Enrico Rizzi zog die Wohnungstür hinter sich zu, nahm seine Gartenschuhe und klopf‌te draußen über den Blumentöpfen den Dreck von den Sohlen. Es war kurz vor fünf und noch nicht hell.

Er setzte sich auf die Stufe, zog die Schuhe an, ging die Außentreppe hinunter und betrat ein Stockwerk tiefer die Wohnung seiner Eltern. Es roch nach Kaffee.

»Guten Morgen«, sagte er.

»Was willst du mit der Uniform?«, fragte sein Vater mit Blick auf die Tüte, die Rizzi auf den Küchenstuhl stellte.

»Ich muss nachher zum Dienst«, antwortete Rizzi.

Vito schaute besorgt auf die Uhr. »Wie viel Zeit bleibt uns denn dann für die Pfirsiche?«

»Genügend.« Marta kehrte ihnen den Rücken zu und belegte die Tramezzini mit Tomatenscheiben. »Ihr habt alle Zeit der Welt. Lass den Jungen seine Arbeit machen.«

Rizzi trank seinen Kaffee in einem Zug aus, stand auf und sagte: »Komm, Papà, wir müssen.«

Seine Mutter wickelte die Brote in Papier und gab ihm das Paket. »Soll ich nachher bei dir oben saubermachen?«

»Nicht nötig.« Rizzi klemmte die Tramezzini unter den Arm, nahm die Thermoskanne und die Tüte mit der Uniform und sagte: »Bis später.«

Um diese Zeit war noch niemand unterwegs, keine Autos, keine Busse, keine Taxen, nur ein paar Hunde stromerten am Straßenrand, als hätten sie irgendwo einen wichtigen Termin, während Romeo hochnäsig seine Schnauze in den Fahrtwind streckte.

Wenn die Sonne erst über den Monte Tiberio schien, würden die Temperaturen schnell wieder steigen. Aber noch war es erträglich, sogar angenehm. Vom Meer wehte eine leichte Brise, und der Himmel war wie ein halbdurchsichtiger Stoff, hinter dem langsam der Tag zu schimmern begann.

Rizzi ließ den Arm aus dem Seitenfenster baumeln, spürte den Fahrtwind auf der Haut, und Vito sagte, wenn später noch Zeit wäre und er ein gutes Werk tun wolle, könne er vielleicht den Wildwuchs hinter dem Schuppen beseitigen. Er brauche den Platz für den neuen Kaninchenstall.

Sie holperten über den Feldweg. Die Ape hüpf‌te auf ihren drei Rädern, und Vito trat das Gaspedal durch. Oben angekommen, fuhren sie auf der Bergkuppe an der Gartenmauer entlang und hielten bei der Pinie, wo die Pforte zwischen zwei Pfeilern schief in den Angeln hing. Rizzi stieg aus, öffnete das Vorhängeschloss, löste die Kette und stieß das Tor auf.

Als Gina das erste Mal hierhergekommen war, hatte sie die Obst- und Gemüsegärten als »Gesamtkunstwerk« bezeichnet. Überall wuchs etwas, kaum eine Fläche war

Jetzt ging es langsam darum zu entscheiden, wie es mit den Gärten weitergehen sollte, ob man auch in Zukunft mit zwei Hilfskräften zur Haupterntezeit zurechtkam oder ob man mal darüber nachdenken musste, die Männer vielleicht dauerhaft zu beschäftigen, um Vito – der ja auch nicht jünger wurde – zu entlasten, und ob sich die Gärten mit den jetzigen Erträgen dann überhaupt noch rechneten.

Aber Vito durf‌te man mit solchen Überlegungen genauso wenig kommen wie mit den Themen »Bio« oder »Nachhaltigkeit«. Dabei musste selbst er zugeben, dass das Frühwarnsystem mit den Rosen vor den Weinstöcken perfekt funktionierte. Wenn eine Rose mit Mehltau befallen war, würden als Nächstes die Rebstöcke dran sein.

»Nächste Woche wird gespritzt«, verkündete Vito, als er half, die leeren Kisten unter den Pfirsichbäumen zu verteilen.

»Kommt nicht in Frage«, antwortete Rizzi. »Nicht mit dem Giftzeug.«

»Womit sonst?« Vito zog sich das Hemd aus. »Mit der Brennnesseljauche hat es letztes Jahr nicht funktioniert, es wird auch dieses Jahr nicht funktionieren.«

»Und wo willst du die hernehmen?«

»Lass mich einfach machen, Papà.«

Vito schüttelte den Kopf. »Marienkäfer«, murmelte er. »Schon wieder so eine Schnapsidee.«

In den nächsten beiden Stunden arbeiteten sie stumm: der Vater am Boden, während Rizzi in die Wipfel der kleinen Bäume langte. Vito rupf‌te die Pfirsiche wie eine Maschine, während Rizzi mit der Schere arbeitete und bei jeder Frucht als dekorative Dreingabe ein paar Blätter mitnahm.

Sie hatten hier den schönsten Arbeitsplatz der Welt, die sonnenwarmen Früchte, der Duft und obendrein der Blick aufs Meer. Jedes Mal, wenn Rizzi aufs Wasser schaute, hatte sich der Blauton im heraufziehenden Tageslicht verändert.

»Machst du schlapp?«, rief Vito von unten. »Komm, gleich haben wir es geschaff‌t.«

Nachdem sie die Kisten verladen hatten, machte Vito sich auf den Weg, um die Ernte an die Geschäfte und Restaurants auszuliefern und die Bestel‌lungen für die nächste Woche anzunehmen. Rizzi schaute auf die Uhr. Es war kurz vor neun. Ein Stündchen hatte er noch.

Er zog sein Hemd aus, hängte es in den Walnussbaum, nahm die große Baumschere und begann, auf der Rückseite des Schuppens die Bougainvillea herunterzuschneiden und Platz zu schaffen. Genau genommen, handelte es sich hier gar nicht um die Rückwand des Schuppens, sondern um einen Anbau, der über die Jahre vollkommen in Vergessenheit geraten war.

Er riss die dornigen Zweige von der Wand und stand

Seine Augen brauchten ein paar Sekunden, um sich an das schummrige Licht zu gewöhnen. Spinnweben und Gerümpel. Die alten Petroleumleuchten, Korbmöbel, in denen noch seine Großeltern gesessen hatten. Weiter hinten stand das Schaukelpferd, nach dem er vor vielen Jahren gefragt hatte, als er das Kinderzimmer für seinen neugeborenen Sohn, den kleinen Vito, einrichten wollte. Keiner hatte gewusst, wo es abgeblieben war, und er hatte seinen Vater in Verdacht gehabt, es als Brennholz verfeuert zu haben.

Und war das dahinten nicht die Truhe? Rizzi hatte es damals, als sein kleiner Junge gestorben war, nicht übers Herz gebracht, die Sachen zu entsorgen. Kurz spielte er mit dem Gedanken, das Tor einfach wieder zuzumachen, als er hinter einem halbhohen Regal einen großen Gegenstand entdeckte, beinahe kugelig, mit Tüchern bedeckt.

Er kletterte über Gerümpel und das Kopfende der Wiege, auf dem in verschnörkelten Buchstaben sein Name und die Namen seiner beiden Schwestern Valentina und Barbara gepinselt waren, und bekam ein Stoffende zu fassen. Er hob es an, Blech kam darunter zum Vorschein, eine Motorhaube, ein Blinklicht. Mit einem Ruck riss er die Decken herunter.

Zum Vorschein kam das erste Auto seiner Eltern, der alte Fiat Cinquecento. Auf Fotos hatte er es schon gesehen, in einem der Alben. Rizzi hatte nicht gewusst, dass die Kiste

Der Innenraum war viel geräumiger, als er vermutet hätte. Ein weißes Lenkrad aus Bakelit, ein Tachometer, drei Schalter am Armaturenbrett und ein kleiner Aschenbecher. Im Zündschloss steckte noch der Schlüssel.

Spätestens als er das Auto ins Freie geschoben hatte, war es um ihn geschehen. Er wischte den Staub von den runden Scheinwerfern und der kleinen Windschutzscheibe, betrachtete die winzigen Scheibenwischer, öffnete die Heckklappe, hinter der sich der Motor verbarg. Er war kein Experte, aber so kompliziert konnte die Technik von einem Zweizylinder nicht sein.

Er ging ums Auto herum und machte vorne die Haube auf. Am Kabelbaum waren die Anschlüsse natürlich oxydiert. Auch die Reserveradmulde müsste man erneuern. Und inwieweit Antriebswellen, Getriebelager und die Bremsanlage angegriffen waren, müsste man sehen.

Er kroch mit der Taschenlampe unter den Wagen und stellte fest, dass die Querträger vom Bodenblech noch in einem annehmbaren Zustand waren. Aber die Auspuffanlage müsste man wohl komplett austauschen. Auf dem Rücken liegend, klopf‌te er die einzelnen Roststellen ab.

»Hallo?«, hörte er plötzlich eine Stimme.

Er drehte den Kopf und sah zwei Stiefel im Gras stehen.

»Warum gehst du nicht an dein verdammtes Telefon?«, rief Matteo Savio, sein Kollege vom Polizeiposten, verärgert. »Teresa versucht schon die ganze Zeit, dich zu erreichen. Wir müssen sofort nach Punta Carena.«

Savio wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Es gibt einen Toten.«