr betreten. Ich wollte diesen Mann nie wiedersehen. Jack und ich – wir haben das Praktikum dann abgebrochen.«

»Das sind schwere Anschuldigungen, die Sie da erheben«, sagte Rizzi.

»Vincenzo war auf dem Parkplatz«, flüsterte Sof‌ia.

»In Punta Carena?«, fragte Rizzi.

Polito schüttelte den Kopf. »Vor dem Restaurant Castiglione. Wir waren essen, und er ist uns hinterhergelaufen. Hat getan, als wäre nie etwas zwischen uns vorgefallen.«

»Sprechen Sie lauter«, bat Rizzi.

»Jack hat gedroht, Vincenzos Karriere zu zerstören.«

Ein Schatten fiel in die Zelle. Rizzi fuhr herum.

Lombardi stand mit zwei Männern in der Tür, den Beamten aus dem Büro von Commissario Serra, beide in Zivil.

Sie begrüßten einander. Während der eine, der Größere, ein Paar Handschellen hervorholte, sagte der andere zu Rizzi: »Sie führen in Abwesenheit des Commissario ein Verhör? Sie überschreiten Ihre Kompetenzen, Agente«, zischte er verärgert.

»Signorina Polito hat gerade eine wichtige Aussage gemacht«, erklärte Rizzi.

»Halt mal die Luft an, Kollege«, rief Rizzi.

»Ihnen ist anscheinend überhaupt nicht klar, was Sie da anrichten. Die Frau ist doch nicht doof. Jetzt ist sie womöglich bestens auf alles vorbereitet, womit wir sie konfrontieren wollten. Der Commissario kann sie jetzt doch gar nicht mehr richtig in die Zange nehmen!«

»Wie gehen wir jetzt weiter vor?«, fragte Rizzi unbeeindruckt. »Kümmert ihr euch um Taccone, oder sollen wir das übernehmen? Wenn es stimmt, was Sof‌ia Polito gerade erzählt, hat er ein erstklassiges Motiv. Ich würde das gerne überprüfen.«

»Haben Sie mir überhaupt zugehört?«, unterbrach der Kollege.

»Taccone hat sie sexuell schwer bedrängt« – Rizzi wurde nun auch laut –, »und Jack Milani hat gedroht, ihn anzuzeigen.«

»Tun Sie in Zukunft einfach Ihren Job, und halten Sie sich an unsere Anweisungen.«

»Wir haben uns unterhalten«, sagte Rizzi und bat den Beamten aus Neapel, die Handschellen wieder einzustecken.

»Ich bin unschuldig.« Die Stimme von Sof‌ia Polito klang

»Sie werden jetzt nach Neapel gebracht und dem Commissario vorgeführt«, erklärte Lombardi. »Wie wir es Ihnen gesagt haben: Es gibt Verdachtsmomente. Wenn die ausgeräumt sind, können Sie nach Hause gehen.«

»So ist es«, bestätigte der Kollege aus Neapel und wollte Sof‌ia Polito mit dem üblichen Polizeigriff am Arm packen, aber Rizzi kam ihm zuvor und führte sie zur Tür.

»Sof‌ia!«, brüllte plötzlich jemand mit lauter Stimme über die Straße. Rizzi und die Kollegen fuhren herum.

Auf der anderen Straßenseite stand Luigi Polito. Autos fuhren vorbei. »Was machen sie mit dir?«, schrie er. Er war hochrot im Gesicht, seine Haare waren zerzaust. »Wo bringen sie dich hin?«

Bevor Sof‌ia reagieren konnte, drückte der Beamte ihren Kopf herunter und bugsierte sie auf den Rücksitz des Streifenwagens.

Luigi Polito kam über die Straße und presste seine Hand gegen die Scheibe, hinter der seine Schwester saß. Der Wagen fuhr los, Luigi Polito lief nebenher, bis der Fahrer beschleunigte und das Auto um die Ecke verschwand.

»Was habe ich Ihnen gesagt, Agente?«, polterte Lombardi. »Hundertmal habe ich es Ihnen gesagt: Machen Sie Ihren Job, tun Sie einfach, was ich Ihnen sage, und pfuschen Sie Neapel nicht ins Handwerk.« Wütend stapf‌te der Ispettore davon. Cirillo folgte ihm langsam.

»Was wird jetzt aus Sof‌ia?« Luigi Polito starrte verzweifelt die Straße hinunter, über die der Streifenwagen verschwunden war.