Rizzi saß auf dem Mäuerchen, das die Straße vom abschüssigen Gelände trennte, drehte sich eine Zigarette und hörte dabei zu, wie Teresa Villa ihm am Telefon die Pressemittei‌lung der Kripo von Neapel vorlas. Unter Berufung auf die Angaben von Luigi Lombardi, dem Ispettore von Capri, hieß es, würden alle Indizien auf eine Beziehungstat hindeuten. Zwei Fremde seien auf die Insel gekommen und miteinander in Streit geraten, bis die Situation auf dem Ruderboot eskalierte.

»Bisschen voreilig, oder?«, bemerkte Rizzi und zündete sich die Zigarette an.

»Aber doch auch ganz beruhigend«, erwiderte Teresa am anderen Ende und fügte sarkastisch hinzu: »Die Tat hat zwar vor unserer Haustür stattgefunden, aber mit uns auf Capri hat das alles nichts zu tun.« Sie seufzte. »Wehe, du findest das Gegenteil heraus.« Rizzi schwieg, und Teresa fragte: »Hörst du mir überhaupt zu?«

Er pustete den Rauch aus. »Kein Ergebnis bei den Hotelabfragen, kein Ergebnis bei den Anbietern von Ferienwohnungen. Alles, was wir haben, sind zwei Vornamen von zwei Menschen, von denen der eine Gitarre spielt und sang.« Er schnippte die Asche ab. »Was ist mit dem Phantombild?«, fragte er.

»Ich habe Savio darum gebeten, das zu organisieren.«

»Wenn du willst, rufe ich ihn noch mal an.«

»Mach das. Und dann ist Feierabend.« Er hörte das Geknatter der Ape und eine Hupe, zweimal kurz hintereinander, und verabschiedete sich von Teresa.

»Komm, wir haben nicht viel Zeit«, rief sein Vater beim Aussteigen. »Stell dir vor, sechs Kisten Zucchini hat das Aurora eben noch bestellt.« Den Zigarillo zwischen den Lippen, öffnete Vito die Klappe zur Ladefläche und zog das Brett heraus.

»Danke, Papà, dass du so schnell gekommen bist«, keuchte Rizzi, während sie zusammen den Roller auf die Ladefläche schoben.

Sie banden das Motorrad mit Stricken fest und zurrten die Enden durch die Ösen, die auf der Innenseite der Blecheinfassung befestigt waren.

»Was hat er denn schon wieder?«, fragte sein Vater und klopf‌te dem Roller liebevoll auf den Ledersattel.

»Ich fürchte, es ist mal wieder die Benzinpumpe.« Rizzi wischte sich die Hände an der alten Decke ab und berichtete, wie der Motor plötzlich, bei voller Fahrt, ausgegangen war.

»Wenn du willst, schaue ich es mir heute Abend an, ich hätte Zeit«, bot Vito an. »Aber in den nächsten Tagen müssen wir uns dann dringend um die Weinstöcke kümmern.« Er machte die Klappe zu. »Der Boden ist hart wie Beton.« Vito quetschte sich hinter das Steuer und zog die Tür zu.

»Was war heute Vormittag los?«, fragte er, als Rizzi auf

»Es gab einen Toten«, sagte Rizzi und spürte den Seitenblick von seinem Vater. »Genaueres wissen wir noch nicht.«

Vito drückte den Zigarillostummel am Blech vom Armaturenbrett aus und warf die Kippe aus dem Fenster. »Es ist immer dasselbe«, sagte er. »Wenn sie nicht in den Ferien sind, hocken die Leute den ganzen Tag in ihren Büros, vor dem Fernseher oder eingeklemmt in Fitnessmaschinen, und hier klettern sie plötzlich über Stock und Stein und vergessen dabei, dass sie eben keine Bergziegen sind.«

»Der Tote lag in einem Ruderboot und wurde vermutlich erstochen.«

»Madonna«, murmelte Vito. »Was sind denn das für Geschichten?« Er streckte Zeige- und kleinen Finger nach unten, um das Böse abzuwehren. »Pass auf dich auf. Wer weiß, was dahintersteckt.«

»Papà, ich bin Polizist. Ich mache meine Arbeit.«

»Eben drum«, nickte sein Vater. »Den Mord überlässt du schön deinen Kollegen in Neapel, die dafür zuständig sind, hörst du? Du musst dich da nicht in den Vordergrund drängen und niemandem etwas beweisen.«

»Wir werden alles tun, damit wir den Kerl kriegen«, erklärte Rizzi. »Verlass dich drauf.«

»Natürlich«, erwiderte Vito versöhnlich. »Und niemand ist dafür besser geeignet als du. Die Neapolitaner kennen sich hier auf der Insel ja überhaupt nicht aus!«

Die Sonne war hinterm Horizont verschwunden, aber das Licht war noch da, all die Rot-, Rosa- und

»Alles in Ordnung?«, fragte sein Vater.

»Wenn wir Glück haben, regnet es bald«, sagte Rizzi.

»Ja«, antwortete Vito. »Das wäre wirklich ein Glück.«

Nachdem sie im Hof den Roller ab- und die Zucchinikisten aufgeladen hatten, setzte sich sein Vater wieder ans Steuer.

»Papà, in der Dunkelheit könntest du vielleicht den Fuß ein bisschen vom Gas nehmen«, meinte Rizzi.

»Den Polizisten kannst du im Büro lassen«, erwiderte Vito mürrisch.

Im ersten Stock war alles dunkel, was bedeutete, dass seine Mutter jetzt, wo die Hitze nachließ, noch im Garten war.

Rizzi klaubte ein paar Zucchini und die überreifen Tomaten aus den Körben, die auf der Treppe vor der Wohnungstür seiner Eltern standen. Aber bevor er anfing zu kochen, musste er aus der Uniform. Und er musste Gina anrufen. Den ganzen Tag hatte er keine Zeit gehabt, sie zurückzurufen.

Er schloss seine Pistole weg, warf seine Jacke über den Stuhl und stellte überrascht fest, dass auf dem Herd der große Topf für die Pasta stand. Und in der Spüle ein Sieb mit frischen Garnelen, mindestens zwei Kilo. Von der Terrasse drang eine Kinderstimme herein. Rizzi lächelte. Sie waren also einfach hergekommen.

Francesca saß draußen, am Kopfende des großen Tisches,

»Das ist Erpressung.« Gina saß ihrer Tochter gegenüber und schälte Knoblauch. »Und bevor wir weiterdiskutieren«, fuhr Gina fort, »warten wir erst einmal ab, wie sich dein neues Schuljahr anlässt.«

Francesca lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust, während Rizzi unter dem Granatapfelbaum hindurchtauchte.

»Enrico!«, rief Gina. »Ich habe den ganzen Tag versucht, dich anzurufen.«

Er strich Francesca über den Kopf und gab Gina einen Kuss.

»Ich habe gehört, was passiert ist«, sagte Gina leise. »War es schlimm?«

Er nickte.

»Das tut mir leid«, flüsterte Gina besorgt und streichelte ihm über den Arm.

»Du musst heute Abend auf mich aufpassen«, erklärte Francesca. Sie stupste mit ihrem Fuß gegen sein Schienbein.

»Wenn’s irgend geht«, erklärte Gina. »Heute ist Mittwoch.« Sie lächelte entschuldigend und fuhr ihm zärtlich mit den Fingern durch die Locken. »Aber ich kann den Chor auch mal schwänzen.«

»Ich gebe gern den Babysitter.« Er legte den Kopf in den Nacken. Dann schaute er Francesca an. »Aber nur, wenn wir schwimmen gehen.«

»Einverstanden!« Francesca klatschte in die Hände, aber Gina fragte: »Was haben wir gerade besprochen?«

»Du sollst deine Aufgaben machen.« Gina hob den Finger. »Den Mund halten. Brav sein.«

Als Rizzi unter der Dusche stand, dachte er, dass sie fast eine kleine Familie waren, Gina, Francesca und er. Hatte er das für möglich gehalten, als er Gina vor einem halben Jahr zum ersten Mal gegenüberstand? Er erinnerte sich, wie der Notruf einging und eine gewisse Gina Vitale mitteilte, sie brauche Hilfe, sie werde von ihrem Ehemann bedroht. Rizzi war sofort mit Savio ausgerückt. Der Kerl, Carlo, gab sich reuig, und Rizzi konnte nichts anderes tun, als wieder abzuziehen. Aber Gina war ihm nicht mehr aus dem Sinn gegangen. Am nächsten Tag hatte er erfahren, dass sie noch in derselben Nacht ihre Tochter genommen hatte und von zu Hause ausgezogen war.

Im Topf brodelte Wasser, und Gina stand barfuß am Herd. Er küsste sie auf den Nacken.

»Ich habe es so satt.« Gina wischte sich wütend mit dem Handrücken über die Augen. »Carlos Absagen in letzter Minute. Nur, um mir eins auszuwischen. Und wie es Francesca dabei geht, ist ihm scheißegal. Sie leidet unter der Trennung, verstehst du? Mehr, als wir uns vorstellen können.«

»Da muss sie durch«, erwiderte Rizzi und schob den Knoblauch in die Pfanne. Die kleingehackten Zehen zischten im Öl auf, und der Duft, der sich ausbreitete, machte ihn noch hungriger. »Und glaub mir, sie schaff‌t das, denn sie wird von dir geliebt, und auch von Carlo und von mir. Von meinen Eltern gar nicht zu reden.«

»Ziemlich viele Bezugspersonen, findest du nicht?« Gina lächelte schief.

»Dann bin ich beruhigt.«

Sie aßen am Tisch auf der Terrasse, Francesca verputzte zwei Portionen der pasta con zucchine e gamberetti (von Hungerstreik war keine Rede mehr), und Rizzi erzählte, wie ihm auf der Via Provinciale Anacapri bei voller Fahrt der Roller abgesoffen war. Francesca bot an, ihm beim Reparieren zu helfen, aber Gina mahnte, dass jetzt die Übungen dran seien – und Rizzi schwieg, weil Gina ihn gebeten hatte, ihr nicht immer reinzureden. Das Kind sei sowieso schon aufsässig genug.

Nachdem Gina sich zum Chor verabschiedet hatte, begann das Kind tatsächlich, brav seine Kringel zu malen. Rizzi schenkte sich noch ein Glas Weißwein ein und kontrollierte verstohlen sein Telefon.

Insgeheim hoff‌te er, Lombardi würde sich vielleicht noch einmal melden. Aber für den Ispettore war der Feierabend heilig, vor allem sein eigener.

Er griff zum Mattino und stieß in der Rubrik »Bildung und Wissenschaft« auf die Schlagzeile: »Der Golf von Neapel – Fenster mit Blick in die Zukunft«. Es ging um natürliches Kohlendioxid, das aus dem vulkanischen Meeresboden heraustrat und sich im Wasser zu Kohlensäure umwandelte.

»Weißt du«, meldete sich Francesca. »Papà hat immer schrecklich viel zu tun.«

»Ich weiß, Süße.«

»Er hat eben keinen festen Job wie Mamma und du. Da

»So ist es«, sagte er und las, wie CO2-Emissionen in der Luft zu einer Versauerung der Ozeane führten.

Er begann, das Interview mit Vincenzo Taccone zu lesen, einem Meeresbiologen, der nebenan auf der Insel Ischia forschte, als Francesca fragte: »Meinst du, ich kriege den Hasen?«

Rizzi faltete die Zeitung zusammen, betrachtete das kleine, braungebrannte Gesicht mit dem Kratzer auf der Nase und sagte: »Ich weiß es nicht.«

»Hilfst du mir, sie rumzukriegen?«

»Ich kann es versuchen.« Er stand auf. »Aber ich kann dir nichts versprechen.«

*

Francesca war schon im Bett, als unten im Hof die Ape angeknattert kam. Er hörte die Schritte seiner Eltern, ihr Gemurmel und das Ächzen seines Vaters, der sich auf der Treppe die Schuhe auszog. Eine Weile rumorten seine Eltern noch, dann kehrte im Stockwerk unter ihm Stille ein.

Rizzi war wieder auf der Terrasse, legte die Füße hoch und schaute in den Sternenhimmel.

Fünf Messerstiche. Wenn er die Augen schloss, sah er die Wunden im Brustkorb, das unrasierte Kinn und die langen Haare, die die toten Augen verdeckten. Vielleicht hatte er jemandem die Frau ausgespannt, ein Eifersuchtsdrama mit tödlichem Ausgang. Die Bilder verloren an Schärfe, lösten

Er schreckte hoch und blinzelte. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Gina stand neben ihm.

»Bin ich eingeschlafen?«, fragte er und streckte seinen Arm nach ihr aus. »Wie spät ist es?«

Gina küsste ihn, und er erwiderte den Kuss.

»War sie brav?«, fragte Gina. »Hat sie ihre Aufgaben gemacht?«

»Klar«, sagte er, zog Gina auf seinen Schoß und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals.

In der Ferne waren die Glocken von Santo Stefano zu hören. Die Palme zeichnete sich schwarz gegen den nachtblauen Himmel ab, Fledermäuse sausten im Zickzack hin und her.

Sie küsste ihn zärtlich. »Ich muss gehen«, sagte sie.

»Wohin? Francesca schläft«, sagte er leise. »Lass sie schlafen.«

»Die Leute reden sowieso schon über uns.«

»Na und? Wir sind erwachsen.«

»Und deine Eltern?«

»Heirate mich«, flüsterte Rizzi.

»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«

»Ich will ohne dich nicht leben.«

»Das musst du auch nicht.«

»Dann lass uns ins Bett gehen.«

»Es ist spät.« Sie küsste ihn.

»Ich liebe dich.«

 

»Was ist?«, fragte er.

»Dein Telefon«, murmelte sie schlaf‌trunken.

Der Apparat vibrierte auf seinem Nachttisch. Rizzi tastete danach und drückte die grüne Taste: »Pronto?«

»Ich bin’s, Savio. In der Via Tamborio wurde ein Notruf abgesetzt.«

Rizzi wurde sofort hellwach. »Was ist passiert?«

»Ein Einbruch. Cirillo ist schon los. Anscheinend ist ein Schuss gefallen. Genaueres weiß ich nicht, aber ich dachte –«

Rizzi schlug die Decke zurück. »Bin unterwegs.«